In Tunesien erstarkt der Anti-Schwarze Rassismus unter der schützenden Hand und Politik des Präsidenten. Das macht Errungenschaften der Schwarzen Bewegung zunichte, während Europa Gewalt gegen Migrant:innen und Aktivist:innen mitträgt.
Im Juli 2004 veröffentlichte das panafrikanische, französischsprachige Monatsmagazin Jeune Afrique eine Kolumne von Affet Mosbah mit dem Titel „Schwarz sein in Tunesien“ Mosbah stammt aus einer Familie von Aktivist:innen, die für die Rechte der Schwarzen kämpfen: Seine Schwester Saadia ist seit langem in Tunesien aktivistisch tätig, sein Bruder Salah ist Tunesiens berühmtester Schwarzer Sänger, der sich für die Schwarze Community einsetzt. In ihrem Artikel behandelt Mosbah das Tabu des antischwarzen Rassismus in Tunesien und schildert die alltägliche Diskriminierung, die Schwarze Tunesier:innen und Schwarze Afrikaner:innen, insbesondere Studierende, so gut kennen. Passenderweise wurde der Text kurz nach der Entscheidung der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfDB) veröffentlicht, ihren Hauptsitz vom kriegszerstörten Abidjan nach Tunis zu verlegen – ein Schritt, der Tunesiens Untrennbarkeit von Afrika signalisieren sollte. „Schwarz sein in Tunesien“ konnte als erste öffentliche Intervention zu einem der schmutzigen Geheimnisse der tunesischen Gesellschaft die Zensur des Ben-Ali-Regimes nicht umgehen. Erst mit der Revolution von 2010/2011 wurde der Artikel online lesbar.
Die Revolution ermöglichte nicht nur Zugang zu Informationen, wie die Texte von Affet Mosbah. Für Schwarze Tunesier:innen eröffnete sie auch eine neue Ära von Chancen und Risiken. Der tief in der Gesellschaft verwurzelte antischwarze Rassismus und sein unreflektierter Charakter machten eine sofortige Änderung der Situation Schwarzer Tunesier:innen und Schwarzer Afrikaner:innen [Menschen ohne Aufenthaltstitel in Tunesien, Anm. d. Red.] unmöglich: Lokale Zeitungen und Fernsehsender blieben für Schwarze Stimmen und Themen unzugänglich, viele Schwarze waren während des demokratischen Übergangs sowohl körperlichem als auch verbalem Missbrauch ausgesetzt. Das politische, soziale und rechtliche Klima nach 2011 ermöglichte Schwarzen Aktivist:innen jedoch, ihre Anliegen voranzutreiben wie nie zuvor.
Der Schwarze Aktivismus wird nicht mehr zum Schweigen gebracht
Ebenso wie die sozialen Medien zum Schauplatz eines lebhaften Diskurses über die Rechte von Schwarzen Menschen in Tunesien wurden, entstand im Rahmen der Liberalisierung der Vorschriften für zivilgesellschaftliches Engagement ein neues Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Zu Zeiten Ben Alis lehnten die Aufseher:innen Saadia Mosbahs Anträge auf Eintragung einer gemeinnützigen Organisation mehrfach mit der Begründung ab, dass Tunesien in den Augen der Behörden keine Probleme mit Rassismus hätte. Auch Anschuldigungen, sie würde ethnische Konflikte schüren, erhielt Affet Mosbahs Schwester, die später eine der wichtigsten NGOs dieses Netzwerks gründete. Die Organisation mit dem Namen M'nemty entwickelte sich rasch zu einer Säule des Schwarzen bürgerlichen Lebens. Das Gleiche gilt für eine zweite, von Maha Abdelhamid und einigen anderen Aktivist:innen gegründete Organisation namens Adam, die sich gegen Rassismus in Tunesien einsetzt.
Unter der Leitung dieser beiden unermüdlichen Frauen haben M‘nemty und Adam rassistische Diskriminierung thematisiert und in den Vordergrund gerückt, während die tunesische Übergangsdemokratie um ihren Halt kämpfte. Mit der Unterstützung der ersten Schwarzen Parlamentsabgeordneten Tunesiens (der verstorbenen Jamila Debbech-Ksiksi) verschafften sie Schwarzen Frauen eine nie dagewesene öffentliche Sichtbarkeit und machten auf die Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Klassismus hin. Die Aktivitäten der Organisationen in der tunesischen Bevölkerung waren vielfältig: sie führten Veranstaltungen und Konferenzen durch, machten Lobbyarbeit bei der Verfassungsgebenden Versammlung sowie der Versammlung der Volksvertreter und tourten mit Märschen und Reden durch den Süden Tunesiens.
