05.08.2022
Nennt ihre Namen
Wenn palästinensische Menschen ermordet werden, schweigen deutsche Medien häufig. Warum finden wir keine Worte für ihre  ihre Geschichten? Illustration: Zaide Kutay
Wenn palästinensische Menschen ermordet werden, schweigen deutsche Medien häufig. Warum finden wir keine Worte für ihre ihre Geschichten? Illustration: Zaide Kutay

Israelische Streitkräfte erschießen Palästinenser:innen im Abstand von wenigen Tagen. Deutsche Medien berichten kaum darüber. Wie kann uns das Schicksal von jemandem berühren, der für uns keinen Namen, keine Geschichte hat? Das fragt Marina Klimchuk.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Wenn es um Palästinenser:innen geht, haben wir deutsche Journalist:innen ein Problem. Es gelingt uns nur in sehr seltenen Fällen, eine Sprache für die Realität der palästinensischen Menschen zu finden, die unsere Leser:innen berührt statt polarisiert. Die Empathie statt Antagonismus schafft. Warum das so ist? Die deutsche Schuld an der Shoah, koloniale Denkmuster, antimuslimischer Rassismus, die Tatsache, dass so gut wie alle Korrespondent:inen großer deutscher Medien in Tel Aviv leben und nicht etwa in Ramallah. Die Liste der Gründe ist lang.

Dirar al-Kafrayni (17)

Bei der Razzia war am späten Montagabend zudem ein 17-jähriger Palästinenser von israelischen Streitkräften erschossen worden. Der Islamische Dschihad identifizierte den Teenager als Dirar al-Kafrayni. Er sei ein Mitglied der Gruppe und „unser heldenhafter Märtyrer“. (3. August, taz/afp)

Amjad Nashaat Abu Alia (16)

Israelische Soldaten haben im Westjordanland nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums einen jungen Palästinenser erschossen. Die Soldaten hätten am Freitag auf Demonstranten nördlich von Ramallah geschossen und den 16-Jährigen in die Brust getroffen, teilte das Ministerium mit. (29. Juli, Redaktionsnetzwerk Deutschland/AP/dpa)

Mohammed Azizi, (25), Abdul Rahman Sobh (28)

Bei den Opfern handle es sich um einen 25-Jährigen, der durch einen Schuss in die Brust getötet wurde, sowie einen 28-Jährigen, der nach einem Schuss in den Kopf starb. Die israelische Armee erklärte, dass sie in der Nacht zu mehreren "Anti-Terror-Einsätzen" im Westjordanland ausgerückt sei. (24. Juli, orf/Die Presse /apa)

Für diese Kolumne habe ich die Namen der Palästinenser:innen recherchiert, die seit Anfang Juni im Westjordanland von der israelischen Armee ermordet wurden. Viele von ihnen waren Jugendliche. Mal waren sie auf dem Weg irgendwohin in eine Demonstration geraten, mal gehörten sie einer militanten Gruppe an, mal haben sie einen Stein geworfen, mal war es – wuuups – die Verwechslung eines israelischen Soldaten oder einer Soldatin. Manchmal ist auch gar nichts über die Umstände bekannt.

Aktuell passieren diese Erschießungen wöchentlich. Fast nie wird irgendjemand dafür zur Verantwortung gezogen, unabhängige Untersuchungen finden nicht statt. Selbst bei erdrückenden Beweislagen gegen einzelne Soldat:innen heißt es nach einiger Zeit, die Armee habe die Ermittlungen wegen fehlender Beweislage eingestellt. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation Btselem wurden zwischen 2011 und 2019 von 200 ermittelten Fällen erschossener Palästinenser:innen nur zwei Soldaten verurteilt. Dies wird auch im Fall der im Mai erschossenen Reporterin Shireen Abu Akleh deutlich.

