03.10.2019
„Kein freies Land ohne freie Frauen“
"Talʿat"-Demonstrationen in Jerusalem. Foto: watan hurr nisaʾ hurra (mit freundlicher Genehmigung).
"Talʿat"-Demonstrationen in Jerusalem. Foto: watan hurr nisaʾ hurra (mit freundlicher Genehmigung).

In verschiedenen Städten in Israel und Palästina fanden am vergangenen Donnerstag Demonstrationen statt. Nach dem Tod Israa Ghrayebs fordern Palästinenser*innen mehr Schutz vor Gewalt und das Ende der Repression gegen Frauen. dis:orient sprach mit zwei Organisatorinnen.

Zu hören sind Rufe wie: „Würde, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ und „Kommt raus aus euren Häusern, fordert eure Rechte ein“ neben der immer wiederkehrenden Forderung: „Freies Land, freie Frauen“. Ausgerüstet mit Bannern, Fahnen und Fotos getöteter Frauen ziehen (überwiegend weibliche) Palästinenser*innen durch die Straßen, so ist es auf der Facebook-Seite der „Talʿat“ vielfach in Videos zu sehen.

Die Bewegung watan hurr nisaʾ hurra (übersetzt so viel wie: freies Land, freie Frauen) ist ein unabhängiger Zusammenschluss palästinensischer Frauen, der sich in Haifa gegründet hat. Am 26. September organisierten sie in verschiedenen Städten im Westjordanland und in Israel Demonstrationen. Unter dem Motto „Talʿat“ fordern sie Frauenrechte und ein Ende der Gewalt gegen Frauen.

„Talʿat“ ist die weibliche Pluralform für rausgehen, für „auf die Straße gehen“ im übertragenen Sinne, so wie es die Frauen tun. Aia, eine der Organisator*innen der Demonstrationen in Jerusalem, erklärt im Gespräch mit dis:orient: „Talʿat ist nur der Name der Demonstrationen. Die Idee ist, dass diese wie ein erster Schritt sind, ein Auftakt. Der Name der Bewegung watan hurr nisaʾ hurra erklärt, was wir wollen: Wir können Palästina nicht befreien, ohne die Unterdrückung der Frauen zu beenden.“

Der Fall Israa Ghrayeb

Mehr als einen Monat vorher, am 22. August, starb die Make-up-Artistin Israa Ghrayeb unter umstrittenen Umständen. Zuvor war die Palästinenserin aus Beit Sahur im Westjordanland mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Dort postete Israa, die über 50.000 Follower*innen auf Instagram hatte, ein Bild auf dem Verletzungen an ihrem Arm erkennbar sind. Nach ihrer Entlassung erlag die 21-jährige zu Hause ihren Verletzungen.

In der Facebook-Gruppe „Do you know him“ in der sich fast 40.000 palästinensische Frauen über Vergehen von Männern austauschen, wurden Audio-Aufnahmen gepostet. Diese sollen Israas Schreie wiedergeben, während sie im Krankenhaus von Verwandten geschlagen wird. Laut offiziellem Bericht der Staatsanwaltschaft sei Israa aufgrund von Verletzungen gestorben, die durch wiederholte physische Gewalt verursacht wurden. Drei männliche Verwandte Israas wurden mittlerweile angeklagt.

Ihr Tod führte zu einer Welle der Empörung in den sozialen Medien, wo Israas Tod überwiegend als „Ehrenmord“[1] eingeordnet wird. Unter dem Hashtag #Wir_alle_sind_Israa_Ghrayeb drückten Frauen nicht nur ihre Solidarität aus, sie erzeugten auch öffentlichen Druck, die Umstände Israas Tod aufzuklären. Klarheit forderten auch erste Proteste in Ramallah und Bethlehem in den darauffolgenden Tagen.

Das Problem der Gewalt gegen Frauen gewinnt an Öffentlichkeit

Der Fall Israa kann als Auslöser einer öffentlichen Diskussion von Gewalt gegen Frauen gesehen werden. Laut Berichten des arabischsprachigen Ablegers der britischen Zeitung The Independent wurden seit Anfang des Jahres 28 Frauen „im Namen der Ehre“ getötet. Demonstrant*innen bemängeln den schwachen gesetzlichen Rahmen zum Schutz von Frauen und kritisieren die Strafen für „Ehrenmorde“ als zu mild. Entsprechende Gesetze wurden zwar 2018 teilweise reformiert, diese Änderungen gelten aber nur für Fälle, die sich nach Inkrafttreten des Gesetzes ereignet haben. Die Durchsetzung von Gesetzen in den Palästinensischen Gebieten wird zudem durch die verschiedenen Verwaltungszonen und die Dysfunktionalität der Palästinensischen Autonomiebehörde erschwert.