In diesem Zusammenhang organisierte eine Gruppe um Abdelhamid 2014 einen Marsch durch viele der Stätten, die einst im Mittelpunkt des trans-saharischen Sklavenhandels standen. Der Marsch erstreckte sich von der Insel Djerba bis zu den Städten Zarzis, Medenine, Gabes, Gibili und Sfax und versammelte hunderte Schwarze, welche die Aufarbeitung der historischen Ungerechtigkeiten und ihrer heutigen Folgen forderten. Einen weiteren wichtigen Beitrag leisteten M'nemty und Adam in diesen Jahren für die Integration Tunesiens in internationale und transnationale Solidargemeinschaften der Schwarzen Bewegung. Dass Tunis in den Jahren 2013 und 2015 das Weltsozialforum ausrichtete, war in dieser Hinsicht entscheidend. Hier trafen Mitglieder der Schwarzen Community Tunesiens auf führende Vertreter:innen der Menschenrechtsbewegung und indigener und Schwarzer Minderheiten aus der ganzen Welt. Das Zusammenkommen führte zu belastbaren Bündnissen zwischen den Tunesier:innen und Partnern aus Brasilien, den Vereinigten Staaten und Frankreich.
Ein erster Schritt
Natürlich reichten diese Bemühungen nicht aus, um das kulturelle und gesellschaftliche Tunesien über Nacht zu verändern. Außerhalb der großen städtischen Zentren wie Tunis und Sfax wird rassistische Diskriminierung bis heute kaum als politisches Thema wahrgenommen. Ebenso haben sich die weit verbreiteten rassistischen Einstellungen im Süden des Landes – dort wo der größte Teil der Schwarze Bevölkerung lebt - noch nicht wesentlich verringert. Trotz aller Bemühungen waren M'nemty, Adam und ihre Verbündeten nicht erfolgreich darin, rassistische Diskriminierung in der Verfassung von 2014 ausdrücklich zu verbieten.
Dennoch hat die Arbeit dieser Aktivist:innen bedeutende rechtliche Früchte getragen: 2018 führte Tunesien als erstes Land der WANA-Region ein Gesetz gegen rassistische Diskriminierung ein. Ein großer Erfolg. Vor der Verabschiedung von Loi 50-2018 hatten Schwarze Afrikaner:innen und Schwarze Tunesier:innen keine rechtliche Handhabe, wenn sie ausdrücklich rassistischen Formen der Diskriminierung ausgesetzt waren - sei es am Arbeitsplatz, in der Schule oder in einer öffentlichen Einrichtung. Loi 50-2018 korrigierte nicht nur diesen eklatanten Fehler, sondern schuf die Möglichkeit, symbolische, aber unbestreitbar bedeutsame Wiedergutmachung für vergangenes Unrecht zu fordern. So konnte ein Schwarzer tunesischer Staatsbürger aus Djerba durch die Bestimmungen des Gesetzes endlich einen Teil seines Nachnamens loswerden, der aus der Versklavung seiner Familie stammte.
Auf eine Schwarze Renaissance folgt ein Backlash des Anti-Schwarzen Rassismus
Am 6. Mai dieses Jahres wurde Saadia Mosbah vom Saied-Regime verhaftet. Die Justizbehörden ermitteln gegen sie – lächerlicherweise wegen Geldwäscherei. Wie Bassem Trifi, Präsident der Tunesischen Liga für Menschenrechte feststellte, geschah dies, nachdem Mosbah in den sozialen Medien eine Reihe von Beiträgen veröffentlichte, in denen sie über ihre Rassismuserfahrungen bei ihrer Arbeit als Anwältin sprach. Außerdem berichtete sie von erlebtem Rassismus in Folge von Kais Saieds Hetze gegen Hilfsorganisationen, die Migrant:innen aus Ländern südlich der Sahara unterstützen. In einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats bezeichnete er sie als bezahlte Agenten ausländischer Mächte und „Verräter" an Tunesien. Bis Mosbah am 16. Mai einem Richter vorgeführt wurde, war sie für zehn Tage inhaftiert. Derzeit befindet sie sich in Untersuchungshaft.
Mosbah war nicht die einzige Person, die sich für die Rechte von Migrant:innen und rassifizierten Menschen einsetzte und Anfang Mai verhaftet wurde. Vier weitere Personen, die für M'nemty, den tunesischen Flüchtlingsrat und Terre d'Asile Tunisie tätig sind, wurden ebenfalls festgenommen; sogar Mosbahs Sohn hielt die Polizei kurzzeitig fest. Dies zeigt - und die rassistischen Reden von Kais Saied im Februar 2023 sagten das vorher – dass für Schwarze Tunesier:innen und Schwarze Afrikaner:innen eine neue und äußerst beunruhigende Zeit angebrochen ist. Gewalt gegen Schwarze und Migrant:innen nimmt zu, sowohl von staatlicher Seite als auch von organisierten Zivilist:innen. Und obwohl das Gesetz Loi 50-2018 vermutlich bestehen bleibt, so ist es Angriffsziel der Tunesischen Nationalistischen Partei, die behauptet, das Gesetz sei Teil der „kolonialistischen Agenda afrikanischer Migrant:innen aus Ländern südlich der Sahara, welche die demografische Zusammensetzung der tunesischen Bevölkerung verändern wollen".
