19.09.2024
Afghanischer IS-Ableger auf internationalem Kurs
Sinjar, Irak. Foto: Levi Meir Clancy
Sinjar, Irak. Foto: Levi Meir Clancy

Mit einem religiös-geschichtlichen Anspruch und medial breit aufgestellt, rekrutiert der afghanische Ableger des IS besonders junge Menschen und hat sich so zu einer der tödlichsten Terrororganisationen der Welt entwickelt.

Seit der Rückkehr der Taliban an die Macht in Afghanistan 2021 hat sich das geopolitische Gleichgewicht in der Region erheblich verändert. Während sich die Taliban auf die Konsolidierung ihrer Macht in Afghanistan konzentrieren, hat sich im Untergrund der Islamische Staat - Provinz Khorasan, kurz: IS-PK, etabliert. Dass von dieser neuen IS-Gruppierung eine erhebliche Gefahr ausgeht, zeigt die jüngste Zunahme schwerer Anschläge nicht nur in Afghanistan und Pakistan, sondern auch in der Türkei, Iran und Russland.

Aufstieg zu einer der tödlichsten Terrororganisationen

Der IS-PK sieht sich wie seine Überorganisation IS in einem durch den Koran legitimierten Heiligen Krieg (dschihad) gegen alles Unislamische. Seine Terrorstrategie entlehnt er dem Manifest Verwaltung der Barbarei. Erstmals bekannte sich der IS-PK 2015 zu einem Anschlag in Dschalalabad. Gestärkt durch den Zulauf aus Irak und Syrien, breitete er sich innerhalb von drei Jahren in Afghanistan aus. Schon 2018 wurde der IS-PK auf dem Global Terrorism Index des Institute for Economics and Peace als einer der „tödlichsten Terrororganisationen“ benannt. Ab 2021 nahmen seine Anschläge weiter zu, über 350 Attentate wurden ihm zugeschrieben.

Der Khorasan-Zweig wird von Shahab al-Muhadschir (laut IS-PK Angabe Emir seit 2020) angeführt und entstand Anfang 2015 als regionaler Ableger des sogenannten Islamischen Staats (IS). Er ist der einzige Zweig, der direkt von Abgesandten des IS-Kalifen gegründet und bis heute von dessen Führungskreis finanziert wird. Trotz seines direkten Kontakts verfügt der IS-PK über Autonomie bei der Durchführung von Operationen. Seine Gründung erfolgte inmitten der instabilen politischen Lage in Afghanistan und Pakistan sowie der Schwächung der Taliban und anderer extremistischer Gruppen in der Region. Der IS-PK rekrutierte zahlreiche Kämpfer und Kommandeure aus diesen geschwächten Gruppen, darunter die Pakistanische Talibanbewegung, al-Qaida und die Islamische Bewegung Usbekistan.

Das Verhältnis zwischen dem IS-PK und den Taliban ist von Rivalität um Territorium und Ressourcen geprägt. Während die Taliban ein islamisches Emirat in Afghanistan anstreben, verfolgt der IS-PK das Ziel eines globalen Kalifats. Die unterschiedlichen Ziele führen zu Spannungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen, besonders in der östlichen Provinz Nangarhar und den Stammesgebieten entlang der Durand-Linie. Der IS-PK versuchte seit 2014/15 in Gebieten Fuß zu fassen, die traditionell von den Taliban kontrolliert werden. Die Kämpfe eskalierten, als der ehemalige Taliban-Kommandeur Abdul Rauf Khadim, der sich dem IS-PK angeschlossen hatte, durch einen US-Luftangriff getötet wurde. Sein Tod, der vermutlich durch Taliban-Informationen ermöglicht wurde, verschärfte den Konflikt erheblich.

In dem IS-Nachrichtenportal Al-Naba verurteilte der IS-PK im März 2020 die Friedensverhandlungen der Taliban mit den USA und nannte die Verhandlungsteilnehmer „Verbündete“. Ein Jahr später kündigte der IS-PK  Vergeltung an den Taliban für das Abkommen mit den „Kreuzfahrern“ an und beschimpfte sie als „Verräter“.

Historischer Bezug: Die Region, aus der eine Armee hervorgehen wird

Der Name Islamischer Staat - Provinz Khorasan bezieht sich auf die historische Region Khorasan, die für ihre bedeutende Rolle in der frühen islamischen Geschichte bekannt ist. Das Gebiet umfasst heute Teile des modernen Iran, Afghanistans, Turkmenistans und Usbekistans. In den Hadithen des Propheten Muhammad wird erwähnt, dass aus Khorasan eine Armee hervorgehen wird, die die islamische Welt erobern werde. Dieser historische und religiöse Bezug dient dem IS-PK als Legitimation und zur Mobilisierung neuer Rekruten.

Khorasan war einst Zentrum des kulturellen und intellektuellen Austauschs und außerdem Heimat bedeutender Denker wie Ibn Sina (auch unter dem Namen Avicenna bekannt) und Abu Raihan al-Biruni. Auch Dichter, wie Abu al-Qasim Firdausi und Dschalal al-Din Rumi, standen in enger Verbindung zur Region. Ihre kulturelle Blüte hinterließ ein Erbe, das sie zu einer der wichtigsten Wiegen der islamischen Zivilisation macht. Genau darauf bezieht sich der IS-PK in seiner Propaganda.

