21.10.2015
Es darf kein zurück zum Status Quo geben – zur Gewalteskalation in Israel
Ob in der Altstadt oder im Westteil Jerusalems: In den Straßen herrscht momentan häufig gespenstische Ruhe. Photo: Victor Bezrukov/Flickr (CC-BY-NC-2.0).
Ob in der Altstadt oder im Westteil Jerusalems: In den Straßen herrscht momentan häufig gespenstische Ruhe. Photo: Victor Bezrukov/Flickr (CC-BY-NC-2.0).

Israel lebt wieder in Angst. Täglich erschüttern Terrorattacken das Land. Die traumatischen Tage bergen jedoch auch Chancen: Sie verdeutlichen auf dramatische Weise, dass der Status Quo der Besatzung überwunden werden muss, will Israel in Frieden und Sicherheit leben.

Es kann jeden treffen - jederzeit, überall. Junge Palästinenser greifen israelische Zivilisten und Soldaten an, auf offener Straße, meist mit Messern. Es sind Attacken mitten im Alltag, die sich nicht so leicht verdrängen lassen wie die Kriege an der Grenze zum Gazastreifen oder Demonstrationen palästinensischer Aktivisten in den besetzten Gebieten, abseits von israelischen Wohngebieten, Büros und Einkaufszentren.

Ob in Jerusalem, Tel Aviv oder Beer Sheva: Zehn Jahre nach Ende der Zweiten Intifada wird Israel von den Folgen seiner Besatzungspolitik eingeholt. Mit den Angriffen zerplatzt die Illusion, der von Unterdrückung, Entrechtung und Vernachlässigung geprägte Status Quo könne widerstandslos aufrechterhalten werden. Die Strategie der Regierung Netanjahu, den Konflikt zu verwalten anstatt auf eine politische Lösung hinzuarbeiten, ist zum Scheitern verurteilt.

Israel wird von den Folgen seiner Besatzungspolitik eingeholt

Aus einer vermeintlichen Position der Stärke hat Netanjahu Bemühungen zu einer diplomatischen Annäherung immer wieder an die Wand fahren lassen. Mit Grenzkontrollen, Checkpoints und Zollbestimmungen behindert die Regierung den Aufbau einer eigenständigen palästinensischen Wirtschaft. Im palästinensischen Ostjerusalem, das Israel als annektiertes Gebiet für sich beansprucht, sind die Zustände besonders verheerend: Es gibt viel zu wenige Schulen, der Müll wird selten abgeholt und regelmäßig stellt die Stadtverwaltung das Wasser ab. Von hier stammen viele Attentäter. In Bezug auf Israel kennen sie keinen anderen Alltag als den der Diskriminierung, Entmündigung und Gewalt. Sie haben nichts zu verlieren, weder Hoffnung auf bessere Zeiten noch eine Erinnerung daran. Die verheißungsvollen 90er-Jahre nach Unterzeichnung der Oslo-Verträge haben sie nicht miterlebt.

Netanjahus Regierung kann noch so viele Straßen sperren und die Familien der Attentäter durch Hauszerstörungen bestrafen: Solange die Besatzung anhält und den Palästinenser_innen Selbstbestimmung und wirtschaftliche Entwicklung verwehrt bleiben, wird die Gewalt immer wiederkehren. Sie mag zwischenzeitlich abflauen, braucht jedoch lediglich einen Auslöser, um das Land zu erschüttern - wie dieses Mal, als national-religiöse jüdische Kräfte die muslimische Kontrolle über den Tempelberg/Haram Ash-Sharif in Frage gestellt haben.

Proteste und Gewalt kommen zunehmend von innen

Die Gefahr der Gewalteskalation gilt nicht nur für die besetzten Gebiete, sondern auch für das Kernland Israels. Mehr als 20 Prozent der israelischen Bevölkerung gehören der arabischen Minderheit an, viele von ihnen begreifen sich als Palästinenser mit israelischem Pass. Der Rechtsruck in Israels Politik und Netanjahus Rhetorik vom jüdischen Staat haben daher einen beträchtlichen Teil der eigenen Bevölkerung unter Druck gesetzt. Von Ostjerusalem bis in arabische Ortschaften innerhalb Israels – die Proteste und Gewalt kommen zunehmend von innen.

Die Stärke der israelischen Rechten lässt darauf schließen, dass ein Kurswechsel der politischen Führung in Israel gegenüber der Besatzung Palästinas nicht in Aussicht steht. Ohne die Unterstützung von externen Kräften ist die palästinensische Politik in diesem asymmetrischen Konflikt wenig handlungsfähig. Deshalb ist es so wichtig, dass europäische und amerikanische Politiker_innen Druck auf den Verbündeten Israel ausüben, die Besatzung zu beenden. Es reicht nicht, ein Ende der Gewaltexzesse zu fordern, ohne auf ein Ende der Besatzung zu drängen. Denn Worte der Kritik verhallen zu schnell, wie der anhaltende Siedlungsbau zeigt.

Es gilt, politische und ökonomische Maßnahmen gegen israelische Aktivitäten in den besetzten Gebieten zu ergreifen. Europäisches Recht und deutsche Gesetzgebung schreiben vor, das israelische Kernland und die besetzten Gebiete differenziert zu behandeln. Es gilt, geltendes Recht umzusetzen. Und bei unveränderter Politik der Regierung Netanjahu Sanktionen einzuleiten.

 

Der Autor hat die letzten Wochen in Israel und Palästina vor Ort miterlebt. Gegenüber DRadio Wissen hat er vergangene Woche in einem Interview die Situation und die Ursachen der Gewalteskalation ausführlich geschildert.

 

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Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...