03.10.2022
„Die wichtige Debatte verkommt zu einer redundanten Nabelschau“
Israelkritik und Kapitalismuskritik können, aber müssen nicht strukturell antisemitisch sein. Grafik: dis:orient
Israelkritik und Kapitalismuskritik können, aber müssen nicht strukturell antisemitisch sein. Grafik: dis:orient

Anstelle differenzierter Kritik oder einem multidirektionalen Ansatz nutzt BDS vereinfachte Weltbilder mit Israel als Projektionsfläche für das „neokoloniale Böse". Das macht sie strukturell antisemitisch, argumentiert Julia Edthofer.

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers „BDS im deutschsprachigen Raum“. Mit den Beiträgen wollen wir verschiedenen Zugängen zur Debatte um BDS in Deutschland Raum geben. Im Editorial gehen wir auf den Hintergrund des Dossiers ein und stellen euch die Beiträge vor.

Julia, du kritisierst, dass Israel in linken Szenen immer wieder die Funktion eines „neokolonialen Bösen“ zugeschrieben wird. Was meinst du damit?

Ich würde das als „antiisraelisches Kolonialframing“ beschreiben, in dem der Staat als ein vom „Westen“ in der Region installierter Fremdkörper dargestellt wird. Dieses pseudo-politische Framing unterteilt die Welt in „westliche“ unterdrückende Staaten und „nicht-westliche“ unterdrückte Staaten beziehungsweise Bevölkerungsgruppen. Israel und Israelis, so das Narrativ, gehören zur ersten Kategorie und Palästinenser:innen zur zweiten.

Ich habe mich damit beschäftigt, wie sich dieses „Kolonialframing“ an historisch unterschiedliche geopolitische Bedingungen anpasst: im antiimperialistischen Diskurs der 1970er- und 80er-Jahre gilt Israel beispielsweise noch als „Brückenkopf“ des US-Imperialismus; ab der Jahrtausendwende wird der Staat jedoch zunehmend zur treibenden Kraft des neokolonialen Weltsystems stilisiert, also quasi zu einem „Super-Kolonialstaat“ mit Vorbildwirkung.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde dem israelischen Staat im postkolonialen Diskurs eine Vorreiterrolle im War on Terror zugeschrieben. Israel wird dabei zum „neokolonialen Bösen“ im Sinne eines „Laboratoriums“ des Neokolonialismus´ stilisiert, der nach 9/11 vor allem auf anti-muslimischer beziehungsweise anti-arabischer Unterdrückung basiere.

Schlussfolgerung in diesem Narrativ: das neokoloniale Weltsystem ist ungebrochen solange der zionistische Kolonialstaat existiert, weshalb dieser auch bekämpft werden muss. Wir haben es hier also mit einer diskursiven Verschiebung vom Handlanger zum Verursacher globaler neo-kolonialer Ausbeutungsstrukturen zu tun und dementsprechend mit einer neuen Form von strukturellem Antisemitismus.

Du bezeichnest das antiisraelische Kolonialframing als „strukturell antisemitisch“. Kannst du den Begriff des strukturellen Antisemitismus kurz erklären?

Das Konzept geht zurück auf den Historiker und Ökonomen Moishe Postone. Struktureller Antisemitismus wird oft als „verkürzte“ Kapitalismuskritik bezeichnet—ich würde aber sagen, dass es sich um eine schlicht falsche Kapitalismuskritik handelt. Diese Pseudo-Kritik skandalisiert populistisch oberflächliche Erscheinungsformen des Kapitalismus, aber übt keine strukturelle beziehungsweise politische Kritik. Postone hat das anhand des NS-Diskurses herausgearbeitet.

Er beschreibt in seinem 1979 erschienenen Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“, wie sowohl der „abstrakte Wert“, als auch alle gesellschaftlichen Umwälzungen, die mit der rasanten Industrialisierung und Urbanisierung einhergingen, auf Jüdinnen und Juden projiziert wurden. Zusammengefasst ist struktureller Antisemitismus also eine Pseudo-Kapitalismuskritik, welche die zugrundeliegenden kapitalistischen Beziehungen verdeckt und Jüdinnen und Juden die Schuld am kapitalistischen Ausbeutungssystem zuschreibt.

