20.06.2024
Brücken bauen zwischen Afghanistan und Tirol
Das Cover des Buchs und Foto des Autoren Emran Feroz. Grafik 1: Verlag C.H.Beck, Grafik 2: privat.
Das Cover des Buchs und Foto des Autoren Emran Feroz. Grafik 1: Verlag C.H.Beck, Grafik 2: privat.

In seiner Neuerscheinung begibt sich Emran Feroz auf eine bewegte Reise durch die Geschichte Afghanistans und durch das Leben seiner Familie in drei Generationen. Dabei entlarvt er Rassismus und baut Brücken zwischen seinen zwei Heimaten.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Afghan:innen sind Menschen, „die immer und immer wieder entwurzelt werden“. Genau von diesen Menschen, allen voran seiner Familie, erzählt Emran Feroz in seinem neuen Buch „Vom Westen nichts Neues. Ein muslimisches Leben zwischen Alpen und Hindukusch“. „Der Afghane aus Tirol“ schreibt über die Kulturen seiner beiden Heimaten Österreich und Afghanistan, Alltagsrassismus – und Menschlichkeit.

 

Emrans Familie Feroz galt in Afghanistan als reich, einflussreich, privilegiert sowie gebildet und hat zahlreiche adelige Linien. Großbaba, der Familienpatriarchat aus Kabul, war als Übersetzer und Chefredakteur weit über Afghanistan hinaus bekannt und hatte moderne Visionen für sein Land. Emran wurde auch von seinem Onkel, Maamaa Waheed, geprägt, der die Welt bis zu seiner Ermordung über Afghanistan aufklärte. Vor Ort verband er Persönlichkeiten verschiedenster politischer Gesinnungen, Religionen und Klassen. Auch Großmutter Bibi Jaan verkörperte die „vielzähligen afghanischen Identitäten“, während seine Mami Jaan das Gegenteil aller „orientalistischen Klischees“ gewesen sei.

 

Eine wichtige Rolle spielt Vater Yaqub, dessen Reise nach Europa Emrans Geschichte maßgeblich beeinflusste. 1978 fuhr er mit dem Bus von Kabul nach München, die Strecke, die heute als „Balkanroute“ bekannt ist. In den folgenden Jahren zieht er nach Tirol. Wenngleich Yaqub immer von seiner Rückkehr nach Afghanistan sprach und nicht richtig in Österreich ankam, setzte er nie wieder einen Fuß in seine Heimat.

 

Rassismus, Reise und Rückkehr

Der junge Emran hingegen fühlt sich wohl in Österreich. Er wächst im beschaulichen Innsbruck in einer konservativen, aber nicht sehr religiösen Familie auf – als eines von wenigen Kindern mit Migrationshintergrund. Den Tiroler:innen schien damals relativ egal zu sein, dass er Muslim sei, spannender waren seine afghanischen Wurzeln.

 

Das ändert sich mit 9/11 abrupt, Alltagsrassismus prägt zunehmend sein Leben: „Die Zensur hatte begonnen – und sie traf mich mit voller Wucht“. Emran ist rassistischen Stereotypen seiner Mitschüler:innen ausgesetzt, erfährt racial profiling der bayerischen Grenzpolizei und wird, genau wie sein Vater, auf der Arbeit als Terrorist begrüßt. Insbesondere nach dem Terroranschlag von al-Qaida und auch später im Rahmen der „Flüchtlingskrise“ 2015 habe die Entmenschlichung und Kriminalisierung afghanischer Geflüchtete und generell arabisch gelesener Menschen zugenommen.

 

2014 reist Emran in den Semesterferien erstmals in die Heimat seiner Eltern und findet sich buchstäblich in den Trümmern seiner Familiengeschichte wieder. Auf diesen prägenden Besuch sollten noch viele weitere folgen.

Die Geschichte Afghanistans – ein Ringen mit inneren und äußeren Mächten

 

Das Land der Friedhöfe und das „am meisten von Drohnen bombardierteste Land der Welt“: Afghanistan hat eine bewegte Geschichte. Das Buch gibt Stück für Stück Einblicke in die verschiedenen Herrschaften und Konflikte von der Kolonialzeit bis heute. 1919 erlangte Afghanistan unter dem sogenannten Modernisierer Amanullah Khan im dritten Anglo-Afghanischen Krieg einen Sieg über die britischen Kolonialisten. Über Jahrzehnte herrschte im Land Frieden, den auch die gewaltfreie Abschaffung der Monarchie 1973 nicht störte.

