Der rechte Terroranschlag in Hanau ist ein Jahr her, doch noch immer fehlen Antworten auf wichtige Fragen. Antworten, auf welche besonders die Angehörigen der Opfer ein Recht haben, erörtert Cem Bozdoğan.
Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Vili-Viorel Păun, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović. Neun Menschen, die mir seit einem Jahr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Neun Menschen, die von einem Rechtsextremisten auf grausame Art getötet wurden und sich in eine lange Liste von Personen einreihen, die Opfer rechter Gewalt in Deutschland wurden.
Über den rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 zu schreiben, fällt mir nicht leicht. Nicht, weil mir die Worte fehlen. Sondern weil ich vor Wut nicht weiß, wo ich anfangen soll.
Diese Wut erinnert mich an die starke Rede von Semiya Şimşek, die Tochter von Enver Şimşek, einem der Opfer der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). 2012 hat sie auf der zentralen Gedenkfeier das Vorgehen der Behörden bei der Aufklärung der NSU-Morde kritisiert.
Von 2000 bis 2007 ermordete ein deutschlandweit organisiertes Nazi-Netzwerk neun Menschen, die auch mein Bruder, Vater oder Opa hätten sein können. Nach dem vierten NSU-Mord berief die Kripo Nürnberg eine Sonderkommission mit dem rassistischen Namen „Halbmond“ ein. Viel zu lange spekulierten die Behörden darüber, die Opfer könnten in Drogengeschäften verwickelt sein – von Rassismus war aber nicht die Rede.
Die rassistischen Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter hätten vielleicht verhindert werden können, wenn die Behörden von Anfang an nach dem Motiv „Rassismus“ ermittelt hätten. Semiya Şimşek appellierte in ihrer Rede an Politik und Justiz: „Wir haben unsere Familienangehörigen verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert.“ Acht Jahre später passiert Hanau.
Das Problem ist Behördenversagen
Auch wenn sich die NSU-Mordserie und der Anschlag in Hanau in ihrer Ausführung unterscheiden, kann man bei beiden Fällen von einer Gemeinsamkeit ausgehen: Behördenversagen. Dem Täter von Hanau wurde mehrmals eine psychische Krankheit bescheinigt, außerdem war er polizeilich bekannt, in fünf von 15 Fällen sogar als Beschuldigter. Trotzdem durfte er legal Waffen besitzen und wurde von den zuständigen Ämtern nicht genügend kontrolliert.
Ich frage mich, wie viele potenzielle Rechtsterrorist:innen noch frei herumlaufen. Denn Hanau und der NSU sind keine Einzelfälle. Auch der Mord am CDU-Politiker Walter Lübke oder der antisemitische und rassistische Anschlag in Halle von 2019, bei dem Jana Lange und Kevin Schwarzer ermordet wurden, zeigen: Deutschland hat ein Problem mit rechter Gewalt – und das nicht erst seit der NSU-Mordserie.
Es könnte auch meine Familie treffen oder Freund:innen, die nicht Teil der Dominanzgesellschaft sind. All das macht mir Angst, aber es macht mich auch wütend. Wie sich die Familien in Hanau fühlen müssen, kann ich mir gar nicht erst vorstellen.
Ein Jahr ist Hanau nun her. Und was ist seitdem passiert? Immer wieder, so auch in einer neulich erschienenen Ansprache, betont Bundeskanzlerin Merkel, Rassismus sei ein Gift für die Gesellschaft. Doch wie ist die Politik mit der Angst und der Wut der Menschen umgegangen?
