15.01.2025
Bruch mit orientalistischen Mythen zu Despotismus und Rückständigkeit
Bilder aus der WANA-Region zeigen die lokale kulturelle und historische Vielfalt. Fotos: Vanessa Barisch & Claire DT
Bilder aus der WANA-Region zeigen die lokale kulturelle und historische Vielfalt. Fotos: Vanessa Barisch & Claire DT

Das Buch „Approaches to Political Participation in the Arab Region in the early 20th Century” bricht mit orientalistischen Vorurteilen und beleuchtet Diskussionen um demokratische Prinzipien in der WANA-Region zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Approaches to Political Participation in the Arab Region in the early 20th Century” befasst sich mit den vielfältigen politischen Erfahrungen der WANA-Region im letzten Jahrhundert. In einer Sammlung von Artikeln analysiert das Buch die historischen demokratischen Entwicklungen in Syrien, Irak, Palästina, Jordanien und Tunesien um die Jahrhundertwende. Dabei hebt es besonders die zentralen Anliegen vieler politischer Bewegungen in Westasien und Nordafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervor: den Wunsch nach Demokratie und eine authentische Vertretung des Willens der Bürger:innen. Darüber hinaus untersucht es politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umwälzungen, die die Region nachhaltig geprägt haben.

Mit einer detaillierten Analyse auf der Grundlage historischer Belege räumt das Buch mit vereinfachenden orientalistischen Narrativen von Rückständigkeit und Tyrannei auf. Somit fordert es sowohl eurozentrische Vorstellungen von Demokratie als auch traditionelle orientalistische Vorurteile gegenüber der WANA-Region heraus. Das Werk bietet eine umfassende und nuancierte historische Perspektive auf eine entscheidende Epoche, die von wichtigen Ereignissen geprägt war: dem Untergang des Osmanischen Reiches, dem europäischen Kolonialismus und der Siedlerkolonisierung Palästinas.

Ein kollektives Werk über demokratische Meilensteine

Ausgangspunkt des Buches war die gleichnamige Konferenz, die im Juni 2022 am Französischen Institut für den Nahen Osten (Ifpo) in Amman, Jordanien, stattfand. Abdel Qader Amer, Abdul-Hameed Al-Kayyali und Nora Lafi sind die Herausgeber des Sammelbandes, zu dem acht Autor:innen – vorwiegend aus der WANA-Region – Beiträge schrieben. Das Buch erschien im Frühjahr 2024 in Amman auf Arabisch mit Förderung des Berliner Forschungszentrums Zentrum Moderner Orient (ZMO). In acht Kapiteln konzentrieren sich Nora Lafi, Muhammad Muthafar al-Adhami, Ahlem Hajaji, Abd al-Majid al-Shamaq, Muhammad al-Arnaut, Habib al- Kozdhoughli, Falestine Naïli und Khaled Bashir auf bedeutende Momente und Zeitabschnitte, die den Wunsch der lokalen Bevölkerung nach politischen Reformen aufzeigen.

Die Autor:innen stützen sich bei ihrer Analyse auf verschiedene qualitative Methoden wie Interviews, ethnographische Studien und Archivarbeit und sind so in der Lage, ein Bild zu zeichnen, das sich von der klassischen, eurozentrischen Geschichtsschreibung unterscheidet. Die demokratischen Bestrebungen der Menschen werden so in den Vordergrund gerückt – Bestrebungen, die von den Kolonialmächten im Zuge ihrer imperialistischen Unternehmungen und unter dem Vorwand von Schutz, Modernität und Modernisierung gezielt unterdrückt wurden.

Leser:innen können durch das Mosaik verschiedener Stimmen und Erfahrungen die gemeinsame Hoffnung der sich als arabisch definierenden Bevölkerung auf die Einführung von Demokratie in der Region nachvollziehen. Mit dem Begriff „Araber:innen“ beziehen sich die Autor:innen auf die lokale Bevölkerung , die sich aufgrund ihrer religiösen Identität von der osmanischen Herrschaft abgrenzen wollte, was zu der sogenannten arabische Renaissance (nahḍa) führte. Diese Periode der intellektuellen, sozialen und politischen Veränderungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war von einem wachsenden Bewusstsein für diese arabische Identität, einer Kritik an der osmanischen Herrschaft und dem Streben nach Selbstbestimmung und Modernisierung geprägt. Diese Prozesse trafen jedoch auf die Realitäten des Ersten Weltkriegs, was der nahḍa-Vision von einer selbstbestimmten Zukunft Einhalt gebot.

Das frühe 20. Jahrhundert – ein Wendepunkt in der Region

Das Buch beginnt mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches und veranschaulicht, wie dessen geschwächter Einfluss auf Westasien und Nordafrika einen fruchtbaren Boden für politische Experimente, Visionen und Träume schuf. Im ersten und zweiten Kapitel widmen sich Nora Lafi und Muhammad al-Arnaut den Ereignissen im Gebiet des heutigen Libyen und Syrien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Menschen nutzten die Gelegenheit des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches, um ihre politische Zukunft gemeinsam neu zu gestalten.