Düstere Aussichten trotz breiter Mobilisierung
Aus einigen Richtungen kamen recht ermutigende Reaktionen auf diese Entwicklungen. In Tunesien haben eine Reihe von Menschenrechtsorganisationen die Verhaftung von Mosbah verurteilt - darunter das Komitee für Gerechtigkeit (Committee for Justice, CFJ), die tunesische Liga für Menschenrechte (Ligue tunisienne des droits de l'homme, or LTDH) und das tunesische Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte (Forum Tunisien pour les Droits Economiques et Sociaux, FTDES). Außerdem gewann eine breitere Mobilisierung an Dynamik, die sich gegen das harte Durchgreifen des Saied-Regimes gegen Journalist:innen, Blogger und die freie Meinungsäußerung stellt, welches durch das Dekret 54-2022 rechtlich erleichtert wurde: eine Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis für diejenigen, die wegen der Verbreitung von „Fake News" verurteilt werden. Zuletzt kam es zu einer Demonstration am 24. Mai im Zentrum von Tunis. Zwar fiel die diplomatische Reaktion auf internationaler Ebene schwach aus, doch das Büro des Hohen Kommissars der UN für Menschenrechte verurteilte die jüngste Eskalation des Saied-Regimes in einer offiziellen Erklärung .
Alles in allem ist das Klima zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts so feindselig gegenüber Schwarzen Menschen in Tunesien wie nie zuvor. Wie düster die Lage seit dem 25. Juli 2021 ist, belegt eine Debatte, die derzeit im Parlament geführt wird: Auf der einen Seite stehen zwei Abgeordnete, die eine Regelung fordern, die es erlaubt, schwarzafrikanische Migrant:innen für zwanzig Jahre als Subunternehmer:innen unter Vertrag zunehmen - zu Bedingungen, die einer Leibeigenschaft gleichkommen. Ihnen gegenüber steht die Abgeordnete Fatma Mseddi aus Sfax, stolze Verfechterin der Theorie des Großen Austauschs, die behauptet, dies sei ein Hintertürchen, um die Kolonisierung Tunesiens durch Schwarzafrikaner voranzutreiben.
Unter den Augen Europas
Unter diesen Umständen ist Europas anhaltende Unterstützung für Kais Saied, die dem Wunsch entspringt, die Überquerung des Mittelmeers einzuschränken, besonders destruktiv. Im Mittelpunkt steht nach wie vor die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Ihr „Mattei-Plan für Afrika", den sie während des Italien-Afrika-Gipfels im Januar dieses Jahres vorstellte, zielt ausdrücklich auf die Formalisierung einer Art „Pay-for-Patrol"-Systems ab, das zum Missbrauch von Schwarzen Afrikaner:innen einlädt: Investitionsströme aus Italien mit ungewissem Entwicklungswert im Austausch für die pflichtgemäße Bewachung der Meere. Zeitgleich zu Melonis Besuch im April kam es zu einer Razzia von Sicherheitskräften in der Stadt Sfax, um gegen irreguläre Schwarze Migrant:innen vorzugehen. Dies verdeutlicht die realen Auswirkungen der EU-Politik.
Indem Rom und Brüssel Saied als Partner in ihre Migrationsstrategie einbezogen haben, billigten sie stillschweigend und explizit die Ausweitung von Karthagos Kampagne gegen die tunesische Öffentlichkeit. Eine der häufigsten Begründungen des Präsidenten für die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten und die Kriminalisierung abweichender Meinungen ist schließlich die vermeintliche Notwendigkeit, Tunesien für die Tunesier:innen zu erhalten. Das bedeutet, die gleichen sogenannten Migrationswellen zu stoppen, die Europa zur großen Geißel unserer Zeit erklärt hat.
Es waren die tunesischen Justizbehörden, die in den letzten Wochen die ehemalige Präsidentin der tunesischen Organisation Terre d'Asile, die Rechtsanwältin Sonia Dahmani, den Fernsehmoderator Borhen Bsaiess und den Journalisten Mourad Zeghidi verhaftet haben. Doch es sind Europa und die Vereinigten Staaten, die diese Aktionen unterstützen oder zumindest mitunterzeichnen.
Die Folgen all dessen bekommen zunächst die Schwarzen Afrikaner:innen [Menschen ohne Aufenthaltstitel in Tunesien, Anm. d. Red.] zu spüren, aber kurz darauf auch die Schwarzen Tunesier:innen und die allgemeine Bevölkerung, wie die erwähnten Verhaftungen verdeutlichen. Der jahrhundertelange Kampf für die Rechte der Schwarzen in Tunesien, der von der Geschichte weitgehend ignoriert wurde, muss weitergeführt werden.