Postones Analyse wird leider viel zu wenig rezipiert. Ich führe das unter anderem darauf zurück, dass er den extremen NS-Diskurs als empirische Ausgangsbasis nimmt. Dabei können Versatzstücke einer solchen falschen Kapitalismuskritik bis heute beobachtet werden. Beispielsweise die absurde Einteilung in „gutes“ und „böses“ Kapital. Das „gute“ Kapital ist in dieser Vorstellung das „produktive“ Industrie-Kapital, das die Volkswirtschaft am Laufen hält und im NS-Diskurs dementsprechend symbolisch aufgeladen wurde: zum Beispiel in Hitlers berühmter Aussage, die (männliche) „deutsche“ Jugend sei „hart wie Kruppstahl“.

Das „böse“ Kapital steht für das abstrakte Finanzkapital, welches im paranoiden NS-Narrativ die „Volksgemeinschaft“ zersetzen würde und auf jüdische Communities projiziert wurde. Dabei arbeitet Postone auch den Unterschied zwischen Antisemitismus und anderen Formen des Rassismus heraus: während Kolonialrassismen darauf basieren, dass rassifizierte „Untermenschen“ beherrscht werden müssen und auch beherrscht werden können, geht es bei Antisemitismus um eine paranoide „Übermacht-Projektion“. Das manifestierte sich im NS-Diskurs absurderweise in einem pseudo-antikolonialen Narrativ: Jüdinnen und Juden müssen vernichtet werden, um das „deutsche Volk“ von ihrem übermächtigen Einfluss zu „befreien“.

Auch wenn struktureller Antisemitismus heutzutage selten so extrem auftritt, ist eine Verschleierung der gesellschaftlichen Beziehungen durch antisemitische Narrative auch aktuell Teil einer Pseudo-Kapitalismuskritik. Ich stimme Postone daher zu, dass der Kapitalismus strukturellen Antisemitismus auf einer symbolischen beziehungsweise populistischen Ebene braucht, um funktionieren zu können. Umgekehrt konnte ich immer wieder im Rahmen von Diskussionen beobachten, dass manche „Antideutsche“ das Konzept so interpretieren, dass jede Form der Kapitalismuskritik strukturell antisemitisch sei. Ich halte sowas für eine fatale Fehlrezeption von Postones Analyse, die wiederum eine strukturelle Kapitalismuskritik verhindert.

Politisch viel wichtiger wäre eine empirisch fundierte Adaption des Analyseansatzes, um aktuelle Pseudo-Erklärungsmuster für das globale postkoloniale Ausbeutungssystem zu erkennen. Bei meiner Forschung zu diskursiven Verschiebungen seit 9/11 zeigte sich auch deutlich: analog zum strukturell antisemitischen Narrativ, welches Jüdinnen und Juden die Schuld am Kapitalismus zuweist, wird im aktuellen postkolonialen Diskurs Israel als „Laboratorium des globalen Neokolonialismus“ imaginiert. Sprich: die „verkürzte“ Pseudo-Analyse kapitalistischer Strukturen hat sich diskursiv gewandelt und postkoloniale Elemente aufgenommen.

Du siehst die Selektivität der Solidarität mit Palästina als potenziell problematisch an. Sind Solidaritätsbewegungen mit der Ukraine oder Kurdistan selektiv?

Solidarität ist wohl immer selektiv, da sie stark von individuellen Politisierungsprozessen abhängt. Davon, welche Informationen ich erhalte, ob ich direkt Betroffene kenne, et cetera. Der Unterschied im Kontext von Israel/Palästina ist aber das von mir beschriebene Kolonialframing, das ausschließlich in Bezug auf den israelischen Staat existiert.

Wer das nicht ernst nimmt, macht keine adäquate Analyse von aktuellem israelbezogenem Antisemitismus. Das ist auch meine größte Kritik an den Postkolonialen Studien: Hier wird dieses Framing zumeist reproduziert oder zumindest nicht als strukturell antisemitisch ernst genommen. Stattdessen herrscht meiner Beobachtung nach die Überzeugung vor, dass es sich um gerechtfertigte politische Kritik an einem Siedler:innen-Kolonialstaat handelt, wie zum Beispiel in Südafrika oder den USA. Diese Einschätzung teile ich nicht, da Israel schlichtweg kein genozidaler Apartheidstaat ist. Darauf hat der zwischenzeitlich leider verstorbene Gush Shalom-Aktivist Uri Avnery bereits zu Beginn der internationalen Boykottaktivitäten hingewiesen.

