10.10.2022
Leaving Kabul – ein Jahr Exil
Blick auf die Hügel Kabuls. Foto: Mohammad Husaini (Pexels)
Blick auf die Hügel Kabuls. Foto: Mohammad Husaini (Pexels)

Verwirrung, Unsicherheit, Angst und Hoffnungslosigkeit. Atiq Rahimi erzählt aus dem Exil von den furchtbaren Ereignissen vor und nach dem Fall Kabuls. Er fordert von der ehemaligen afghanischen Führung Rechenschaft ein.

Kabul, die Hauptstadt Afghanistans, fiel am 15. August 2021 an die Taliban. Und mit ihr das ganze Land. In den letzten Wochen und Monaten vor diesem dunklen Tag waren die Menschen in Kabul verwirrt. Sie fragten sich, welche Auswirkungen die innerafghanischen Friedensverhandlungen und der schnell näher rückende Termin für den vollständigen Abzug der US- und NATO-Truppen haben würden. Sowohl die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban im Jahr 2020 als auch die anschließenden innerafghanischen Verhandlungen, die bis Mitte 2021 andauerten, fanden hinter verschlossenen Türen in Doha, Katar, statt.

Wir, die afghanischen Bürger:innen, sahen auf den Fernsehbildschirmen nur die furchterregenden Gesichter der Taliban-Führer mit ihren finsteren Blicken, die mit den Vertreter:innen der USA und den Verhandlungsführern der afghanischen Regierung sprachen. Von diesen so genannten „Friedensverhandlungen“, die dem afghanischen Volk eine sichere Zukunft garantieren sollten, war nichts zu erfahren.

Während der innerafghanischen Verhandlungen nahmen Taliban-Aufständische prominente Aktivist:innen der Zivilgesellschaft, Menschenrechtsverteidiger:innen und Journalist:innen ins Visier, die eine Anti-Taliban-Haltung hatten. Mindestens 14 Aktivist:innen und Journalist:innen wurden erschossen.  Die afghanische Zivilgesellschaft und die Interessenvertretungen, die nur allzu gut mit den massiven Menschenrechtsverletzungen während der ersten Taliban-Herrschaft (1996-2001) vertraut waren, forderten eine integrative Regierung, den Schutz der Frauen- und Menschenrechte sowie den Rechten von Minderheiten und die Bewahrung der Errungenschaften der vergangenen zwei Jahrzehnte. Keines dieser Anliegen wurde jedoch erhört.

Gerüchte und Befürchtungen

Noch Wochen vor dem 15. August herrschte in Kabul trotz Angst und Verwirrung reges Treiben in den Cafés und auf den Basaren. Auch ich sah meine Freund:innen fast jeden Abend nach der Arbeit in Cafés und Restaurants. Wir waren besorgt über die Situation und waren uns einig darüber, dass wir alle auswandern sollten. Berichten zufolge hatten die Taliban große Städte Afghanistans wie Kabul, Herat, Mazar, Kandahar und Jalalabad umzingelt, und Kabul könnte in den nächsten Monaten fallen.

Zu dieser Zeit gab es mehr und mehr private Zusammenkünfte; alle, die sich der Situation bewusst waren, wollten diese schreckliche Zeit nicht allein durchstehen. In Gesprächen mit Freund:innen ging es meist um die Veränderungen auf dem Schlachtfeld, den Vormarsch der Taliban auf die Städte und verschiedene Szenarien des möglichen Widerstands. Wir alle befürchteten einen Bürgerkrieg.

Viele meiner Freund:innen, die in der Politik tätig waren, vermuteten, dass Präsident Ashraf Ghani die Regierung und alle ihre Institutionen an die Taliban übergeben würde, weil er ethnisch demselben Stamm angehört wie die Taliban-Führer. Tatsächlich hat Ghani während seiner zwei Amtszeiten als Präsident eine starke Ethnisierung der afghanischen Politik betrieben, während er alle Macht in seinen Händen konzentrierte. Diese Vermutung bewahrheitete sich am 15. August 2021, als Ghani feige aus dem Land floh und die Taliban die Macht in Kabul übernahmen.

