15.06.2018
„Absurde Entscheidung“: Als Nagib Mahfuz den Nobelpreis gewann und das deutsche Feuilleton schäumte
In seiner Doktorarbeit behandelt Iskandar Ahmad Abdalla die Themen Islam in Europa sowie sowie Film- und Kulturgeschichte der arabischen Welt. Grafik: Tobias Pietsch.
In seiner Doktorarbeit behandelt Iskandar Ahmad Abdalla die Themen Islam in Europa sowie sowie Film- und Kulturgeschichte der arabischen Welt. Grafik: Tobias Pietsch.

Vor 30 Jahren erhielt der ägyptische Romancier Nagib Maḥfūẓ den Nobelpreis für Literatur. Moderne Belletristik und das Kino aus Ländern des Globalen Südens mussten sich lange ihren Status als vollwertige Kunst im westlich dominierten Kanon erkämpfen – und die Probleme sind noch immer enorm.

Dieser Text ist Teil der Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne finden Sie hier.

Vor einigen Jahren plante eine renommierte Film- und Kulturinstitution in Deutschland eine große Filmreihe über das arabische Kino. Eine Vorauswahl von Filmen wurde bereits getroffen, bevor die Veranstalter mich beauftragten, sie zur Auswahl zu beraten und eventuell einige Filme dem Publikum vorzustellen.

Zuerst freute ich mich sehr über das Interesse am arabischen Kino, das auf 100 Jahre Geschichte zurückblicken kann und doch nur relativ geringe internationale Beachtung findet. Eine Filmgeschichte, die zwar nicht in allen ihren Facetten bewundernswert sein mag, dafür jedoch vielfältig an Themen und Genres ist und über Generationen hinweg maßgeblichen Einfluss auf das Leben von Millionen von arabischen Zuschauern hat und wahrlich große Meisterwerke enthält.  

Doch meine Begeisterung wurde schnell enttäuscht, als ich feststellte, dass für die Programmleitung anscheinend nichts in dieser langen Geschichte zeigenswert sein sollte, bis auf ein paar mittelmäßige Filme über Islamismus und Frauenunterdrückung. Ich erklärte meinen Unmut über diese Auswahl und fragte, warum ausgerechnet diese beiden Themen im Mittelpunkt stehen sollten und nicht etwa die künstlerischen Qualitäten oder die historische Bedeutung der Filme. Können arabische Filme denn nicht einfach über Liebe, Angst, Tod und Verlust erzählen? Die Antwort erschütterte mich: „Dann sind sie aber für uns hier nicht mehr interessant. Das alles haben wir ja selber schon.“

Der Westen bestimmt, was schön und zeigenswert ist

Genau wie die großen Philosophien und Theorien, die im Westen gedacht und entwickelt und im Nicht-Westen lediglich angewendet werden, wie beispielsweise die Weltgeschichte, in der die Entwicklungsetappen zum europäischen Geist, von der Antike der Griechen, zur Renaissance bis hin zur Aufklärung als die „Geschichte überhaupt“ klassifiziert und periodisiert werden, scheinen die großen Fragen des Lebens im eurozentrischen Denkuniversum auch eine Sache des Westens zu sein.

In dieser Sicht ist der Westen der Maßstab, nach dem die universellen Normen des Schönen und des Ethischen gemessen und festgelegt werden. Es mag sein, dass die „Anderen“ sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen und diesen sogar einen künstlerischen Ausdruck verleihen – so oder so können sie es jedoch nicht oder werden es bloß schlecht nachahmen. Interessant werden die „Anderen“ erst, wenn sie dabei das Exotische zur Sprache bringen, also das, was ihre Abweichung von der Norm hervorhebt.

Diese eurozentrische Perspektive ist in Deutschland tief verwurzelt. Auch wenn sie durch kritische Betrachtung bereits mehrmals an den Pranger gestellt wurde, bleiben ihre Folgen noch immer spürbar. Das gilt nicht nur für Film, sondern auch für Literatur.

Literaturnobelpreise für einen Nigerianer und einen Ägypter? Das deutsche Feuilleton brodelte

Lange Zeit wurde der arabischen Literatur auf dem deutschen Buchmarkt kaum Beachtung geschenkt. Selbst einer der populärsten Autoren, wie zum Beispiel der ägyptische Romancier Nagib Maḥfūẓ (1911-2006), waren in Deutschland bis zu seiner Auszeichnung genau vor 30 Jahren quasi unbekannt. Vor dem Nobelpreis 1988 erschienen von Maḥfūẓ lediglich vereinzelte Werke, etwa „Die Midaq-Gasse“ und „Der Dieb und die Hunde“, von denen sehr wenige Exemplare verkauft wurden.[i]

„In den Buchhandlungen waren die Übersetzungen aus der modernen arabischen Literatur nicht unter dem Label „Weltliteratur“ zu finden, sondern sie wurden eher in der Rubrik „Orient“ untergebracht, also neben „1001 Nacht“, Bücher über Sufi-Weisheiten, orientalischen Kochrezepten oder Büchern zu Bauchtanz“, sagte mir im Interview der Islamwissenschaftler Stefan W., der selber Ende der 1980er Jahre im Buchhandel tätig war. „Als der Nobelpreis an Maḥfūẓ verliehen wurde, waren die Verleger tatsächlich völlig überrascht. Man stellte fest, wie wenig man von ihm übersetzt hatte“, fügt er hinzu.

