In einer globalisierten Welt rückt auch der musikalische Globus näher zusammen. Trotz des leichten Zugriffs auf Musik aus aller Welt scheinen „orientalistische“ Wahrnehmungsmuster nicht in sich zusammen zu fallen. Ein polemischer Erklärungsversuch.
Machen wir uns nichts vor: bereits zwei Dinge an diesem Artikel stechen absurd heraus, bevor er überhaupt richtig angefangen hat. Zum einen schreibt ein Westeuropäer über Musik von der anderen Seite des Mittelmeeres, zum anderen nimmt er sich eines Themas an, von dem behauptet wird, man könne darüber nicht streiten, zumindest laut der scholastischen Philosophie.
Letzteres mag nur teilweise stimmen, man kann über Musikgeschmack streiten. Vielmehr sollte man wohl aber darüber diskutieren, dass es auch im 21. Jahrhundert immer noch eine latente Geringschätzung für die Musik Nordafrikas und Westasiens gibt, ja eigentlich für die Musik jeder Region, die nicht vollständig dem „westlichen“ Pop erlegen ist. Das ist zugegeben eine sehr subjektive Einschätzung, aber eben auch ein Erfahrungswert nach Jahren des Konsumierens und Auseinandersetzens mit diesem großen Fundus an Musik.
Selbst in meinem Freundeskreis, und in diesem die hart gesottensten Antirassist*innen, belächeln jeden Anflug von „orientalischer“ Musik aus meiner Anlage als hippieesk. Latent übertrieben ist aber wiederum die (hoffentlich) scherzhaft gemeinte Vorahnung einer sukzessiven islamistischen Radikalisierung meinerseits. Und irgendwie scheint es, dass alles, was sich dem Zweiviertel und Vierviertel Korsett und dem gewohnten Dur und Mollschema entzieht, grundsätzlich erst einmal skeptisch betrachtet wird. Mikrotonalität sowie komplexe Rhythmik und Tonfarbe scheinen das europäische Ohr zuweilen zu überfordern. Die Jazzfans werden an dieser Stelle vielleicht Schnappatmung bekommen, aber selbst die wissen um die Limitiertheit „westlicher“ Musik.
Auch ich bin ein Kind Mitteleuropas, liebe Punk, Metal, Hip-Hop, Drum and Bass und in seltenen Ausnahmesituationen darf es auch mal eine Countryplatte sein. Aber ich habe nie verstanden, warum mein musikalischer Horizont schon dort enden soll? Warum nicht auch jenseits der Alpen die Ohren aufsperren?
Jenseits der Alpen
Aber hier fängt das Dilemma bereits an. Wann beginnt der „Orient“ und wo hört der „Okzident“ auf und was liegt dazwischen? Ist die reichhaltige musikalische Tradition des Balkans noch europäisch? Und was ist mit der kontinentalen Schnittstelle Istanbul und seiner musikalischen Geographie? An der Kulturgeographie des Balkans haben sich schon viele Wissenschaftler*innen wie Journalist*innen abgearbeitet, jedoch mit keinem eindeutigen Ergebnis. Sloweniens herausragender Philosoph Slavoj Zizek meinte einmal ironisch, der Balkan beginne da, wo sich Europa der Barbarei, Sklaverei und der Misogynie öffne. Das allerdings spricht vielmehr für die mittel- und westeuropäische Wahrnehmung des Ostens im Allgemeinen.
Diese Uneindeutigkeit des Balkan ist allerdings das wunderbare und faszinierende, funktioniert er doch wie eine Art kultureller Zentrifuge, in welcher die binäre Wahrnehmung von West und Ost sorgfältig dekonstruiert wird (hierzu sei folgende Doku wärmstens empfohlen).
Musik ohne Grenzen, grenzenloser Exotismus
Edward Said hat prominent herausgearbeitet, dass der Begriff „Orient“ vor allem ein Abgrenzungsreflex ist. „Orient“ funktioniert nur, wenn man eine Vorstellung von Europa und seinem nordamerikanischen Franchise hat und beides als homogene Einheiten betrachtet. Wenn dieses „Europa“ nun aber im musikalischen Kontext heißt, mich jeden Morgen von viel zu gut gelaunten Radio DJs mit der ewig gleichen Top 50 quälen lassen zu müssen und am Wochenende die Wahl zwischen Trash- und Technoparty zu haben, dann: „Nein, Danke!“
Da lasse ich mir gern den Vorwurf gefallen, Hippie oder Islamist zu sein, je nach Kontext. Allerdings möchte ich nicht den Eindruck erwecken, die musikalische Produktion Westeuropas und Nordamerikas sei per se unterkomplex oder nicht innovativ, im Gegenteil. Gerade mit Blick auf technologische Innovationen hat der gesamte Planet von Erfindungen wie dem Keyboard, dem Schlagzeug oder der E-Gitarre profitiert, von Aufnahme- und Produktionstechniken ganz zu schweigen. Besonders Nordafrika und der saharische Raum hat mit „westlicher Instrumentation“ einen einzigartigen Stil erschaffen, unter der Ägide Ali Farka Tourés, Bombinos, Tinariwen oder der Gnawa Diffusion.