Der Fall von Kabul

15. August 2021 – Meine Kolleg:innen und ich kamen in das Büro einer nationalen Nichtregierungsorganisation (NGO), für die wir arbeiteten. Während der Mittagspause sprachen wir darüber, wie Großstädte wie Mazar-e-Sharif im Norden, Herat im Westen und Kandahar im Süden in der vergangenen Woche eine nach der anderen von den Taliban eingenommen wurden. Wir waren alle sehr beunruhigt und besorgt. Es bestand jedoch immer noch die Hoffnung, dass Kabul aufgrund der großen Zahl afghanischer und US-amerikanischer Truppen in der Stadt Widerstand leisten würde.

Währenddessen verbreiteten sich in den sozialen Medien Gerüchte über den Einzug der Taliban in die Stadt. Wir waren alle erschrocken und bestürzt. Mein Kollege und ich nahmen unsere Arbeitsunterlagen mit und machten uns auf den Heimweg. Als wir am frisch renovierten Dar al-Aman-Palast ankamen, bemerkten wir, dass junge Soldaten, die anscheinend gerade aus dem Krieg zurückgekehrt waren, in aller Eile mit ihren Uniformen und Militärfahrzeugen eines der großen Armeelager hinter dem Palast betraten, um ihre Waffen abzugeben. Zur gleichen Zeit verließ eine andere Gruppe von Soldaten in Zivilkleidung die Garnison. Es war eine totale Kapitulation der afghanischen Armee.

Dann sahen wir einen Humvee der Armee am Straßenrand parken. Eine kleine Einheit der Armee war dabei, eines ihrer Maschinengewehre in einen Privatwagen umzuladen. Nachdem wir diese Szenen gesehen hatten, verloren wir alle die Hoffnung. Wir erkannten, dass die afghanische Armee und die Sicherheitskräfte in kürzester Zeit zerfielen und dass Kabul jeden Moment in die Hände der Taliban fallen konnte.

Kabul im Jahr 2020. Foto: Atiq Rahimi

An diesem Tag floh Präsident Ashraf Ghani aus dem Land, und am Abend meldeten alle Nachrichtenagenturen den Einzug von Taliban-Kräften in den Präsidentenpalast.

Die afghanische Regierung verfügte über alle notwendigen Mittel und internationale Unterstützung, um zu überleben, aber Ghani und sein korruptes System konnten die Situation nicht kontrollieren. Sein Vermächtnis ist der dokumentierte Tod von 45.000 afghanischen Sicherheitskräften in der ersten Amtszeit seiner Präsidentschaft und die systematische Korruption, die die Regierungsführung lähmte. Mit dem ihm vorgeworfenen Wahlbetrug hat er das Vertrauen der Menschen in demokratische Prozesse erschüttert. Seine Politik der ethnischen Zugehörigkeit zerstörte die Toleranz, die sich die Menschen in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten so hart erarbeitet hatten.

Als die US- und NATO-Truppen Afghanistan verließen, war es die Aufgabe der Führung des Landes, die Interessen der Bevölkerung zu schützen. Stattdessen flohen sie auf jämmerliche Weise aus dem Land und ließen die lokalen Kräfte, die in ihren Gebieten gegen die Taliban kämpften, im Stich. Am Ende lieferten Ghani und sein korrupter Apparat das afghanische Volk an eine Terrorgruppe aus.

Der Evakuierungsprozess

Unmittelbar nach dem Fall Kabuls begann mit Hochdruck die Evakuierung. Die USA und die NATO wollten ihre lokalen Partner und Verbündeten schnell aus Afghanistan abziehen. Tag und Nacht dröhnten Militärflugzeuge über den Himmel von Kabul.

In den ersten Tagen herrschte in der Stadt ein seltsames Gefühl der Angst und Verzweiflung. Mein Bruder und ich hatten jahrelang im Rahmen von Entwicklungsprojekten mit Ausländern zusammengearbeitet, und meine Schwester war Journalistin. Wir waren nicht sicher. Deshalb koordinierten wir uns mit unseren Kolleg:innen und Freund:innen außerhalb  Afghanistans, um so schnell wie möglich auf die Evakuierungsliste zu kommen. Tausende von Menschen versuchten verzweifelt, über den Flughafen von Kabul aus Afghanistan zu fliehen.