Rafeeq Riyad Ghannam (20)

Keine Erwähnung in deutschen Medien. Der 20-jährige war in seinem Dorf Jabaa in der Nähe von Jenin bei einer Razzia getötet wurden. Nachbarn sagen, er wurde getötet, als er israelische Soldat:innen sah und aus Angst vor ihnen wegrannte. Israelische Soldat:innen sagen, sie hätten lange nach ihm gefahndet. (6. Juli)

Ahmad Harb Ayyad (32)

Keine Erwähnung in deutschen Medien. Der 32-jährige stammte aus dem Gazastreifen. Nach Angaben der Familie schossen Soldat:innen auf ihn, als er und andere Palästinenser gemeinsam versuchten, die israelische Sperranlage zu überqueren, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. (5. Juli)

Kamel Alawneh (17)

Keine Erwähnung in deutschen Medien. Der 17-jährige aus Jenin starb an seinen Wunden, nachdem die israelische Armee ihm in den Magen geschossen hatte. (3. Juli)

Weniger als die Hälfte der Erschießungen der letzten Monate fand überhaupt in mindestens einem deutschen Medium Erwähnung. Die Pressemitteilungen dazu klingen alle gleich und austauschbar. Als ob die Journalist:innen nicht wollten, dass die Leser:innen wissen, wer diese Menschen eigentlich waren. In der Regel übernehmen eine oder höchstens zwei deutschsprachige Tageszeitungen die Meldungen großer Agenturen wie Reuters oder der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Außer im Fall Dirar al-Kafrayn, über den am 3.8. die Zeitung taz berichtete, nannte kein einziges Medium den Namen eines Getöteten – im Unterschied zu arabischen Medien wie etwa Al Jazeera, bei denen die Namensnennung, teilweise inklusive Foto der Getöteten, zum festen Teil der Berichterstattung gehört. Sie bleiben Schattenexistenzen, gesichtslos, namenlos, geschichtenlos.

Mohammad Abdallah Hamed (16)

Israelische Soldaten haben einen palästinensischen Jugendlichen im von Israel besetzten Westjordanland erschossen. Laut der israelischen Armee gehörte der 16-Jährige zu einer Gruppe von Palästinensern, die Steine auf vorbeifahrende Autos geworfen und sich geweigert habe, damit aufzuhören. (25. Juni, Der Standard/Der Spiegel/apr/AFP/Reuters)

Nabil Ahmed Ghanem (53)

Nahe dem Grenzzaun zwischen dem Westjordanland und Israel ist nach palästinensischen Angaben ein Palästinenser getötet worden. Der Mann sei von israelischen Sicherheitskräften erschossen worden, erklärte das palästinensische Sicherheitsministerium am Sonntag. Die israelische Armee erklärte, sie prüfe den Vorfall. (19. Juni, Tagespiegel/AFP)

Baraa Lahlouh (24), Yusuf Salah (23), Laith Abu Suroor (24)

Bei einem Einsatz der israelischen Armee im Westjordanland sind nach palästinensischen Angaben drei Palästinenser getötet worden. (…) Es habe Schüsse in Richtung der Soldaten gegeben, erklärte die Armee. “Pläne der Terroristen”, die israelischen Soldaten ins Visier zu nehmen, seien von diesen vereitelt worden. (17. Juni, Tagesschau)

Nun könnte man natürlich entgegensetzen: die Namen israelischer Opfer werden medial auch nicht genannt. Aber anders als jüdische Israelis, die wir als Personen aus dem öffentlichen Leben kennen, deren Stimmen in Deutschland Gehör geschenkt wird, die heiße Hummusjünger sind und wissen, wie man in Tel Aviv Party macht, sehen wir Palästinenser:innen selten etwas anderes als Terrorist:innen oder Opfer.

Der Tod eines palästinensischen Menschen alle paar Tage hat geringen Neuwert, würde mir jetzt ein:e Redakteur:in einer Tageszeitung sagen. Wer will das ständig lesen? Stimmt, so eine Pressemeldung will niemand lesen und Geld dafür bezahlen erst recht nicht. Dann müssen die Korrespondent:innen sich eben öfter vom Schreibtisch erheben und zu den Familien der Betroffenen fahren und mit ihnen sprechen. Persönliche Geschichten berühren Leser:innen.