Mich stört die Ignoranz, die viele Menschen in Europa an den Tag legen, gegenüber allem, was nicht dem eigenen Musikschema entspricht. Ich kenne unzählige Musikfans, die aber noch nie etwas von Umm Kulthum oder Farid al-Atrash und deren immensen Einfluss auf die musikalische Genese aus WANA gehört haben. Gleichfalls gibt es auch genug Connoisseure klassischer Musik, die aber keine Ahnung haben von der Reichhaltigkeit und Vielschichtigkeit osmanischer Orchestermusik. Da geht man dann auch so weit, die Musik Bachs schlicht als „ideal“ bezeichnen. Bei allem Respekt vor Johann Sebastian Bachs Werk, aber solche reflexhaften Zuschreibungen fallen auch wesentlich einfacher, wenn der musikalische Horizont nur maximal bis zum Habsburger Salzburg reicht.
Was dieser Ignoranz zu Grunde liegt, ist ein historisches und gesellschaftliches Problem. Musik, wenn sie nicht Westeuropa oder den USA entspringt, scheint eine gleichförmige, kontextlose Masse zu sein. Ein Freund sagte mir einmal, Reggae sei „nur etwas für homophobe, religiöse Spinner“ und dampfte damit 50 Jahre musikalischer Genese und sozialen sowie spirituellen und antikolonialen Kampf auf ein unerträglich arrogantes Statement zusammen. Was also vermeintlich nicht in die erleuchtete und vor Respekt und Humanismus nur so triefende Popkultur passt, kann also auch nicht konsumiert werden.
Das gleiche gilt nun also auch für das, was man immer noch „Orient“ zu nennen scheint. Patriarchalisch, rückwärtsgewandt und substantiell religiös bis fanatisch erscheint uns dieser und deswegen können auch dessen Kulturen einem „westlichen Menschen“ nichts bieten. Das ist nicht einfach nur falsch, sondern rassistisch. Gleichzeitig gibt es aber eine schizophrene Faszination für diese Gegend, die Europa seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr losgelassen hat:
„Komm mit mir in ein Land, ein exotischer Fleck, wo Kamele durch die Wüste zieh'n;
du riskierst deinen Kopf und sofort ist er weg.“
Diese Worte sind vielen von uns seit Kindertagen bekannt, und zwar aus dem Prolog des Disneyfilms „Aladdin“. Mit diesen zwei Zeilen ist eigentlich alles gesagt, was man über die Problematik der Wahrnehmung von „rationalem Westen“ und „sinnlich-emotionalen Osten“ wissen muss. Egal, durch welches Medium WANA rezipiert wird, die europäisch-amerikanische Darstellung klammert sich überwiegend an einen latent gewalttätigen und archaischen Exotismus, da macht auch die Musik keine Ausnahme. Wir leben zwar in einer globalisierten Welt, doch das heißt nicht, dass wir für diese Welt auch offen sind. Internalisierter Kolonialismus und eine limitierte Empathie brechen den außereuropäischen musikalischen Kosmos auf ein Wort herunter: Weltmusik.
„Weltmusik“ - Eine Erfolgsgeschichte
An dieser Stelle ein augenzwinkerndes Dankeschön an den US-amerikanischen Musikethnologen Robert Edward Brown, der diesen Begriff geprägt hat. Suchte er ursprünglich nur eine musikwissenschaftliche Matrix für die Katalogisierung des musikalischen Globus, entwickelte sich die Bezeichnung zu einem „Genre“, beziehungsweise zu einer Abgrenzungsfloskel. Schlussendlich und wahrscheinlich gar nicht in Browns Interesse wurde „die Welt“ etwas, was in scharfem Kontrast zu Europa und Nordamerika auch musikalisch verstanden werden konnte. Die Hippiebewegung der 1960er Jahre tat ihr übriges, diese „Weltmusik“ mit oberflächlicher Spiritualität aufzuladen und sie damit zu einer eindimensionalen und schwer verdaulichen Angelegenheit zu machen.
Diese Zweiteilung gilt auch für die Hörerschaft: auf der einen Seite die beflissenen, der Popkultur erlegenen Musikkonsument*innen und auf der anderen dauerhaft gut gelaunte Hippies mit einem Fernwehkomplex und einem Hang zu unbekümmerter kultureller Aneignung. Beide werden der Komplexität und Vielfalt von Musik, unabhängig von ihrem Entstehungsort, nicht gerecht. Denn schlussendlich bleiben beide an der Oberfläche musikalischer Rezeption, ob es nun die allgemeine Ablehnung ist, oder aber das schlichte Bedürfnis, aus dem europäischen Popdiktat auszubrechen.
