22.08.2021
„Ich bin nur noch ein Körper ohne Seele“: Stimmen aus Kabul
Afghanistan-Solidaritäts-Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin am 22.08.2021. Bild: Anna-Theresa Bachmann
Afghanistan-Solidaritäts-Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin am 22.08.2021. Bild: Anna-Theresa Bachmann

Die Taliban sind zurück. Was wird nun aus den Menschen vor Ort? dis:orient sprach mit zwei Aktivist:innen, die in Kabul feststecken.

There is also an English version of the article available.

Im Februar 2020 wurde ein sogenannter Friedensvertrag zwischen den Vereinigten Staaten unter dem damaligen Präsidenten Trump und den militant-islamistischen Taliban beschlossen. Dieser Vertrag umfasst den Truppenabzug der USA und ihrer NATO-Verbündeten, die Zusage der Taliban, keine gegen die USA gerichteten terroristischen Akteure wie Al-Qaida in Afghanistan zu dulden und in substanzielle Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung einzutreten. 

Bevor jedoch ein interner afghanischer Prozess und eine Einigung erzielt werden konnten, ließ US-Präsident Joe Biden den Mai 2021 als offizielles Abzugsdatum verlautbaren. Die internationalen Truppen verloren bei diesem Abzug keine Zeit, und innerhalb weniger Wochen fielen die großen Städte Afghanistans in die Hände der Taliban. Aussichtsreiche Perspektiven auf Widerstand bestanden nicht und die islamistische Terrororganisation schaffte es Anfang dieser Woche sogar, Kabul einzunehmen. Auch der amtierende Präsident Ashraf Ghani floh aus dem Land und das afghanische Volk wurde sich selbst überlassen. Über die dramatischen Ereignissen der vergangenen Woche sprach dis:orient mit zwei Aktivist:innen, die derzeit in der Hauptstadt festsitzen.

Afghanistan-Solidaritäts-Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin am 22.08.2021. Bild: Anna-Theresa Bachmann

Ferzaneh*, 41, Frauenrechtsaktivistin

Vor zwei Tagen fuhren wir zum Flughafen, um evakuiert zu werden. Auf dem Weg dorthin gab es drei Kontrollpunkte der Taliban. Alle hatten große Angst, von ihnen angegriffen zu werden. Ich sah die Wut und die Angst der Menschen, die zu dem Chaos auf den Straßen und am Flughafen beitrugen. Und diese Wut spiegelte sich auch auf der Seite der Taliban wider. Sie riefen den Menschen zu, dass sie ihre Brüder seien und dass sie nicht kämen, um ihnen zu schaden. Sie forderten die Menschen auf, sich zusammenzureißen und ihren Befehlen Folge zu leisten.

Jetzt sitzen wir fest und finden keine Möglichkeit mehr, zum Flughafen zu kommen. Ich habe es schon dreimal versucht, ohne Erfolg. Im Moment versuche ich mich möglichst unauffällig zu verhalten. Im Laufe der Jahre haben wir an Wahlen teilgenommen, sind aktiv geworden und haben unser Leben für diejenigen aufs Spiel gesetzt, die uns zurückgelassen haben, als ob wir nichts wert wären. Das bedeutet, dass diejenigen, die direkt bedroht sind, und diejenigen, die vorrangig versorgt werden müssen, wie Menschen mit Behinderungen, Kranke, ältere Menschen und Kinder, einfach zurückgelassen werden. Es ist unmenschlich und unverzeihlich, dass Präsident Ghani die Menschen einfach im Stich gelassen hat.

Ebenso enttäuscht bin ich über das Verhalten der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der USA, die de facto einen bedingungslosen Abzug durchgeführt haben. Das war völlig überstürzt und blauäugig. Dieselbe internationale Gemeinschaft und die Botschaften sagten, sie würden an unserer Seite stehen, an der Seite des afghanischen Volkes.

