Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Abdulrazak Gurnah wurde viel kritisiert. Das erinnert an die Debatte um den ägyptischen Preisträger Naguib Mahfouz – und zeigt die Arroganz des deutschsprachigen Literaturbetriebs, findet Hannah El-Hitami.
Von der inhaltlichen Meinung mal abgesehen, ist es schon ein wenig peinlich, als Journalist eine These zu vertreten, die fast wortwörtlich vor über dreißig Jahren schon ein anderer Kollege geäußert hat und die sich schlicht nicht bewahrheitet hat: „Sollte sie weiterhin solche Urteile treffen, ist sie auf dem besten Wege, ihre Reputation ein für allemal zu verspielen“, urteilte die FAZ 1988 über die Jury nach ihrer Verleihung des Literaturnobelpreises an Naguib Mahfouz. Und doch prophezeit ein NZZ-Kolumnist 33 Verleihungen, fast ebenso viele Millionen Euro Preisgeld und diverse öffentlichkeitswirksame Verleihungen später aufs Neue, dass sich „die wichtigste literarische Auszeichnung der Welt“ mit der diesjährigen Kürung des Schriftstellers Abdulrazak Gurnah in die Bedeutungslosigkeit verabschiede.
Auch Kommentator:innen anderer Medien zeigten sich überrascht darüber, dass der in Europa und den USA wenig bekannte gebürtige Tansanianer einen der renommiertesten Literaturpreise der Welt erhielt. Selbst die wenigen Stimmen, die die Entscheidung lobten, gingen davon aus, dass Gurnah vor allem aus politischen Gründen gekürt wurde. Immer wieder tauchte die Vermutung auf, dass der Schriftsteller aufgrund von Identitätspolitik oder, platt gesagt, nur weil er Schwarz ist, gewonnen hat. Auch das erinnert an Debatten über die Verleihung des Nobelpreises an Mahfouz, über die ein SZ-Journalist damals urteilte, dass es auf „literarische Qualität keineswegs in erster Linie anzukommen scheint.“ Vielmehr seien die Kategorien der Abwechslung, der „Rasse“, der Herkunft oder der Hautfarbe beachtet worden.
Postkolonialismus als Nischenthema?
Es ist eine Sache, die Entscheidungen des schwedischen Komitees zu kritisieren – das tun Kommentator:innen eigentlich jedes Jahr. Besonders bekannt sind die Preisträger:innen selten, und dann gab es noch so kontroverse Gewinner:innen wie Bob Dylan, der ja eigentlich mehr Sänger als Schriftsteller ist. Die Kritik aber, die die Ehrung von Autor:innen aus dem globalen Süden nach sich zieht, ist von besonderer Art. Sie sagt viel über die Arroganz und Selbstbezogenheit des globalen Nordens im internationalen Kulturbetrieb aus.
In der 120-jährigen Geschichte des Literaturnobelpreises ist Gurnah gerade mal der dritte nicht-weiße Preisträger aus Afrika. Nur der Nigerianer Wole Soyinka und der Ägypter Naguib Mahfouz gingen ihm voraus. In seinen Werken beschäftigt sich der 73-jährige Gurnah, der seit seiner Jugend in Großbritannien lebt, mit den Auswirkungen des Kolonialismus und dem Schicksal Geflüchteter. Das veranlasste die NZZ dazu zu behaupten, Gurnah sei „in Zeiten großer Flüchtlingsströme als Aushängeschild einer um Aufgeschlossenheit bemühten Akademie attraktiv.“
Stattdessen könnte man sagen: weil er über gewisse Themen schreibt, sind seine Werke relevant für die aktuelle Zeit, in der koloniale Kontinuitäten weltweit immer mehr diskutiert und aufgearbeitet werden. Gurnah wurde nicht ausgezeichnet, weil eine Jury ihre Weltoffenheit beweisen muss, sondern weil Perspektiven außerhalb der eurozentrischen endlich auch im globalen Norden Wertschätzung erfahren, wo sie lange unbemerkt blieben. Ohnehin ist eines der Kriterien für den Literaturnobelpreis, dass das ausgezeichnete Werk idealistischen und nicht nur ästhetischen Wert hat. Wer den Postkolonialismus aber für ein Nischenthema hält, das die Mehrheit der Europäer:innen eher nervt als betrifft, kann die Relevanz solcher Literatur natürlich nicht erkennen, sondern hält ihre Würdigung mal wieder für ein Eingeständnis an die politische Korrektheit.
Literarische Qualität auch außerhalb Europas
Abdulrazak Gurnah wurde zudem dafür kritisiert, dass „nur“ fünf seiner – wohlgemerkt auf der Weltsprache Englisch verfassten – zehn Bücher ins Deutsche übersetzt wurden und noch weniger ins Italienische oder Französische. Der Erfolg deutscher Autor:innen würde wohl kaum daran gemessen, ob ihre Bücher auch auf Arabisch oder Swahili verfügbar sind. Es scheint nach wie vor die Überzeugung zu herrschen: Wer nicht in europäische Sprachen übersetzt wird, ist nicht gut genug. Arabische Autor:innen wissen, wie schwer es ist, ihre Werke bei deutschen Verlagen unterzubringen. Oft gelingt das nur dann, wenn sie schon auf anderen europäischen Sprachen erschienen sind oder den thematischen Erwartungen, sprich Stereotypen der hiesigen Leser:innen entsprechen.
Hinter all der Kritik an Nobelpreisträgern wie Gurnah oder Mahfouz scheint eine ganz selbstverständliche Überzeugung zu stecken, dass alles intellektuell Hochwertige hier in Europa verwurzelt sein muss. Nur was aus Europa stammt, kann demnach literarisch anspruchsvoll sein – und sollte damit allen anderen als Maßstab dienen.
Kürzlich sprach ich mit einem deutschen Journalisten über den neuesten Roman des ägyptischen Autors Alaa al-Aswani, über den ich eine Rezension geschrieben hatte. Al-Aswanis Bücher habe ich immer gerne gelesen, doch das neueste war mir etwas zu kitschig. Zu viele naive Frauen mit großen, schmachtenden Augen, zu viele stereotype Charaktere. Als ich diese Kritik äußerte, erwiderte mein Gegenüber, dass das Buch tatsächlich etwas von einer Vorabend-Soap hätte, aber dass dieser Schreibstil wohl Mitgrund dafür wäre, dass al-Aswani auch in der arabischen Welt so viel gelesen werde. Ich war erstaunt darüber mit welcher Selbstverständlichkeit er davon ausging, dass dem arabischen Publikum die literarische Qualität nicht so wichtig sei.
Dabei hat Kairo eine wahnsinnig lebhafte Literaturszene. Und die Stadt am Nil ist wahrlich nicht die einzige arabische Hauptstadt, wo an jeder Straßenecke Bücher verkauft werden und weite Teile der Bevölkerung Gedichte auswendig kennen. Zum Glück gibt es inzwischen immer mehr arabischsprachige Autor:innen meisterhafter Literatur auch in deutschen Buchhandlungen zu kaufen, nicht zuletzt in Folge des aufkeimenden Interesses an arabischer Literatur nach der Nobelpreisverleihung an Naguib Mahfouz. Bleibt zu hoffen, dass es der Literaturszene in Ostafrika, wo Gurnah sehr wohl bekannt ist, ähnlich ergeht und es bald mehr Bücher aus dieser Region in unsere Regale schaffen.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.