Erschüttert waren jedoch vor allem die Feuilleton-Autoren der deutschen Presse. Der Spiegelwunderte sich, wieso die schwedische Akademie nach der Preisverleihung an den nigerianischen Schriftsteller Wole Soyinka im Jahr 1986 nun erneut „das Weite“ anstatt „das Naheliegende“ suchte.[ii] Die Preisvergabe bezeichnet der Spiegel-Artikel als einen weiteren Versuch der Jury, „in ihrem dunklen Drang neue Landstriche zu erschließen“[iii]. Der Artikel kritisiert auch die Urteilsbegründung der Akademie; deren Aussage, Maḥfūẓ‘ künstlerische Gestaltung der existentiellen Fragen sei äußerst bereichernd, sei ein weiterer Hinweis für die „Inkompetenz“ der Nobel-Jury.

Bemerkenswert ist dabei allerdings, was Maḥfūẓ für den Autor des deutschen Wochenmagazins interessant machte: Natürlich nicht dessen Literatur, von der er wohl wenig Ahnung hatte, sondern dass er den Islamisten ein „Dorn im Auge“ sei, „Liberalismus westlicher Prägung“ fordere und den Frieden mit Israel unterstütze.[iv] Zumindest fühlt man sich also im eigenen Weltbild bestätigt, wenn man von ihm doch nichts lesen konnte oder wollte.

In einem Artikel mit dem Titel „Mahfuz?“ beglückwünschte die FAZ Maḥfūẓ und die Ägypter und meinte, es sei „vermutlich längst an der Zeit, dass die arabischen Literaturen stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt werden,“[v] doch wünscht sie der Jury zugleich besseres Glück für das nächste Jahr. „Sollte sie [nämlich] weiterhin solche Urteile treffen, ist sie auf dem besten Wege, ihre Reputation ein für allemal zu verspielen.“[vi]

Die Preisverleihung sowohl an Maḥfūẓ als auch an Wole Soyinka zwei Jahre zuvor sei, so der Autor, eine „krasse Fehlentscheidung.“ Wegen solcher Entscheidungen müsse die Akademie „sehr aufpassen, dass sie eines Tages die, die sie zu ehren meint, nicht in Wahrheit beleidigt.“ Der Grund für dieses Misstrauen gegenüber der Auszeichnung sei nicht etwa die ägyptische Herkunft des Laureaten, sondern dass „er sich nach immerhin fünfzig Jahren des Publizierens weder in Europa noch in Amerika durchgesetzt hat.“[vii]

Die eigene Blindheit vor dem, was an Kunst und Literatur außerhalb des Westens geschaffen wird, stilisiert sich hier als Unfähigkeit des Anderen, sich durchzusetzen. Eine verkehrte Logik, die sich auch bei Joachim Kaiser in seinem Kommentar „Wir Nobel-Narren“ in der Süddeutschen Zeitung wiederholt. Empört über die Auszeichnung erklärte er, dass es auf „literarische Qualität keineswegs in erster Linie anzukommen scheint [, sondern] der Beachtung der Kategorien der Abwechslung, der Rasse, der Herkunft [oder] der Hautfarbe.“[viii]

„Beflissener Exotismus“ und „Angst vor dem Genialen“ nennt er ähnlich „absurde“ Entscheidungen. Verbittert darüber, dass der Preis weder an Grass, noch an Dürrenmatt oder Max Frisch ging, schließt er seinen Artikel mit der Annahme: „Als Qualitätssiegel darf der Stockholmer Scheck nicht mehr gelten.“[ix]

Was hat sich geändert?

Fast 30 Jahre sind seitdem vergangen. Maḥfūẓ bleibt der einzige Autor der arabischen Sprache, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Doch seitdem hat sich vieles verändert. Nicht nur, dass Maḥfūẓ’ wichtigste Romane ins Deutsche übersetzt und mehrmals aufgelegt wurden. Nicht nur, dass ihm in den meisten großen deutschen Buchhandlungen nun sein verdienter Platz unter der „Weltliteratur“ eingeräumt wurde, sondern neben ihm wurden auch viele andere arabische Autoren übersetzt, sowohl die Klassiker als auch zeitgenössische Werke.

Doch der Hang zum Exotischen ist immer noch vorherrschend und prägt wesentlich die Entscheidung des Verlegens, Übersetzens, und natürlich der Ehrungen und Auszeichnungen. Es wäre sogar legitim zu fragen, ob es allein die literarische Qualität war, die Maḥfūẓ die internationale Anerkennung verschaffte. Dem Zweifel erhaben ist es, dass er sich mit Max Frisch oder Günter Grass messen kann und deswegen die Auszeichnung sehr wohl verdiente. 

Sicher ist aber auch, dass das, was im Buchhandel von der arabischen Literatur zu lesen ist, dort nicht unbedingt der literarischen Qualität wegen ist. Islamismus und Frauenunterdrückung sind weiterhin die Lieblingsthemen, ob in Filmen oder Büchern. Vielleicht ist „der arabische Frühling“ inzwischen hinzugekommen.

Alles andere? „Haben wir ja schon selber.“

 

Referenzen:

[i] Vgl. „Völlig Überrascht. Nach Schwarzafrika entdeckt die Nobel-Jury für Literatur Ägypten: eine „schwedische Kaprice?” in Der Spiegel, 42/1988.

[ii] Ebd.

[iii] Ebd.

[iv] Ebd.

[v] Schirmacher, Frank: “Mahfuz?” in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.1988.

[vi] Ebd.

[vii] Ebd.

[viii] Kaiser, Joachim: “Wir Nobel-Narren.” in Süddeutsche Zeitung, 14.10.1988.

[ix] Ebd.

Iskandar Abdalla, geboren in Alexandria, Ägypten, studierte Geschichte und Nahoststudien an der Ludwig-Maximilian-Universität München und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zurzeit promoviert er an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“. In seiner Forschung beschäftigte er sich mit dem Islam in Europa, aber...