Schon im November 2020 begannen wir uns für die Unterstützung von Hilfsorganisation einzusetzen. Wir stellten damals verschiedene Szenarien vor. Aber niemand hat uns zugehört. Jetzt ist das, was wir damals beschrieben haben, eingetreten: Dass wir vielleicht Visa haben, dass wir vielleicht Geld haben, dass wir vielleicht alles haben, nur keinen Weg, um rauszukommen. Im Moment habe ich sieben Visa aus sieben Ländern. Aber ich bin nicht in der Lage, Afghanistan zu verlassen.

Wir können nicht sagen, wie unsere Zukunft aussehen wird, nur, dass wir in den Händen der Taliban sind. Wir werden sehen, welche Art von Regierung sie etablieren werden. Die Frage ist, wie ihre Politik und ihr Vorgehen aussehen werden. Es gibt Leute aus Herat, die mit ihnen zufrieden sind. Auf der anderen Seite hören wir von Menschen aus Helmand, die sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben. Wir können also nicht hundertprozentig sagen, was vor sich geht. Wir hoffen, dass sich in dieser neuen Regierung gute Leute zusammentun und die Situation verbessern.

Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin am 22.08.2021. Bild: Anna-Theresa Bachmann

Hamed*, 34, sozialer Aktivist in Kabul

Die Menschen in Kabul weinen. Man kann die Verzweiflung in ihren Gesichtern sehen. Wenn ich jemanden frage: Wie geht es dir? , lautet die Antwort: Ich bin nur noch ein Körper ohne Seele.

Nicht nur ich, sondern alle Menschen hier in Afghanistan sind verzweifelt. Sie haben das Gefühl, dass sie alles verloren haben. Sie haben ihren Ehrgeiz verloren, sie haben ihre Hoffnung verloren. Die Menschen machen sich Sorgen um ihre Zukunft und auch um die Zukunft der nachfolgenden jungen Generation.

Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit den Taliban und ihres Verhaltens in anderen Provinzen können wir ihnen wohl kaum vertrauen. Die Taliban-Führer haben oft erklärt, dass die Menschen keine Angst vor ihnen zu haben brauchen. Tatsache ist jedoch, dass ihre Kämpfer im Feld nicht immer ihre Befehle befolgen.

Die internationale Gemeinschaft hat versagt. Sie hat nichts getan. Und von nun an werden wir hier keine internationale Organisation mehr antreffen. Wenn wir die USA, die EU, Kanada und andere Länder sehen – wir nennen sie die internationale Gemeinschaft – denken wir, dass sie uns im Stich gelassen haben.

Wenn ich gewusst hätte, dass die Taliban so schnell die Macht übernehmen würden, wäre ich in das Ausland gegangen. Ich habe ein türkisches Visum, das vor ein paar Tagen abgelaufen ist. Und ich habe kein anderes Visum beantragt. Das alles habe ich nicht erwartet. Aber jetzt muss ich mein Land verlassen. Heute dachte ich: Es gibt keinen Ausweg. Die Grenzen sind geschlossen, die Botschaften sind geschlossen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Ich war schon mehrere Male in Europa und in vielen anderen Ländern. Aber früher habe ich nie auch nur eine Sekunde daran gedacht, mein Land zu verlassen, denn ich hatte Hoffnung und wollte in meinem eigenen Land bleiben. Ich wollte meine Kinder hier großziehen. Ich wollte, dass sie hier zur Schule gehen. Wir haben hier ein Haus, ich hatte hier einen Job, ich führe eine NGO, ich habe für mein Volk gearbeitet, für eine bessere Zukunft. Aber jetzt ist es wirklich schwer. Nicht nur für mich, sondern für alle. Und das liegt nicht nur an der Sicherheit, sondern auch daran, dass ich hier keine Hoffnung für meine Zukunft und für meine Kinder sehe.

 

* Namen von der Redaktion geändert.

 

 

 

 

 

Eyshan ist studierte Friedens- und Konfliktforscherin mit Fokus auf die islamische Rechtsprechung, Orientalismus und Postkolonialismus in Westasien. Beruflich ist sie beratend im Bereich politische Bildung, Kultur und Film tätig.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Johanna Luther
Übersetzt von Maximilian Menges