Ändert es etwas an deiner Einschätzung, wenn sich Analysen des Neokolonialen genauso konsequent auf andere Staaten oder Unabhängigkeitskämpfe beziehen würden?

Ja, definitiv – denn dann würde es sich tatsächlich um politische Analyse und linke Kritik handeln und nicht um einen symbolisch aufgeladenen Selbstläufer. Ich kritisiere ja nicht die kritische Auseinandersetzung mit Israel oder dem Kapitalismus. Wie mit Bezug auf Postone erklärt, habe ich mich an Israel- beziehungsweise Kapitalismuskritik abgearbeitet, die allein auf pauschalen Schlagwörtern basiert und tieferliegende Analysen meidet. Das ist auch das Problem an BDS.

Worin besteht das Versäumnis von BDS?

BDS ist viel zu stark im antiisraelischen Kolonialframing verwurzelt, als dass sie da jemals rauskommen könnten. Anders gesagt: die ganze Kampagne würde zusammenbrechen, wenn Israel nicht mehr als das neokoloniale Böse fungieren könnte. Wie absurd dieses Kolonialframing zuweilen daherkommt, illustriere ich kurz anhand eines Facebook-Posts der antiimperialistischen Gruppe „BDS Austria“.

Als am 19. April 2015 an die 800 Menschen vor der libyschen Küste ertranken, veröffentlichte BDS Austria einen Post, in dem sie Israel als Laboratorium des tödlichen EU-Grenzregimes konstruieren. Einleitend werden die Leser:innen an den „Zusammenhang zwischen rassistischer EU-Politik gegenüber Flüchtlingen […] und israelischer Modellwirkung“ erinnert. Israel sei „‘Welthauptstadt‘ (sic!) der Homeland Security Industrie“ und verkaufe „Kameras, Überwachungstechnologie, Drohnen sowie Schutzausrüstung zur Aufstandsbekämpfung“. Daher seien rechte, neoliberale Regierungen auf die israelische Technologie angewiesen, „um ihre BürgerInnen (und ‚unerwünschte‘ Bevölkerungssegmente) zu kontrollieren“.

Sind damit alle Unterstützer:innen, zumindest strukturell, antisemitisch?

Nein, weil politische Selbstorganisation immer gramscianisch betrachtet werden sollte—sprich: als permanenter politischer Struggle, der natürlich auch innerhalb von sozialen Bewegungen stattfindet. Zu BDS-Unterstützer:innen, die aktuell in „israelsolidarischen“ deutschen Kontexten aus meiner Sicht zu Unrecht kritisiert werden, gehört etwa auch Michael Rothberg, von dessen multidirektionalem Ansatz ich viel halte.

Rothberg geht im letzten Kapitel seines sehr lesenswerten Buches „Multidirectional Memory“ auch kurz auf den postkolonialen Israel-Bias ein—aber leider, ohne diesen als das zu benennen, was er analytisch betrachtet ist: eine strukturell antisemitische Antiimp-Fantasie. Und ganz prinzipiell bin ich schon der Meinung: Wer, wie das Gros der BDS-Sympathisant:innen, das Narrativ einer neokolonialen Symbolfunktion Israels einfach übernimmt, reproduziert das oben beschriebene Kolonialframing und somit aktuellen strukturellen Antisemitismus, der sich israelbezogen manifestiert.

Israelsolidarische Kontexte beziehen sich zumeist auf die Kritische Theorie, wenn sie gegen poststukturalistische Ansätze der Postkolonialen Studien argumentieren. Worum geht es in den theoretischen Debatten genau?

Dahinter stehen zwei unterschiedliche Denkschulen mit eigenen epistemologisch-analytischen Herangehensweisen. Während es der Kritischen Theorie um die gesellschaftliche Funktion des Ressentiments geht, stehen bei poststrukturalistischen Ansätzen die Machteffekte im Fokus.

Wie Floris Biskamp in der Testcard #25 illustriert, entspricht dies zwei unterschiedlichen theoretischen Perspektiven. Politisch betrachtet macht es jedoch Sinn, Funktion und Erscheinung gemeinsam in den Blick zu nehmen und zu kritisieren. In Bezug auf Israel werden die oben genannten Machteffekte (Rassismus, europäisches Grenzregime, et cetera) außerdem oft komplett verzerrt dargestellt. Ein Beispiel dafür habe ich oben in Bezug auf BDS Austria gegeben, wenn Israel zum Laboratorium der rassistischen europäischen Abschottungspolitik stilisiert wird.