Die Bewegung watan hurr nisaʾ hurra – „Talʿat“ ist erst der Anfang

Genau diese Umstände bringt die Bewegung watan hurr nisaʾ hurra zusammen, die am 26. September zu den „Talʿat“-Demonstrationen aufrief. Dem folgend gingen unter anderem in Haifa, Ramallah, Yaffa, Nazareth, Arraba, Jerusalem und in Rafah (Gaza) insgesamt tausende Menschen auf die Straßen. Für Organisatorin Aia, ist das ein Erfolg: „Wir haben nicht mit so vielen Menschen gerechnet und waren echt positiv überrascht.“ Auch in Beirut und Berlin gab es Demonstrationen in Solidarität mit der Bewegung.

„Erste Treffen von watan hurr nisaʾ hurra gab es schon vor Israas Tod, er wirkte allerdings wie ein Katalysator für unsere Bewegung“, erklärt die 21-jährige Aia. Auf die Frage hin, wie sich die Bewegung so schnell ausbreiten konnte, antwortet sie: „Wir sind nicht die Ersten, die sich für Frauenrechte einsetzen, es gibt verschiedene Bewegungen und NGOs. Dass sich bei Talʿat so viele angeschlossen haben, liegt daran, dass es eine unabhängige genuin palästinensische („schʿabi“), Organisation ist, die Palästinenser*innen überall zusammenbringt. Bei den Demonstrationen sind wir für die Demonstration, für die Sache zusammengekommen und nicht als Mitglieder einer NGO oder Partei. Unsere Bewegung bietet hier eine echte Alternative und das hat viele Menschen angesprochen.“

Die 30-jährige Riya, eine der Organisator*innen der Demonstrationen in Haifa, wünscht sich mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt: „Gegen die Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft anzukämpfen und alle Palästinenser*innen miteinzubeziehen, auch in der Diaspora und den Camps, ist essenzieller Teil meiner politischen Überzeugung. Das gibt mir die Motivation auf die Straße zu gehen“, sagt sie im Gespräch mit dis:orient.

Ihre persönliche Motivation beschreibt Aia wie folgt: „Ich glaube alle Frauen, alle Männer, alle Menschen sollten mitmachen. Ich gehöre einer sehr jungen Generation an und Feministin sein ist ein großer Teil meiner Persönlichkeit. Als Feministin habe ich die Verantwortung, etwas an der Gesellschaft zu ändern. Ich leide zwar als Frau, aber es gibt Frauen, die es viel schlimmer haben als ich. Die Polizei und die Regierung tun nichts, um sie zu schützen.“

Die Besatzung ist trotzdem Thema

Die Demonstrationen verliefen fast überall friedlich, eher eine Ausnahme im Kontext von Protesten in Israel und Palästina. Nur am Damaskustor in Jerusalem gab es Zusammenstöße mit der israelischen Armee, die dort ständige Wachposten stationiert hat. Aia berichtet: „Die Demonstration in Jerusalem begann mit einer Kundgebung in der Salah al-Din Straße, anschließend sind wir zum Damaskustor gelaufen. Nachdem wir am Tor angekommen sind, haben sie uns den Weg versperrt. Als wir versucht haben weiter zu gehen und schließlich die palästinensische Flagge rausgeholt haben, hat sie das provoziert und sie haben eingegriffen und Leute an den Haaren gezogen. Allerdings ist es nicht eskaliert. Es gab ein [stilles] Einverständnis zwischen den Demonstrant*innen, wie wir damit umgehen.“

Für Organisatorin Riya geht es bei „Talʿat“ aber um weitaus mehr, als um ein Ende der Gewalt gegen Frauen: „Wir wollten das Thema der häuslichen Gewalt und Unterdrückung der Frauen auf die öffentliche Agenda bringen. Allerdings ist uns wichtig zu betonen: Diese Frage ist untrennbar verbunden mit der breiteren Frage der Gewalt gegen Palästinenser*innen, die das israelische koloniale System verursacht. Diese Themen können nur zusammen analysiert und verstanden werden. Von jetzt an wollen wir uns auf die Frage der Emanzipation der Frauen fokussieren und die Gewalt, der wir ausgesetzt sind, als Teil unserer Diskurse und Kämpfe für die Befreiung Palästinas diskutieren.“ Über geographische Grenzen hinweg, palästinensisch, inklusiv und intersektional – Aia ist zuversichtlich: Für sie steht fest, dass „Talʿat“ erst der Anfang von watan hurr nisa ʾ hurra ist.

 

[1] Im deutschen Diskurs ist der Begriff „Ehrenmord“ problematisch, da er das Problem der Femizide auf eine „nicht-deutsche“ Gruppe auslagert und als spezifisch muslimisches Problem kulturalisiert.

Seit Lissy zwischen 2014 und 2016 in Palästina lebte, interessiert sie sich für die WANA-Region. Besonderes Interesse gilt der Sprache Arabisch, Israel/Palästina und anti-muslimischem Rassismus. Lissy ist Dolmetscherin und Übersetzerin für Arabisch. Im Vorstand ist sie seit 2020 für die Mitgliederbetreuung zuständig.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Maximilian Ellebrecht