Ideologische Anziehungskraft und soziale Bindungen: Fangnetz des Extremismus

Dieser religiös-geschichtliche Legitimierungsanspruch gepaart mit einer extremistischen Interpretation des Islams macht den IS-PK für neue Rekruten attraktiv. Besonders marginalisierte Gemeinschaften finden in ihm neue Identität. In Regionen Afghanistans ohne wirtschaftliche Perspektiven lockt die Gruppe mit finanziellen Anreizen. Ihr Erfolg ist auch auf ihre umfangreiche Propaganda zurückzuführen. So publiziert der IS-PK über seine Plattform al-Azaim mittlerweile auf Dari, Hindu, Tadschikisch, Türkisch, Urdu, Usbekisch und vielen weiteren Sprachen und erreicht so ein großes Rekrutierungspotential.

Expansion in WANA

Während sich seine Kampagnen von 2015 bis 2021 weitgehend auf Süd- und Zentralasien konzentrierten, expandierte der IS-PK ab 2022 immer weiter Richtung Westen, sodass seine Aktivitäten in der WANA-Region deutlich zunahmen. Dabei betrachtet er vor allem die Islamische Republik Iran als Feind. Schiitische Milizen hatten maßgeblich zum Niedergang des IS im Irak und Syrien beigetragen. Daher propagiert er über al-Azaim verstärkt die Diffamierung der aus seiner Sicht „Abtrünnigen“ (murtadun) in Iran und verunglimpft die iranische Nähe zu Russland. Seit Ende des Kalten Krieges unterhalten Iran und Russland geostrategische Kooperationen, in erster Linie, um den Einfluss der USA in der Region einzudämmen. Ihre militärische Zusammenarbeit haben beide Länder seit den Syrien-, Ukraine- und zuletzt Nahostkonflikten ausgeweitet.

In der Einflusssphäre des IS-Ablegers am Hindukusch wird nicht selten eine Feindschaft gegenüber Russland gehegt: viele erinnern sich an das brutale Vorgehen sowjetischer Truppen während der Afghanistaninvasion (1979-1989). Tatsächlich betrachtet Moskau Afghanistan bis heute als ureigene Interessensphäre und potenzielle Landbrücke zum Indischen Ozean.

Seiner Propaganda gegen seine Feinde folgend verübte der IS-PK mehrere Anschläge in der WANA-Region: Dabei tötete er bei Angriffen in Iran 2022 und 2023 bei einer Pilgerstätte in Shiraz über ein Dutzend schiitische Gläubige. 2024 verübte er ein Doppelattentat am Grab des Befehlshabers der iranischen Quds-Einheit, Qasim Sulaimani, und ermordete über 100 Menschen. Am Folgetag reihte der IS-PK die Tat in seine Kampagne „Tötet die Götzendiener (Arabisch: muschrikun), wo immer ihr sie findet“ ein. Der Satz verweist auf einen Koranvers aus der Sure al-Tauba. Im Kontext derselben Kampagne drangen 2024 zwei seiner Kämpfer in eine Kirche in Istanbul ein und töteten einen Christen.

Außerdem werden dem IS-PK weitere Anschläge auf den Malediven, in Bangladesch, Indien, Tadschikistan und Usbekistan zugeordnet. Allein letztes Jahr konnte er über 20 Angriffe in neun WANA-Länder planen, weshalb er hier als eine der größten Terrorbedrohungen betrachtet wird. Da sich dieser Trend zu verstetigen scheint, sind Auswirkungen auf die Sicherheitslage in ganz Eurasien wahrscheinlich.

Auf dem Weg zum führenden IS-Ableger

Der IS-PK expandiert auch Richtung Europa. Vereitelte Anschläge auf den Weihnachtsmarkt in Leverkusen und den Kölner Dom 2023 sowie das Parlament in Stockholm und den Wiener Stephansdom 2024 offenbaren die Bedrohung. Der Verfassungsschutz spricht von einer „akuten Anschlagsgefahr“ in Europa, wobei die Polarisierung durch den Krieg zwischen der Hamas und Israel wie ein Katalysator wirkt. Der IS-PK versucht auf seinem Nachrichtenkanal Amaq diese Polarisierung für sich zu nutzen, so wie die Überorganisation IS es jüngst beim Attentat von Solingen gemacht hat.

Besonders auffällig ist der sogenannte TikTok-dschihad, bei dem sich Jugendliche über soziale Medien radikalisieren. Fast zwei Drittel der festgenommenen dschihadistischen Terroristen in Europa sind unter 18 Jahre alt. Einzeltäter stellen eine besondere Herausforderung dar, da sie schwer zu identifizieren sind.
Der IS-PK  hat sich zur gefährlichsten Gruppe innerhalb der IS-Bewegung entwickelt. Während andere IS-Zellen sich auf Gebietsexpansion konzentrieren, liegt sein Fokus seit 2022 auf internationale Anschläge. Besonders in der WANA-Region verfolgt er jüngst das Ziel, sich mit spektakulären Angriffen im Bereich des internationalen Terrorismus zu etablieren.

 

 

 

Christoph Leonhardt ist Leiter von Okzident-Orient und stellv. Geschäftsführer von Middle East Minds. Nach seinem Studium in Berlin und Beirut hat er an der Universität der Bundeswehr München über paramilitärische Gruppen im Syrienkrieg promoviert. Er ist Autor von „Religion und Gewalt in Syrien. Legitimierung und Mobilisierung unter der Assad-...
Muska Haqiqat ist Doktorandin im Fachbereich Sprachen und Kulturen der islamischen Welt an der Universität zu Köln. Sie ist Mitherausgeberin von „Genderperspektiven auf Afghanistan (Islam & Gender)“ und publiziert Lernwörterbücher für die Sprache Pashtu.
Redigiert von Hannah Jagemast, Sören Lembke