 

Doch nach dem Putsch der linksstalinistischen Partei (DVPA) 1978 entfaltete sich der „rote Terror“ im ganzen Land. Infolgedessen kämpften in den 80er-Jahren in einem Stellvertreterkrieg islamistische Mudschaheddins mit der Unterstützung von westlichen und muslimischen Nationen gegen die Sowjetunion. Unter der anschließenden 10-jährigen Besatzung der Sowjetunion starben 2 Millionen Menschen. Nach dem Abzug sowjetischer Soldaten folgte in den 90er-Jahren ein blutiger Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Mudschaheddingruppen, der in der Machtübernahme der Taliban 1996 mündete.

 

Ab diesem Zeitpunkt sind Bilder aus Afghanistan auch in westlichen Medien bekannt. 2001 marschierte die USA in Afghanistan ein – der umstrittene War on Terror begann. 20 Jahre später hinterließen die NATO-Truppen das Land in einem Zustand des absoluten Chaos. Emran resümiert, dass Afghanistans Geschichte, die einer zerstrittenen Familie sei: „Eine generationsübergreifende Geschichte ohne Happy End“, bei der fast „jede Welt- oder Regionalmacht“ mitmischte.

 

Der Brückenbauer aus Tirol

Dolmetschen und Übersetzen hat nicht nur in der Familie Feroz eine lange Tradition. Viele Menschen mit afghanischen Wurzeln sind laut Emran Kosmopoliten. Sie wandeln zwischen zwei Welten und verstehen beide. Das Buch handelt entsprechend nicht nur von Emrans Leben zwischen Alpen und Hindukusch, sondern auch vom Brückenbauen dazwischen. Er erreicht mit seinem Werk genau das, was so viele Afghan:innen seit Jahrzehnten tun: Er vermittelt, er übersetzt – er übersetzt Welten.
 

„Die Gegenwart verträgt keine weiteren Spalter und Hetzer, sondern braucht Brückenbauer, Weltenerklärer – oder Tarjuman, Übersetzer. Viele von „uns“ Afghanen waren irgendwann in ihrem Leben schon mal als Übersetzer tätig.“
 

Das Gefühl, zwischen zwei Kulturen zu leben, spitzt sich in seinem Job als Kriegsreporter und Journalist zu. Innerhalb einer Woche trifft er sich in Stuttgart mit Freund:innen auf einen Kaffee und trinkt mit den Taliban für ein Interview im ländlichen Nangharhars Tee. Trotz dieses Spagats schafft Emran es immer wieder, in seinem Leben und in seinem Buch, Afghanistan und Tirol zu verbinden – und fühlt sich gleichzeitig heimatlos. Ein Schicksal, dass er mit vielen Afghan:innen teilt. Brücken zu bauen, bedeutet vielleicht auch, nie ganz auf einer Seite anzukommen.

Watan (dt. Heimat) – das Land der Heterogenität

Kaum ein anderes Land auf dieser Welt sei derart von verschiedenen Sprachen und Ethnien geprägt wie Afghanistan. Emran beschreibt, dass zu Friedenszeiten die „rege afghanische Diskussionskultur“ seit jeher ein hohes Gut war. Trotzdem werde kaum eine andere, derartig vielfältige Bevölkerung aus westlicher Perspektive so homogen und rückständig dargestellt.

 

Emrans Erzählungen bilden dazu ein Gegengewicht. Die Familie Feroz scheint ein Spiegelbild der afghanischen Gesellschaft zu sein, in der Kultur, Sprache, Landschaft, Politik und gesellschaftliche Ränge von einer starken Heterogenität geprägt sind. Und so vielschichtig wie das afghanische Volk ist auch seine Diaspora: In Innsbruck baut Emran einen diversen, afghanischen Freund:innenkreis auf, der trotz verschiedenster Ethnien und Religionen eine Kultur und ein Herkunftsland teilt.

 

„Das heutige Afghanistan war schon immer ein Schmelztiegel verschiedener Völker, die auf je eigene Art ihre Spuren und Kultur und Geschichte des Landes hinterlassen haben.“

Wenngleich Afghanistan heutzutage von Zerstörung und Tirol vom Massentourismus regiert wird, so erwecken Emrans Beschreibungen den Eindruck, die Ländern seien einander näher als gedacht. Egal ob ähnliche Sagen, Kriege gegen Natives oder politische Machtspiele – als erfahrener Weltenwandler erkennt Emran Parallelen, die eine Brücke zwischen seinen Heimaten schlagen.
 

„Vom Westen nichts Neues“ – Abrechnung mit der westlichen Doppelmoral

Wer Emrans Buch liest, merkt schnell, was er so salopp gesagt mit dem „nichts Neuem“ aus dem „Westen“ meint. Er zeigt auf, in welchen wiederkehrenden Mustern die ehemaligen Kolonialstaaten die Welt lehren, was gut und böse ist – und sich selbst ausnahmslos auf die Seite der Guten stellen. Emran offenbart beispielhaft, wie unterschiedlich Länder des globalen Nordens und Südens auf eine geteilte Vergangenheit schauen und aktuelle Ereignisse bewerten. Während die Welt 2022 um die Queen trauerte, assoziiert Emran mit dem Königshaus die kolonialen Traumata seiner Großmutter.