Was haben diese abstrakten Fragen mit Israel/Palästina zu tun?

Am Umgang mit diesen Perspektiven zeigt sich, ob israelbezogener Antisemitismus als solcher analysiert wird oder ob die Auseinandersetzung, wie in den meisten postkolonialen Kontexten, auf einer rein symbolischen und damit auch pseudo-politischen Ebene hängenbleibt.

Die Debatten um Postkoloniale Studien wurden in den letzten Jahren sehr ausgiebig geführt. Wie verhält sich die israelsolidarischen Seite in dieser Debatte?

Ich finde die Auseinandersetzung wird von beiden Seiten unnötig antagonistisch geführt; unter anderem deshalb, weil sie oft auf Halbwissen beruht. Die postkolonialen Auslassungen habe ich bereits thematisiert, als Beispiel für die israelsolidarische oder ehemals „antideutsche“ Seite: diese Zirkel sind oft erschreckend eurozentristisch und lesen daher in ihrer Kritik am Postkolonialismus viel zu wenig Primärliteratur, um ernsthaft mitdiskutieren zu können.

Stattdessen werden die ewiggleichen platten Zuschreibungen an antirassistische Analyseperspektiven reproduziert. Von Intersektionalität über Critical Whiteness und Kulturelle Aneignung: alles wird in einen identitätspolitischen Topf geworfen. Postkoloniale Auseinandersetzungen mit regressiven Elementen identitärer Kolonialismus- und Rassismuskritik, wie sie zum Beispiel Aram Ziai im deutschsprachigen Diskurs angestoßen hat, werden dadurch ausgeblendet. So entsteht der falsche Eindruck, nur die israelsolidarische Seite hätte diese Kritik auf dem Schirm.

Damit verkommt die wichtige Debatte leider zu einer redundanten Nabelschau in hochprivilegierten universitären Zirkeln – das ist sehr schade, weil es politisch betrachtet komplett irrelevant ist. Das geballte Halbwissen und die daraus folgenden uninformierten antagonistischen Zuschreibungen haben mich persönlich auch aus dem Debattenfeld getrieben, weil es irgendwann einfach nur noch nervt und ich mit meiner Arbeit politisch intervenieren möchte.

Das erinnert an die Debatten der letzten Jahre zum Verhältnis der Erinnerung an Holocaust und Kolonialismus, die ebenfalls oft antagonistisch geführt werden.

Hier müssen wir unbedingt von dem postkolonialen Zerr-Bild wegkommen, dass ein angeblich hegemoniales Holocaustgedenken der Erinnerung an den Kolonialismus im Weg steht. Es ist historisch schlichtweg falsch, dass Holocaustgedenken in den direkten Täter:innenstaaten jemals hegemonial war. Ganz im Gegenteil: Nora Sternfeld spricht für Österreich beispielsweise von „errungenen Erinnerungen“, weil die Auseinandersetzung mit der Shoah unterdrückt wurde. Im österreichischen Kontext zumindest solange die direkt involvierten Täter:innen—sprich: Omi und Opi—noch am Leben waren.

In Teilen Westdeutschlands war das anders, weil es dort eine Form von „Re-Education“ gab. In der DDR hingegen waren nach 1945 laut der offiziellen Politik alle Antifaschist:innen und in Österreich waren alle Opfer von Nazideutschland. Dementsprechend stark manifestiert sich nach wie vor dominanzgesellschaftlicher Antisemitismus.

Das bedeutet aber nicht, dass das Gedenken an den Holocaust in einer postnazistischen und postkolonialen Migrationsgesellschaft nicht möglich wäre. Erinnerungsarbeit muss dabei in einer globalen Gewaltgeschichte verortet werden, in welcher der Holocaust zwar in puncto unbedingtem Vernichtungswillen aufgrund von antisemitischen Übermacht-Zuschreibungen als einzigartig zu verstehen ist, aber gleichzeitig als Teil einer globalen Genozidgeschichte. Anstelle einer multidirektionalen Erinnerungskultur driftet die Diskussion leider oft in Richtung Erinnerungskonkurrenz ab.

Postkoloniale Zirkel stellen die Shoah dabei als eurozentristisches Erinnerungsparadigma dar, das deswegen hegemonial werden konnte, weil der Genozid erstmals weiße[1] Menschen getroffen hätte – also Jüdinnen und Juden. Das verdeutlicht, dass Antisemitismus in seiner Funktion als rassifizierende Übermacht-Projektion nicht adäquat analysiert wird.