Was verrät es aber nun über diese kulturelle Wahrnehmung, dass jedes europäische und angloamerikanische Genre kleinteiligst definiert und angepriesen wird, während der Rest der Welt schlicht unter einer Bezeichnung firmiert und dementsprechend vermarktet wird? Und was bekomme ich dann? Iranische Orchestermusik, türkischen Psychrock, Gnawa, Dabka, Sawt? Oder aber indische Ragas, Cumbia und so weiter… der musikalische Globus wird verzerrt und vermengt, um ihn zu komprimieren und damit in gewisser Weise unsichtbar zu machen.
Das wiederum ist der Vorteil eines globalisierten Musikmarktes, dass man mit ein wenig Interesse und Recherche dieser Vereinheitlichung konstruktiv begegnen kann. Und glücklicherweise ist es nun auch so, dass sich WANA und Europa in ihrem musikalischen Schaffen gegenseitig befruchten. Flamenco wäre hier eins der ältesten und populärsten Beispiele.
Zeitgenössische Bands wie die Gnawa Diffusion, 47 Soul, Bombino, Cairokee, Altin Gün, A-Wa und tausende andere finden ihren Weg in „westliche Gehörgänge“ und verkehren den kulturellen Export des „Westens“ in die andere Richtung. Und es geht nicht einmal nur um deren intensive, tanzbare Songs genannter Bands. Beispielsweise kann man von der Orchestermusik des Iraners Hossein Alizadeh oder des Türken Ismail Özden auch hierzulande noch einiges lernen, eine Tür, die von Ravi Shankar und Daniel Barenboim weit aufgestoßen wurde.
Der Austausch findet also statt, und das auch sehr rege, was die vielen Festivals in Europa belegen. Allein hierzulande können sich Institutionen wie das Rudolstadt Festival oder der Yiddish Summer durchaus damit schmücken, einen unvoreingenommenen und konsularischen Anspruch an die musikalische Präsentation zu haben. Gleiches gilt für die internationale Pionierarbeit des WOMAD. Die individuelle Rezeption und interkulturelle Kompetenz stehen da natürlich nochmal auf einem anderen Blatt.
Wenn ich allerdings für meine frühen Erfahrungen spreche, ist ein gewisser Hang zum Fernweh und ein naiver Orientalismus schwer zu leugnen. Hinzu kommt die sprachliche Barriere und auch ich mache mich da einer gewissen Unwissenheit schuldig, besonders wenn es um persische oder Amazigh sprachige Musik geht. Nichtsdestotrotz hat gerade im digitalen Zeitalter jedes interessierte Individuum die Freiheit und Möglichkeit, sich über ihr gefällige Musik zu informieren.
Hinzu kommt noch, dass die Identifikation als barbarisch, misogyn und religiös aufgeladen völlig den Umstand vernachlässigt, dass auch in WANA Musik eine politische Triebfeder sein kann und ist.
Majed Alesas „Hwages“ beispielsweise, als feministischer Vorstoß in Saudi-Arabien oder Mohammed Mounirs „Ezzay“ als musikalische Ikone der ägyptischen Revolution 2011 laden die Musik politisch auf. Auch der Untergrund ist mindestens so emsig wie zornig, beispielsweise in Form von Torabyehs „Ghorba“, einem palästinensischen Rapsong, der so ziemlich mit allen Mächtigen abrechnet, die für die palästinensische Situation verantwortlich sind. Auch die libysche Revolution hat mit „Sawfa Nabqa Huna“ eine eigene, mobilisierende Hymne.
Dekolonialisierung des Musikgeschmackes
Unterm Strich erscheint die Wahrnehmung der WANA Musik von außen betrachtet meist als unterkomplex, romantisch und eintönig. Das kann man auch als Abwehrhaltung betrachten, nicht als Werturteil, denn eine eingehende Beschäftigung mit der musikalischen Geographie WANAs würde auch Vorurteile brechen, allen voran mit der Annahme, dass WANA ethnisch, historisch, sprachlich und kulturell homogen sei.
Musik ist dahingehend ein dankbarer Türöffner und sollte auch als solcher wahrgenommen werden. Und im Zuge dessen überwindet man vielleicht auch den unsäglichen Wahrnehmungsbegriff „Weltmusik“ und redet in den Worten der zahlreichen Genre jenseits des Mittelmeeres, aber auch darüber hinaus.
So wie Edward Said ein glühender und begeisterter Hörer europäischer Musik war, sollten wir, mindestens der Fairness halber, die gleiche Sorgfalt und Neugier für außereuropäische Musik kultivieren, oder frei nach Daniel Barenboim: „Musik hat die Kraft, eine größere Realität zu erschaffen.“
Um sich selber eine Klangvorstellung zu machen, hier eine ausgewählt Zusammenstellung des Autors.