Diesen Eurozentrismus entlarvt Emran an zahlreichen Beispielen. Wenngleich das heutige Afghanistan in vielen Aspekten vor 2000 Jahren um einiges fortschrittlicher gewesen sei als Europa, so präsentiere sich letztere als Vorreiterin und Retterin. Dabei tötete der gescheiterte War on Terror tausende Zivilist:innen, denen die westlichen Medien und Politiker:innen den Islamisten-Stempel aufdrückten. Emran enthüllt das falsche Narrativ eines als „sauber“ geframten Kriegs, in dem das Pentagon hinter jedem afghanischen Mann in „wehrfähigen Alter“ einen Terroristen vermutete.

 

„Die westlichen Soldaten hatten keine Demokratie gebracht, sondern sind in afghanische Häuser eingedrungen; ja, sie haben auch gefoltert und gemordet. Je erbitterter der Krieg geführt wurde, desto mehr wurden afghanische Zivilisten entmenschlicht und zum Abschuss freigegeben.“

Der Autor hinterfragt außerdem, wie aktuell bei Geflüchteten aus verschiedenen Staaten mit zweierlei Maß gemessen wird. Im Ukraine Krieg offenbare sich der europäische Rassismus durch die Einteilung in gute versus böse Geflüchtete, Christ:innen versus Muslim:innen, helle versus dunkle Haut, aus zivilisiertem Land versus aus einem „Dritte-Welt-Land“.

 

Mit diesen scharfen Beobachtungen hält Emran westlichen Nationen den bitternötigen Spiegel vor: Juden und Jüdinnen seien in Afghanistan größtenteils als gleichwertige Bürger:innen betrachtet worden, während „in Europa […] der schlimmste Genozid der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat“. Emran betont, was in der laufenden Antisemitismus-Debatte untergeht: Für den Holocaust waren keine Afghan:innen oder Muslim:innen verantwortlich, sondern Deutsche und Österreicher:innen – trotzdem wird heute behauptet, Antisemitismus werde vor allem über muslimische Einwanderung importiert.

 

Dem Eurozentrismus und antimuslimischen Rassismus zum Trotz

„Vom Westen nichts Neues“ ist eines dieser Bücher, in dem ich automatisch jeden zweiten Satz unterstreichen möchte. In Zeiten, in denen antimuslimischer Rassismus Hochkonjunktur hat, hilft das Buch, den Durchblick zu bewahren und sich nicht blind medialer, generalisierender Hetze zu ergeben – die es auch kürzlich wieder nach der Messerattacke eines afghanischen Geflüchteten gab, wie Emran in der taz schreibt.

 

Um sich an das biographische Sachbuch heranzuwagen, braucht es keinerlei Vorwissen zu Afghanistan. Emran versteht es meisterhaft, die kompliziertesten politischen Windungen und komplexesten Zusammenhänge verständlich zu formulieren. Dabei schreibt er so anschaulich, dass es sich anfühlt, als würde man mit Yaqub 1978 im lauten Bus nach Europa sitzen oder 45 Jahre später mit Emran durch Kabuls altes Musikviertel Kharbarat schlendern. Die Anschaulichkeit gelingt, weil Emran historische Ereignisse mit sehr persönlichen Einblicken in seine Familiengeschichten verknüpft.

 

Wer sich ein wenig mit White Supremacy und europäischem Kolonialismus befasst hat, den sollte Emrans Kritik an westlicher Doppelmoral nicht allzu sehr überraschen. Dafür öffnet seine Neuerscheinung die Türen zu afghanischen Lebensrealitäten in Österreich und Afghanistan – die sich mit dem erfrischend klaren Blick eines Mannes betrachten lassen, der sich wirklich in beiden Heimaten auskennt.

 

Emran Feroz: Vom Westen nichts Neues. Ein muslimisches Leben zwischen Alpen und Hindukusch, Verlag C.H. BECK, München, 2024, 220 S., 18 €.

 

 

Jasmin hat PR und Medien- und Kommunikationswissenschaft studiert und interessiert sich sehr für die WANA-Region. Sie setzt sich kritisch mit Stereotypen und Frames in der medialen Berichterstattung, insbesondere über WANA, auseinander und schätzt die vielfältigen Perspektiven bei dis:orient. In ihrer Masterarbeit hat sie empirisch erforscht, wie...
Redigiert von Claire DT, Regina Gennrich