Jüdinnen und Juden als weiß zu positionieren, und damit als Teil der Dominanzgesellschaft, wird von vielen Seiten kritisiert. Welche Rolle spielt diese Debatte in der Diskussion um Israel/Palästina und die Erinnerungskultur?

Die Einordnung von Jüdinnen und Juden als weiß ist Teil der diskursiven Verschiebung von strukturellem Antisemitismus. Ich benutze daher den Begriff „Whiteness-Frame“ und unterscheide zwei Dimensionen: Erstens, die verzerrte Darstellung des israelischen Staates als weiße Siedler:innenkolonie, was ja auch die Existenz von Mizrachim oder palästinensischen Communities in Israel komplett ausblendet. Zweitens, die eben beschriebene Vorstellung, die Shoah würde in der globalen Erinnerungspolitik stärker gewichtet, weil erstmalig weiße Menschen von einem Genozid betroffen gewesen seien. In offenen Antisemitismus driftet letztere Zuschreibung dann ab, wenn behauptet wird, dass jüdische Kollektive die Macht hätten, ihr ‚partikulares‘ Trauma zum hegemonialen Erinnerungsparadigma zu machen. Beide Dimensionen sind massiv problematisch.

Ein ethnographisches Beispiel für so einen Whiteness-Frame habe ich im Jahr 2012 auf einem von Nikita Dhawan und Maria do Mar Castro Varela organisierten postkolonialen Workshop in Frankfurt am Main dokumentiert. Einige Teilnehmer:innen kritisierten dort den antimuslimischen Rassismus von KZ-Insass:innen und machten ihre Kritik daran fest, dass sich das Wort „Muselmann“ als Bezeichnung für Personen etablierte, die quasi aufgegeben hatten und eigentlich nur noch auf den Tod warteten. Hier spielten Whiteness-Macht-Zuschreibungen eine große Rolle: Immerhin konnte in der Diskussion komplett ausgeblendet werden, dass es sich bei jüdischen KZ-Insass:innen um hochgradig rassifizierte, definitiv nicht als Teil der „arischen“ Dominanzgesellschaft betrachtete Personen handelte, die allein zum Zweck der Vernichtung im KZ landeten.

Ich will dabei nicht negieren, dass auch Muslim:innen in KZs interniert waren, sondern darauf hinweisen, dass das nicht aufgrund von antimuslimischem oder antiarabischem Rassismus der Fall war. Eine betroffene Gruppe waren beispielsweise muslimische Roma und Sinti aus dem ehemaligen Jugoslawien—allerdings nicht als Muslim:innen, sondern aus „rassischen“ Gründen als „Zigeuner:innen“. Im KZ Neuengamme bei Hamburg waren zudem Deserteure der muslimischen SS-Division „Handschar“ als politische Insassen interniert. Diese bosnische Division der SS wurde rekrutiert, um auf dem Gebiet des heutigen Ex-Jugoslawien Partisan:innen zu bekämpfen und die Shoah zu organisieren. In beiden Fällen handelt es sich also nicht um eine generalstabsmäßig organisierte Vernichtung aufgrund von antimuslimischem oder antiarabischenm Rassismus.

Um auf diese Auslassung hinzuweisen, merkte Micha Brumlik im Zuge der Diskussion sarkastisch an, dass durchaus auch Muslime in diversen KZs vor Ort waren – allerdings meist „auf der anderen Seite des Zauns“, als Teil einer SS-Einheit. Um Brumliks Hinweis ernst zu nehmen: Bei solchen absurden, in der Erinnerungskonkurrenz verhafteten Diskussionen läuft einiges grundsätzlich falsch. Historisch und analytisch betrachtet, sowie auf einer empathischen beziehungsweise anerkennungspolitischen Ebene. Mein Fazit: Multidirektionale Erinnerungsarbeit sieht definitiv anders aus!

Existiert eine Art Fortführung dieser Erinnerungskonkurrenz unter denjenigen, die zwar nicht direkt betroffen sind, aber sich solidarisch erklären?