Eine zentrale Entwicklung dieser Zeit war das Aufkommen politischer Parteien, die sich für Reformen und eine stärkere Vertretung der Bevölkerung im Parlament einsetzten. In Syrien zeichneten sich diese neuen politischen Parteien (wie die Arabische Unabhängigkeitspartei) durch die Bestrebung aus, verschiedene Ethnien, Religionen, Hintergründe und Geschlechter einzubeziehen. Dieser politische Pluralismus ging einher mit der Einführung von Grundrechten wie der Rede- und Pressefreiheit sowie dem Schutz der Rechte von Minderheiten und Stämmen in Syrien und Jordanien. Nationalistische und Unabhängigkeitsbewegungen, wie jene unter der Führung von Faisal I. b. al-Hussein († 1933), entstanden aus der Motivation heraus, die historische Bedeutung der Region wiederzubeleben und hatten jedoch alle ihre eigene Vorstellung von der Zukunft von WANA.

Abd al-Magid al-Shanq, Falestine Naïli, and Muhammad Muthafar al-Adhami beschreiben in den darauffolgenden Kapiteln die politische Mobilisierung durch die Jungtürkische Revolution von 1908 und ihre Folgen in Jordanien, Jerusalem und dem Irak. Diese Revolution war ein Wendepunkt in der Geschichte des Osmanischen Reiches; eine Gruppe progressiver osmanischer Intellektueller und Offiziere entwarf verfassungsrechtliche Reformen und Zentralisierungsmaßnahmen mit dem Ziel der Modernisierung. Die sich als arabisch identifizierenden Provinzen wurden jedoch weitgehend aus diesen Überlegungen ausgeschlossen. Die Empörung darüber verstärkte das arabische Nationalgefühl, was zur Entstehung der nahḍa-Bewegung führte. Diese bildete die Basis für zivilgesellschaftliches Engagement; besonders Zeitungen befeuerten die nahḍa-Bewegung mit Diskussionen um Modernität, Reformbedarf und Selbstbestimmung.

Der Erste Weltkrieg und die dadurch veränderten Machtverhältnisse bremsten dieses öffentlich diskutierte neue Nationalgefühl aus. Der Völkerbund, der Vorläufer der Vereinten Nationen, legte mit dem Mandatssystem die französische und britische Kontrolle über die Region fest. Dazu teilten die französische und die britische Kolonialmacht die Region unter sich auf. Sie unterdrückten demokratische Bestrebungen der Lokalbevölkerung, indem sie lokale politische Strukturen kontrollierten und damit über deren politische Zukunft und Erfolgsaussichten entschieden. Die Macht Frankreichs und Großbritanniens nahm verschiedene Formen an, von der Abschaffung politischer Reformversuche – wie der Unterwanderung des irakischen Wahlsystems, die Muhammad Muthafar al-Adhami im Kapitel drei beschreibt — über die Förderung ausgewählter gefügiger Führer bis hin zur Verbannung politischer Hoffnungsträger wie Faisal I. b. al-Hussein, wie es Kapitel zwei beschreibt.

Das Zusammenspiel zwischen arabischen Führungspersönlichkeiten und europäischen Kolonialmächten, wie im Fall des jordanischen Prinzen Abdullah I. bin al-Hussein und dem Britischen Empire, stellt Kapitel sieben dar. Eine weitere koloniale Strategie bestand darin, sämtliche Selbstverwaltungsstrukturen zu zerstören, zum Beispiel den Gemeinderat in Jerusalem, wie Falestine Naïli in Kapitel sechs beschreibt. Darüber hinaus dokumentiert Habib Kozdhoughli in Kapitel vier, wie die französischen Kolonialherren bei Wahlen Einschüchterungstaktiken einsetzten. Die Auswirkungen dieses Kolonialsystems hielten noch lange nach der formalen Unabhängigkeit der neuen Nationalstaaten an und prägten die künftige politische Landschaft der Region nachhaltig.

Ein wichtiger Beitrag zur Geschichtsschreibung der WANA-Region

Approaches to Political Participation in the Arab Region in the early 20th Century“ dekonstruiert eurozentristische Mythen über Rückständigkeit und Tyrannei der WANA-Region und plädiert überzeugend für eine Geschichtsschreibung, die das Politikverständnis der Menschen dieser Zeit in den Mittelpunkt stellt und diese damit als politisch mündige Subjekte behandelt. Das Buch bettet die politischen Erfahrungen der WANA-Region in einen weltgeschichtlichen Kontext ein und leistet damit einen bedeutenden Beitrag zur Geschichtsschreibung der Region.

Abdel Qader Amer, Abdul Hameed El Kayyali und Nora Lafi (Hrsg.), taʾammulāt ḥawla al-mushāraka as-siyāsiyya fī al-minṭaqa al-ʿarabiyya maṭlaʿ al-qarn al-ʿishrīn [Approaches to Political Participation in the Arab Region in the early 20th Century]. al-ān nāshirūn wa-muwazziʿūn, Amman, 2024, 224 Seiten.

 

 

Cyrine Kortas ist Juniorprofessorin für englische Literatur an der Universität von Gabes, Tunesien. Sie ist zudem Mitglied einer Forschungsgruppe an der Fakultät für Kunst und Geisteswissenschaften in Sfax. Ihre Forschungsinteressen umfassen Lawrentian Studies, vergleichende Literaturwissenschaft, Feminismus und Gender Studies.
Redigiert von Vanessa Barisch, Sören Lembke, Lotta Stokke
Übersetzt von Vanessa Barisch