Dass dieses rassistische Gift im Parlament sitzen darf, ist für Merkel keine Empörung mehr wert. Durch kleine Anfragen und Anträge versucht die AfD schon seit der aktuellen Legislaturperiode, das politische Geschehen zu lenken. In zwei Anfragen an die Bundesregierung, eine im Juni und einer Nachfrage im Juli 2020, wollte die AfD-Bundesfraktion wissen, ob der Täter von Hanau womöglich nicht aus „ideologischen“, sondern aus „Aufmerksamkeitsgründen“ den Anschlag begangen habe. Das ist ein Schlag in das Gesicht aller Opfer von Rechtsextremismus, aber besonders für die Angehörigen der Opfer in Hanau.
Die AfD versucht auch, antirassistischen und antifaschistischen Organisationen Bundesgelder zu entziehen. Vor allem die Amadeu Antonio Stiftung, die sich nicht nur lautstark für die Angehörigen in Hanau eingesetzt, sondern auch Geld für sie gesammelt hat, geriet mehrfach ins Visier der AfD und wird von der stellvertretenden Bundessprecherin Beatrix von Storch als „Stasi-Stiftung“ bezeichnet. Dass gerade von Storch, die selbst Enkelin eines Nazis ist, so etwas sagt und mit ihrer Partei eine Erinnerungskultur verhindert, ist eine Schande für ein Land, das eine große Verantwortung trägt, rechtsextremistische Taten nie wieder geschehen zu lassen.
Aber es sind nicht nur die Politiker:innen rechtsaußen, die eine lückenlose Aufklärung rechter Gewalttaten und das Gedenken behindern. Seit der Tatnacht laufen die Ermittlungen schleppend. Die Angehörigen haben offene Fragen, auf die sie immer noch keine Antworten bekommen haben. Sie konnten die Leichen ihrer Kinder erst sehr spät sehen und fühlen sich von Behörden und Politik im Stich gelassen. Hinzu kommt: Während sie trauerten, feierte das Land Karneval. Während sie für Aufklärung kämpften, führten Spuren von Rechtsextremismus zurück in die eigenen Reihen der Sicherheitsbehörden, wie im vergangenen Spätsommer bekannt wurde.
Die Angehörigen warten auf Antworten
Auch heute noch, ein Jahr nach der Tat, werfen neue Erkenntnisse immer wieder Fragen auf. Obwohl es am Tatabend schon klar war, kam erst Ende 2020 an die Öffentlichkeit, dass der Notausgang in einem der Tatorte in vorheriger Absprache mit der Polizei verschlossen war, um eine Flucht bei Razzien zu verhindern. Die Opfer waren also in eine der Shisha-Bars eingesperrt.
Viele andere Dinge bleiben bis heute ungeklärt, zum Beispiel, wieso der Täter eine Waffe besitzen durfte. Oder inwiefern der Vater des Täters, der offenbar rechtsextrem inspirierten Verschwörungstheorien anhängt, selbst mit in die Tat seines Sohnes verwickelt war. Die Angehörigen der Opfer haben eine 16-seitige Strafanzeige gegen ihn verfasst, in welcher sie ihm vorwerfen, von der Tat gewusst und bewusst nichts unternommen zu haben.
Was im vergangenen Jahr aber vor allem deutlich wurde: Ohne die Arbeit der Angehörigen wären die Ermittlungen nicht so weit, wie sie es heute sind. Armin Kurtović, der Vater von Hamza, hat in etlichen Interviews auf strukturellen Rassismus aufmerksam gemacht. Filip Goman, der Vater von Mercedes und Nachfahre eines Roma, der unter der NS-Herrschaft ermordet wurde, ging mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit. Serpil Temiz Unvar, die Mutter von Ferhat, gründete zu Ehren ihres Sohnes eines Bildungsinitiative, die gegen Rassismus vorgehen möchte. Und auch die anderen Eltern, Geschwister, Freund:innen und Angehörigen aller Opfer arbeiten unermüdlich daran, Hanau und alle rechtsextremistischen Taten ins kollektive Gedächtnis einzubrennen.
Sollte der Anschlag in Hanau jemals umfangreich aufgeklärt werden, verdanken wir das ihnen – und nicht der Polizei oder Politik.