Unter dem Vorwand, periphere Gebiete zu modernisieren, führt die türkische Regierung diverse Bauvorhaben im Südosten des Landes durch. Doch was offiziell als Wirtschaftsförderung verkauft wird, hat auch politisches Kalkül, kommentiert Cem Bozdoğan.
In Pulur, einer Stadt in der Provinz Dêrsim in Nordkurdistan, versammeln sich die Bewohner*innen in der Nähe des nahegelegenen Flusses Munzur. Auf einer Decke auf dem Boden sitzen vier ältere Männer und eine Frau, um sie herum stehen circa hundert Menschen. Einer der Männer – ein alevitischer Gelehrter, auch Dede genannt – hält eine kurze Willkommensrede, anschließend beginnt er das gemeinsame Gebet. Ein weiterer Mann spielt religiöse Lieder auf seiner Tembûr, ein in Vorderasien verbreitetes Zupfinstrument. Die Menschen in Pulur halten gerade eine Cem-Zeremonie ab, ein Gebetsritual der religiösen Minderheit der Alevit*innen.
Historisch gesehen kommen Alevit*innen überwiegend aus dem Südosten der heutigen Türkei. Für sie gibt es mehrere heilige Orte im ganzen Land, der Fluss Munzur und das gleichnamige Gebirge sind zwei von ihnen. Einer Sage nach soll der Hirte Munzur Baba vor Schreck Buttermilch in den Munzur-Fluss geschüttet haben, sodass die 40 Quellen des Munzur entstanden sind.
Dass Alevit*innen dort ihre Cem-Zeremonie abhalten, zeugt nicht nur von ihrer spirituellen Verbundenheit zu diesem Ort, sondern ist auch Ausdruck des politischen Widerstandes: Denn ab dem 17. August wird es ihnen für zweieinhalb Monate verboten sein, diese heilige Stätte zu besuchen. Dann startet ein Bauvorhaben der türkischen Regierung, um das Munzur-Gebiet zu einem touristischen Ort umzubauen – mit Parkplätzen, WCs, Restaurants und einem Eintrittsgeld, um zum Fluss zu gelangen. Was die Behörden als „Restauration“ betiteln, ist in Wirklichkeit die Kommerzialisierung eines sakralen Ortes – und sie ist bereits angelaufen: Schon Ende letzter Woche rückten, unter Aufsicht von Militär und Polizei, die ersten Bagger an. Um Proteste zu vermeiden, hat die Polizei ein Versammlungsverbot angekündigt.
Gegen den Willen der lokalen Bevölkerung
Das Bauvorhaben in Munzur ist Teil von Präsident Erdoğans vielbeschworener „Vision 2023“. Zum 100. Jahrestag der Republik soll das Land zu den stärksten Volkswirtschaften der Welt gehören. Besonders der bisher vernachlässigte Südosten der Türkei soll einen Aufschwung erleben. Den wünschen sich auch die Menschen in der Provinz Dêrsim selbst. Seit Jahren fordern Umweltaktivist*innen, das Gebiet um den Fluss Munzur besser zu schützen – etwa durch eine Kläranlage und Schilder, die darauf hinweisen, dass dies kein Picknick-Ort ist. Erst im vergangenen Februar organisierte die Aktivist*innen-Gruppe Munzur Özgür Aksın (dt. „Der Munzur soll frei fließen“) eine Pressekonferenz.
Für die Interessen der Anwohner*innen scheint sich die Regierung allerdings weniger zu interessieren. Im April diesen Jahres flutete sie die antike Festung Heskîf (türk. „Hasankeyf“) in der Provinz Êlih (Batman) – trotz lokalem und internationalen Protest. Der Bau des dortigen Ilısu-Staudammes zerstört 12.000 Jahre Geschichte, die von verschiedenen Kulturen und Ethnien geprägt ist. Kritiker*innen sehen darin auch ein politisches Kalkül: Berichten zufolge diente die Stadt Heskîf der als Terrororganisation gelisteten PKK als Rückzugsort. Jetzt, wo Heskîf unter Wasser steht, kann das türkische Militär das Gebiet leichter überwachen. Aus der Luft gegriffen sind diese Vorwürfe nicht: Denn wenn es bei dem Staudamm tatsächlich einzig um Energieversorgung ginge, wie die türkische Regierung behauptet, warum hat die Regierung dann beispielsweise nicht einfach Windräder gebaut?
Munzur und Heskîf sind bei weitem nicht die einzigen Beispiele. Im Zîlan-Tal in der kurdischen Provinz Wan (türk. „Van“) plante die Firma Elektirik Üretim AŞ vor acht Jahren im Auftrag der Regierung, vier Wasserkraftwerke zu bauen. Zwar konnten die Zivilgesellschaft und Anwohner*innen durch Proteste den umstrittenen Bau 2014 stoppen. Doch seitdem die Menschen coronabedingt wegen Ausgangssperre und Versammlungsverbot nicht mehr demonstrieren durften, hat die Firma die Gelegenheit genutzt, wieder mit den Bauarbeiten anzufangen.
Gezielte Angriffe auf Minderheiten
Dabei ist das Zîlan-Tal ein Ort von grausamer historischer Bedeutung: 1930 vernichteten türkische Soldaten im Zuge der Assimilationspolitik der jungen türkischen Republik systematisch kurdische Dörfer, die sich gegen die Regierung stellten. Allein im Zîlan-Tal starben bei einem Massaker schätzungsweise 15.000 Menschen. Wenn der Bau beendet ist, werden die letzten Spuren dieses historischen Verbrechens überdeckt sein.
Egal ob die Kommerzialisierung des Munzur-Gebiets, die Überflutung von Heskîf oder das Überbauen des Zîlan-Tals: Betroffene deuten diese Bauvorhaben nicht nur als Modernisierungsmaßnahmen des Südostens, sondern als gezielten Angriff auf sie selbst. Durch den Um- und Ausbau dieser drei Stätten – die Liste ließe sich fortschreiben – scheint es, als würde die türkische Regierung jegliche nicht-türkische Identitäten sowie deren kulturelle Stätte in dem Staatsgebiet unsichtbar machen wollen.
Zum Abschluss der Cem-Zeremonie in Pulur tanzen Einwohner*innen den „Semah“, einen spirituellen Tanz, bei dem sich mehrere Menschen gemeinsam in einer Kreisbahn sowie um die eigene Achse bewegen. Bei den Alevit*innen soll das die Verbundenheit zwischen Mensch, Natur und Gott symbolisieren. Dass Menschen mit kurdisch-alevitischen Identitäten selbst knapp 100 Jahre nach Republikgründung immer noch der Zugang zu ihren heiligen Stätten verwehrt wird, zeigt: Die wahre Zukunftsvision der türkischen Regierung ist eine homogene Gesellschaft, die Minderheiten systematisch ausschließt.