Ja, ganz sicher. Ich attestiere den von mir bis 2017 beobachteten Debatten massive, identitätspolitisch ausgerichtete Erinnerungs- und Betroffenheitskonkurrenzdynamiken, die leider immer mit einer Abkehr von politischer Analyse und Kritik einhergingen. Judith Coffey und Vivien Laumann argumentieren daher in ihrem sehr lesenswerten Buch „Gojnormativität“, dass letztendlich Stellvertreterpolitik betrieben wird, bei der die Akteur:innen jüdische oder auch muslimische und arabische Positionen zum Thema Israel/Palästina im Grunde gar nicht interessieren.

BDS ist für viele eine Möglichkeit, der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung Israels durch Deutschland und Österreich etwas entgegenzusetzen, statt nur in Selbstreflexion oder Debatte zu versinken. Ist es nicht legitim, aktiv zu sein und dem BDS-Aufruf sehr weiter Teile der palästinensischen Zivilgesellschaft zu folgen?

Wie gesagt, ich glaube nicht, dass es den meisten Unterstützer:innen um eine tatsächliche Veränderung der Situation in Israel/Palästina geht. Der Erfolg von BDS beruht in erster Linie auf der einfach gestrickten Symbolfunktion Israels als das „neokoloniale Böse“. Sowas ermöglicht einfache Antworten auf die komplizierte kapitalistische und postkoloniale Welt.

Der strukturelle Antisemitismus ist deshalb nicht nur Nebeneffekt einer gut gemeinten Kampagne, sondern essenzieller Bestandteil von BDS. Daher wird auch die Kritik an Menschenrechtsverletzungen durch die palästinensische Autonomiebehörde oder an den ökonomischen Folgen von Boykotten für Palästinenser:innen in der Westbank ignoriert. Die Auseinandersetzung mit solchen realpolitischen Ambivalenzen würde das dichotome BDS-Kolonialnarrativ unterminieren.

Nach Jahren akademischer Auseinandersetzung mit dem deutschsprachigen Diskurs um BDS bist du nicht mehr in dem Feld aktiv. Wieso?

Ich habe 2017/18 mit dieser Arbeit aufgehört, weil ich keinen politischen Sinn mehr erkennen konnte. Abgesehen davon, dass unnötig antagonistische „Uni-Diskussionen“ mit null politischem Impact irgendwann wirklich nur noch nerven, hat mir ein multidirektionaler Ansatz gefehlt. Also einer, der sowohl antimuslimischen Rassismus und andere Kolonial-Rassismen ernst nimmt, als auch Antisemitismus—und dabei speziell die Kritik an israelbezogenem Antisemitismus.

Außerdem kam ich wie gesagt zu dem Schluss, dass die von mir beobachteten „Uni-Diskussionen“ oft reine Nabelschau sind und daher politisch irrelevant. Denn wenn ich ernsthaft gegen Antisemitismus beziehungsweise gegen antimuslimischen und andere Rassismen aktiv werden will, dann muss ich den akademischen Elfenbeinturm verlassen.

Dazu gehört erstens, meine Analyse in allgemein verständliche Worte zu fassen, um mich mit der Jugendarbeit, dem Schulsystem, Volkshochschulen, Stadtteilbewegungen et cetera vernetzen zu können. Zweitens muss ich einen gewissen Grad an „Ambivalenztoleranz“ mitbringen, um dann auch aushalten zu können, dass ich es außerhalb meiner israel-, beziehungsweise palästinasolidarischen Uni-Blase mit antisemitischen und rassistischen Denkmustern zu tun haben werde.

Das ist anstrengende politische Arbeit, die in Deutschland beispielsweise vom Verein Ufuq, von der Amadeu-Antonio-Stiftung, und vielen mehr, die sich an der so genannten Basis engagieren, geleistet wird. Nur so kann eine multidirektionale Auseinandersetzung mit Rassismen, Antisemitismus und einer globalen Erinnerungskultur politische Wirkmächtigkeit entfalten.

 


[1] weiß ist klein und kursiv geschrieben, denn es handelt sich nicht um eine ermächtigende Selbstbezeichnung, sondern um eine privilegierte Position innerhalb eines rassistischen Systems. Mehr dazu hier.

Julia Edthofer ist Soziologin in Wien und beschäftigte sich mit israelbezogenem Antisemitismus und dabei speziell mit der Funktion des israelischen Staates als neokoloniale Projektionsfläche. Aktuell arbeitet sie zum sozialen Wohnbau als urbane soziale Infrastruktur am Beispiel des Wiener Gemeindebaus.
Redigiert von dis:orient