Militärflüge während des Evakuierungsprozesses im August 2021. Foto: Atiq Rahimi

Nach fast zwei Wochen wurde ich endlich auf die Evakuierungsliste gesetzt und musste mich auf den Weg zum Flughafen machen. Als ich das Tor des Flughafens erreichte, wurde mir das Chaos bewusst, das dort herrschte: Tausende von Menschen, darunter Frauen, Männer und Kinder, standen vor den Toren des Flughafens Schlange. Hunderte von Menschen schliefen auf den Feldern in der Nähe des Flughafens und warteten darauf, hineinzukommen.

Drei Stunden lang folgte ich einer Straße, die zu den NATO-Truppen führte; ich war erschöpft, aber es gab keine Möglichkeit mehr umzukehren. Es herrschte pures Chaos und alle Menschen waren zusammengepfercht. Am Ende der Straße entdeckte ich einen flachen, schlammigen Fluss, der die Menschen von den ausländischen Streitkräften trennte und den jede:r durchqueren musste, um die eigenen Papiere kontrollieren zu lassen. Nachdem sie meine Papiere überprüft hatten, brachten mich die ausländischen Truppen dort hinaus. Ganz nass und schlammig lehnte ich mich an eine Mauer und wartete auf die nächste Etappe. Ein paar Stunden später befand ich mich mit anderen Evakuierten in einem Militärflugzeug. Mir wurde in diesem Moment das erste Mal bewusst, dass ich gezwungen war mein Land und damit auch Kabul nur mit meinem Rucksack zu verlassen

Am nächsten Tag, als ich sicher ein Geflüchtetenlager erreichte, griff ein Selbstmordattentäter dasselbe Tor und denselben schlammigen Fluss an, den ich einen Tag zuvor überquert hatte. Über einhundert Menschen wurden getötet. Nach diesem Vorfall wurde der Evakuierungsprozess aus Kabul gestoppt. Die Erinnerung an den Fluss und die anschließende Explosion bleibt ein Albtraum für alle, die ihn überquert haben.

In den folgenden Wochen lebte ich mit etwa zweitausend anderen Afghan:innen in einem der Flüchtlingslager in den Niederlanden. Viele standen unter Schock, auch ich war sehr ängstlich und machte mir Sorgen um meine Familie. Glücklicherweise wurde der Evakuierungsprozess von Mazar-e-Sharif im Norden wieder aufgenommen. Meine Familie stand auf der Evakuierungsliste und musste sich auf den Weg nach Mazar machen. Nach ein paar Wochen wurden auch sie evakuiert.

Heute lebe ich allein in einer Stadt in der Nähe von Amsterdam, während meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder in ein anderes Land gebracht wurden. Wie Tausende andere Afghan:innen, die aus ihrem Heimatland fliehen mussten, durchlaufe ich einen Eingewöhnungsprozess und versuche, hier ein neues Leben zu beginnen. Die große Trauer über den Verlust meines Landes und des Lebens, das wir uns in Kabul aufgebaut hatten, ist immer noch in mir. Ich denke, diese Trauer wird immer bei all jenen bleiben, die Afghanistan verlassen haben und keine Chance mehr auf Rückkehr haben.

Nächte in einem provisorischen Flüchtlingslager in den Niederlanden im September 2021. Foto: Atiq Rahimi

Die zweite Taliban-Herrschaft

Ein Jahr ist vergangen, seit die Taliban die Macht in Kabul übernommen haben. In diesem einen Jahr haben sich alle unsere Befürchtungen über die Rückkehr der Taliban bewahrheitet. Sie haben sich in keiner Weise verändert, im Gegenteil, ihr Vorgehen ist sogar noch brutaler und gewalttätiger geworden.

Die größten Verlierer der Rückkehr der Taliban an die Macht sind die afghanischen Jugendlichen (etwa 63,7 Prozent der afghanischen Bevölkerung), die all ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft verloren haben, sowie die afghanischen Frauen und Mädchen, denen ihre Grundrechte verweigert werden. Alle Errungenschaften der letzten 20 Jahre, in die die Welt viel investiert hatte, wurden in nur wenigen Wochen zunichte gemacht.

 

 

Atiq Rahimi ist aus Afghanistan geflüchtet und lebt in den Niederlanden. Fünf Jahre hat er vor Ort in der Forschung und als Journalist gearbeitet. Er interessiert sich für Geschichtsforschung und Fotografie.
Redigiert von Maximilian Menges, Oskar Kveton
Übersetzt von Maximilian Menges