Waren alle Menschen, die seit dem 1. Juni getötet wurden, Heilige, die den israelischen Soldat:innen nur Gutes wünschten? Unwahrscheinlich. Darum geht es nicht. Sondern darum, dass aus der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel automatisch auch eine besondere Verantwortung gegenüber Palästina erfolgt. Dazu gehört auch, die subjektive Realität von Palästinenser:innen zu ergründen. Daran, wie wir über sie berichten, oder es eben nicht tun, entscheidet sich, ob wir diesen Verantwortungen gerecht werden. 

Jede:r hat heute eine Meinung zu Israel und Palästina. Aber wie fundiert kann diese Meinung sein, wenn Medien – die Quellen, auf die wir uns bei unserer Meinungsbildung meist stützen – uns nur kleine Ausschnitte des eigentlich viel größeren Puzzles präsentieren? Wie können wir Empathie mit Palästinenser:innen empfinden, wenn wir gar nichts über sie wissen, außer, dass sie Steine auf israelische Panzer geworfen haben? Warum taten sie das? Ginge es nach deutschen Medien, scheint Steinewerfen das wichtigste Merkmal palästinensischer Identität zu sein. Was bringt einen Jugendlichen überhaupt dazu, Steine auf schwerbewaffnete Männchen in grüner Uniform zu werfen und zu glauben, das sei eine gute Idee? Und ist das nicht krass, dass auf Steinewerfen in regelmäßiger Praxis mit Erschießungen reagiert wird? Was bringt einen Teenager dazu, den Islamischen Dschihad gut zu finden? Warum zum Teufel redet niemand darüber?

Mahmoud Fayez Abu Ayhour (27)

Keine Erwähnung in deutschen Medien. Bei Zusammenstößen nach einer Razzia in Halhul bei Hebron erschießt die israelische Armee den jungen Mann und verletzt acht weitere. (9. Juni)

Odeh Mohammad Sadaqa (17)

Keine Erwähnung in deutschen Medien. Israelische Soldaten schießen im Dorf Al Midya bei Ramallah einem Jungen in den Rücken. Israelische Soldat:innen gaben an, jemand hätte einen Molotov Cocktail geworfen. Palästinensische Augenzeugen verneinen dies. Sadaqa saß 50 Meter von der israelischen Sperranlage entfernt. (2. Juni)

Ayman Mheisen (29)

Keine Erwähnung in deutschen Medien. Bei einer Razzia im Dheisheh Lager bei Bethlehem wurden Steine geworfen. Die israelische Armee schoss Tränengas auf die Bewohner:innen und eröffnete das Feuer. (2. Juni)

Fingen wir an, Palästinenser:innen als vollwertige Menschen zu sehen, die auch anders können als nur Terror zu machen und wütend zu sein oder arm dran, würde das verdammt unbequem und verwirrend für Deutschland werden. Wir müssten uns auf den Gedanken einlassen, dass jede:r von ihnen eine eigene Geschichte hatte. Dass jede:r von ihnen Familie hatte, eine Mutter, eine Schwester, einen Vater oder Onkel, Freunde und Freundinnen, die sie liebten und jetzt um sie trauern. Das können wir nicht. Wie lange noch?

Ghufran Hamed Warasneh (31)

Keine Erwähnung in deutschen Medien. Die Radiojournalistin wurde im Flüchtlingslager Arroub bei Hebron auf dem Weg zur Arbeit in die Brust geschossen. Die Armee behauptet, sie hätte versucht, einen Soldaten anzugreifen. Videoaufnahmen bestätigen das nicht. (1. Juni)

Samih Jamal Amarneh, 37,Bilal Awad Qabaha, 24

Keine Erwähnung in deutschen Medien. Bei einer Hauszerstörung der Familie von Diaa Hamarshehs, der im März fünf Israelis getötet hatte, erschoss die israelische Armee zwei Palästinenser im Dorf Ya‘bad bei Jenin. (1. Juni)

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Sophie Romy, Rebecca Spittel