21.02.2020
Deutsche Versprechen
„Wie sehr muss es unsere Eltern und Großeltern schmerzen, dass Deutschland sein Versprechen nicht erfüllt hat?“ Quelle: Open Source
„Wie sehr muss es unsere Eltern und Großeltern schmerzen, dass Deutschland sein Versprechen nicht erfüllt hat?“ Quelle: Open Source

Gedanken nach Hanau. Ein Kommentar.

Ich bin traurig. In den Augen meines Vaters schimmern Tränen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein recht junges Land. Nur 20 Jahre nach ihrer Gründung, 1969, reiste mein Vater nach Deutschland ein. Er kam aufgrund eines beiderseitigen Versprechens: Deutschland versprach ihm eine bessere Zukunft, und auch mein Vater versprach Deutschland eine bessere Zukunft. Seinen Teil des Versprechens hat er eingelöst: Er hat sich zum Facharbeiter ausbilden lassen, aber dabei blieb es nicht. Er hat studiert, eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen, wie man so schön sagt, und hat Deutschland in internationalen Projekten vertreten.

Es ist wahrscheinlich, dass er nicht nur aus altruistischen Motiven der Bundesrepublik gegenüber handelte, sondern ebenso aus Verantwortung für seine Familie. Aber das ist bei weißen deutschen Beamt*innen nicht anders – die meisten schlagen die berufliche Laufbahn ein, die sie für sich am sinnvollsten halten, und nicht die, die sie für das Land am wertvollsten erachten. Mein Vater hat, wie die Allermeisten, die nach Gründung der Bundesrepublik kamen, um das Land aufzubauen, sein Versprechen also nicht einfach nur erfüllt. Er hat es wirklich gut gemacht. Und immer gut gemeint. Was hat Deutschland in der Zwischenzeit gemacht?

Deutsche Diskussionen

Deutschland hat sehr lange gebraucht zu verstehen, dass die sogenannten Gastarbeiter*innen nicht mehr „zurückgehen“, sondern dass sie hier ihr Zuhause haben. (Ob Deutschland uns jemals zur Heimat werden kann, ist eine Frage, die jede*r nur für sich selbst beantworten kann.) Dann diskutierte Deutschland ausführlich darüber, unter welchen Bedingungen die „Ausländer*innen“, die „Migrant*innen“, die „Menschen mit Migrationshintergrund“, die „Muslim*innen“ hier eigentlich zuhause sein dürfen. Diese Bedingungen konnte keine*r jemals richtig definieren, das Beherrschen der deutschen Sprache und die Anerkennung des Grundgesetzes als gesellschaftlich verbindende Norm reichten jedenfalls nicht.

Zögernd erkannte Deutschland an, dass es – anscheinend blöderweise und schlicht aus Versehen – ein Einwanderungsland geworden ist – und nicht ohne sofort dazu überzugehen, sich gegen die Kritik von PoC und Schwarzen Menschen vor allem der zweiten und dritten Generation zu verwahren: Hinweise auf strukturelle Diskriminierung, auf Alltagsrassismus, auf fehlende Aufarbeitung der eigenen kolonialen Geschichte wurden nicht nur beiseite gewischt, sondern defizitären Wahrnehmungen der Kritikäußernden zugeschrieben.

So könne man das alles nicht sehen! Und überhaupt – man müsse die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen. Also diskutierte Deutschland darüber, ob es sich abschaffe, ob der Islam überhaupt integrierbar sei (dabei vergaß Deutschland, dass es in den meisten Fällen nicht über den Islam, sondern über Muslim*innen sprach, und das in abwertender und stereotypisierender Weise) und ob es wirklich so viele Geflüchtete aufnehmen könne. Das Frauenbild, das Patriarchat, ach was, die muslimischen Machos. Kanaken eben.

Dummerweise diskutierte die AfD irgendwann mit und Deutschland übersah mit Beharrlichkeit, dass es sich bei rechten und rechtsextremen Einstellungen und Handlungen nicht um ein Randphänomen, sondern um ein manifestes Problem in der Mitte seiner Gesellschaft handelte. Das Entsetzen über diese immer mal wieder aufflammende Erkenntnis währte jedes Mal nur kurz, ebenso das Entsetzen über rechtsextreme Übergriffe. Es ist eben nicht die weiße Mehrheit, die sich durch Aussprüche und Taten dieses Milieus bedroht fühlt. Es sind die „Anderen“. Und deren Gefühl der Bedrohung ist nicht so wichtig. Folgerichtig wurden auch nicht die Mecklenburgische Seenplatte und die Sächsische Schweiz zu No-Go-Areas erklärt, sondern Berlin-Neukölln.

Schmerz und Wut

Mein Vater schweigt. Er demonstriert. Er geht zu Mahnwachen. Er stellt sich dem Rassismus entgegen. Aber er klagt nicht an. Wie bei vielen der ersten Generation überwiegen Dankbarkeit und Loyalität. Die Strukturen und Machtverhältnisse, an denen die zweite und dritte Generation rüttelt, die sie anprangert, diese Strukturen und Machtverhältnisse hat die erste Generation so verinnerlicht, dass es ihr schwerfällt, sie in Frage zu stellen.

Doch wie sehr muss es unsere Eltern und Großeltern schmerzen, dass Deutschland sein Versprechen nicht erfüllt hat, dass sie nun Angst haben, um sich, um ihre Kinder und Kindeskinder. Es tut weh, das zu sehen.

Ich bin wütend. In den Augen meines Vaters schimmern Tränen.

 

 

Nushin Atmaca ist Islamwissenschaftlerin, lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet am Museum für Islamische Kunst im Bereich Diversitätsentwicklung. Berufsbegleitend studiert sie "Kulturen des Kuratorischen" an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Mit Fragen zu Repräsentation, Sichtbarkeit und gesellschaftlichen...
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Magdalena Süß, Clara Taxis