Nangyalai Noori Nezami reflektiert über Resilienz und Widrigkeiten im kriegsgebeutelten Afghanistan. Und über Flucht und Hoffnung, Angesichts von Verlust und Diskriminierung.
Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.
In Afghanistan sind Generationen mit dem Krieg aufgewachsen. Der Krieg ist ein ständiger Begleiter. Die Luft nach Explosionen und Selbstmordattentaten ist erfüllt vom Geruch von Rauch und Schießpulver, und es gibt kaum jemanden, der nicht einen geliebten Menschen in diesen Konflikten verloren hat. Neben dem Verlust geliebter Menschen hat der über vierzig Jahre andauernde Krieg Tausende von Verletzten und Behinderten hinterlassen. Auch ich zähle zu den Opfern der Relikte aus den Kämpfen der 1990er-Jahren.
Vor genau 22 Jahren versank mein Leben in Dunkelheit. Als ich in kindlichen Spielen vertieft war, raubte die Explosion einer versteckten Mine das Sehvermögen eines meiner Augen. Diese Mine war ein Überbleibsel des Krieges. Mein Vater brachte mich zu einem Arzt in unserem Dorf in der Provinz Parwan. Aufgrund mangelnder medizinischer Ausstattung hat der Arzt ohne chirurgische Instrumente versucht, die Minensplitter aus meinem Auge zu entfernen, wodurch ich auch das Sehvermögen meines anderen Auges verlor.
Viele waren der Ansicht, dass ich eine Last für die Gesellschaft werden würde und keinen bedeutenden oder gewöhnlichen Platz in der menschlichen Welt einnehmen könnte, unfähig, ein Leben mit Zweck und Perspektive wie andere zu führen.
Die Kurzsichtigkeit und die Diskriminierungen anderer entfachten meine Widerstandsfähigkeit, Entschlossenheit und meinen Mut. Bewusst über die Vorurteile und niedrigen Erwartungen, die andere für meine Zukunft hatten, bemühte ich mich, diese Einschränkungen abzuschütteln und entschlossene Schritte in Richtung einer erfüllenden Zukunft zu unternehmen. Ich gab mich selbst nicht auf. Ich lernte das Lesen der Brailleschrift, schloss die Schule ab und gründete ein Bildungszentrum, in dem sowohl Jungen als auch Mädchen bis zur erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021 Bildung genießen durften.
Zugleich war ich 11 Jahre in verschiedenen Medien als Journalist, Sprecher und Produzent von politischen und sozialen Programmen in der Provinz Parwan tätig. Gesellschaftliche Missstände im Bildungssektor thematisierend, führte meine Arbeit dazu, dass ich Drohungen von der lokalen Regierung erhielt.
Die Flucht nach dem Fall der Republik
Vor etwa drei Jahren bestand ich die Aufnahmeprüfung an der Universität Kabul für ein Studium der Politik- und Rechtswissenschaften. Aber mit dem Fall der Republik musste ich über Nacht das Land verlassen. Mit meinem jüngeren Bruder verbrachte ich etwa 17 Monate im Iran unter prekären Bedingungen. Die Ungewissheit über die Zukunft, abgelaufene Aufenthaltstitel, finanzielle Unsicherheiten und die Gefahr der Abschiebung nach Afghanistan sorgten für großen psychischen Druck.
Dann kam die Wende: Vor einem Monat erreichte ich Paris. Hier beginne ich mein Leben von Neuem, lerne die Sprache, bilde mich weiter – wie ein Kind, das gerade zum ersten Mal die Schule betritt. Sicher, ich habe nun physische Sicherheit und genug zu essen, doch die seelische Sicherheit fehlt mir noch. Der Zusammenbruch der Republik hat meine lang gehegten Träume verschlungen.
Obwohl die Menschen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren keinen Frieden kannten und das Land täglich Zeuge von Kämpfen, Bombenanschlägen und Selbstmordattentaten war, hielten wir trotz aller Angst und des entstandenen Schreckens durch. Trotz aller Unsicherheit hofften die Menschen auf Frieden und eine Verbesserung der Situation im Land.
Doch mit der Rückkehr der Taliban hat sich die Tragödie fortgesetzt. Die Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre wurden zunichtegemacht, die Verfassung aufgehoben und Frauen wurden ihrer grundlegendsten Rechte beraubt. Gleichzeitig hat der Zusammenbruch nicht nur die Grundlage der Meinungsfreiheit und der freien Medienarbeit aus dem Land beseitigt, sondern das Leben für kritische Journalist:innen und Medienschaffende so schwierig gemacht, dass eine beachtliche Anzahl der Verfechter:innen der Meinungsfreiheit gezwungen war, das Land zu verlassen.
Darüber hinaus sind Menschen mit Behinderungen in Afghanistan von der aktuellen Krise stark betroffen. Obwohl die Taliban behaupten, dass sie im Vergleich zu ihrer ersten Herrschaftsperiode Mäßigung gegenüber marginalisierten Teilen der afghanischen Bevölkerung walten lassen, ist dies bisher nicht bestätigt. Vor allem die geschlechterspezifische Arbeit von nationalen und internationalen Organisationen zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen in Afghanistan stößt auf Einschränkungen. Frauen, die in den letzten zwanzig Jahren unter großen Schwierigkeiten Hindernisse überwunden hatten und gerade dabei waren, einen Platz in der Gesellschaft zu finden sind nun erneut an den Rand gedrängt.
Aber auch in Europa und Nordamerika, wo viele nach der erneuten Machtübernahme der Taliban in der Hoffnung auf ein „besseres Leben“ geflohen sind, werden Geflüchtete mit Behinderungen oft ignoriert. In Ihre Begabungen wird kein Vertrauen gesetzt.
Hoffnung ist ein goldenes Gefühl
Manchmal sind Sorgen wie ein Sturm, manchmal sind es Ängste, deren Ursprung unklar ist, und manchmal sind es Sehnsüchte, die einen fast zum Weinen bringen. In der Literatur heißt es, dass ohne Schmerz und Leid die Freude und die Erleichterung weniger wertvoll sind. Aber manchmal ist es fast schon unerträglich, innere Wunden mit sich allein auszumachen, von denen außer einem selbst niemand weiß, wann und wie sie entstanden sind. Manchmal bringt allein die Erinnerung an vergangene Momente eine bittersüße Empfindung, die das Herz erfrischt. Aber der Schmerz kehrt zurück, denn er hat tiefe Wurzeln geschlagen und besteht fort.
Interessanterweise, trotz all dieser Veränderungen, zwischen Verlust und Neuanfang, und vielleicht der Abwesenheit eines Weges oder dessen, was man sich wünscht, gibt es immer noch die Hoffnung und ständige Inspirationen, die man als inneres Urvertrauen bezeichnen könnte. Es ist schön, in einer Welt voller Unruhen ein solches ruhiges und hoffnungsvolles Herz zu haben. Da das Herz göttlicher Natur ist, sind auch seine Inspirationen und Emotionen nicht frei von Weisheit.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.