08.03.2023
Die Lücken der kollektiven Erinnerung müssen aufgearbeitet werden
Demonstration gegen sexuelle Belästigung in der Nähe des Tahrir-Platzes in Kairo 2013. Foto: Gigi Ibrahim, flickr.
Demonstration gegen sexuelle Belästigung in der Nähe des Tahrir-Platzes in Kairo 2013. Foto: Gigi Ibrahim, flickr.

In den Erzählungen der ägyptischen Revolution sind die Kämpfe und Erfahrungen von Frauen kaum präsent. Yasmin El-Rifae setzt sich ein, dies zu ändern. Denn: Der Kampf für Freiheit und der Kampf gegen sexuelle Gewalt sind untrennbar. Ein Portrait.

März 2023 – Knapp 12 Jahre sind seit dem Beginn der ägyptischen Revolution vergangen. Die Aufarbeitung dessen, was damals auf dem Tahrir-Platz in Kairo geschah, befindet sich jedoch erst am Anfang. Es sind mutige Aktivist:innen, Journalist:innen und unabhängige Medienplattformen, die auf kritische Lücken aufmerksam machen und auf ihren Blogs, Websites und in ihren Büchern über das berichten, was bisher verborgen schien.

Eine von ihnen ist Yasmin El-Rifae. Während der Revolution war sie Teil einer Einsatzgruppe, die sich gegen sexualisierte Gewalt gegen Frauen bei den Demonstrationen organisierte. Auf ihrem Blog und in journalistischen Texten für Zeitungen wie das ägyptische Online-Magazin Mada Masr, greift sie das Thema immer wieder auf. Vor kurzem veröffentlichte sie auch ihr erstes Buch dazu.

„Radius – A Story of Feminist Revolution“ ist eine Erzählung über die Schattenseiten der ägyptischen Revolution auf dem Tahrir-Platz – eine Sammlung dessen, was viele Frauen inmitten der Demonstrationen im Zentrum Kairos erlebten. Das Buch erzählt von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen in den Mengen der Demonstrant:innen – und der Gründung und Entwicklung von OpAntiSH, der Operation Anti-Sexual Harassment Group. El-Rifae öffnet Räume für die Geschichte jener Frauen, die in diesen Tagen 2012 für Freiheit, Selbstbestimmung und ein demokratisches Ägypten demonstrierten. Ein Portrait.

„Die Gewalt des Patriarchats ist global“

„Jeder könnte jeder sein“, beschreibt El-Rifae die Situation bei den Aufständen auf dem Tahrir-Platz in einem Interview mit BOMB Magazine. Jede Frau konnte Zeugin oder Betroffene der Gewalt sein – diesen Grundgedanken versuche sie im Buch wiederzugeben und daher weniger einzelne Biographien als den verbindenden Moment in den Blick zu nehmen.

Wenngleich vielen das Ausmaß der sexuellen Übergriffe in Ägypten keine Neuigkeit ist, so stellt die Revolution dennoch einen traurigen Höhepunkt dar. Das liegt vor allem an der Intensität der Gewalt. Oft wurden die Frauen im Gedränge von mehreren Männern umzingelt und eingekreist, geschlagen, die Klamotten vom Körper gerissen und missbraucht. El-Rifae beschreibt, dass es für sie selbst, Freund:innen und Bekannte ein großer Schock gewesen und auch geblieben ist.

Es gebe genügend Ansätze, warum es diese Gewalt, vor allem gegenüber Frauen, in Ägypten gab und gibt und wie sie im Zuge der Revolution politisiert, aber auch zum gezielten Machtinstrument des Regimes wurde. Die Frage nach dem „Wie?“ beschäftige sie jedoch mehr, als das „Warum?“, meint El-Rifae. „Wie können Menschen so etwas tun?“ (BOMB) Diese Frage sei deshalb so wichtig, weil sie dazu zwingt, sich mit der Brutalität der Übergriffe auseinanderzusetzen.

Die Thematisierung von sexualisierter Gewalt in der WANA-Region birgt immer die Gefahr rassistisch vereinnahmt zu werden und Stigmatisierung und Generalisierungen weiter zu befördern. In europäischen Diskursen wird sexualisierte Gewalt allzu oft durch religiöse und kulturelle Bezüge „erklärt“ und damit zu einem inszenierten Skandal aufgebauscht. Dieser Gedanke lässt auch El-Rifae beim Schreiben nicht los. „Das Patriarchat ist global, bis es um die arabische Welt geht. Überall verletzen Männer Frauen aufgrund von Machtsystemen, die sie privilegieren – aber wenn wir über Araber:innen oder Muslime sprechen, schneiden wir all das weg und machen es einfach zu einem Problem von Religion“, schreibt sie in einem Artikel für die amerikanische Zeitschrift The Nation. Diese Haltung werde leicht zur Waffe und richte sich gegen ganze Gesellschaften.

Bewusst versuche sie deshalb, Sensationalisierung zu vermeiden. Es sei wichtig, Gewalt so rational wie nur möglich zu beschreiben und eben nicht zu dramatisieren. Die Dramatik liege in den Schilderungen selbst. El-Rifae macht so die Erfahrungen der betroffenen Frauen sichtbar, verfügbar und anschlussfähig für feministische Kämpfe weltweit. Denn: Eine weitere, oft missachtete Folge der Kulturalisierung sexualisierter Gewalt in der WANA-Region bestehe darin, „dass wir die arabischen Frauen durch das Aussondern ihrer Kämpfe und Erfahrungen aus dem breiteren Gespräch ausschließen und damit ihre Erfahrungen für den Rest der Welt weniger zugänglich und weniger nutzbar machen – insbesondere für Frauen anderswo, die sich mit ähnlichen Problemen beschäftigen“ (The Nation).

Ihre Texte sprechen von Wehrhaftigkeit, von Organisierung, von Lernprozessen und von aktivem Handeln in Extremsituationen und im Alltag: „Ich denke, wir müssen den Einfluss, den wir aufeinander haben, ernster nehmen. Passivität funktioniert nicht. (…) Du kannst nicht einfach passiv sein.. (…) Wenn ich sage, dass wir aufmerksamer sein müssen, dann nicht nur auf der strukturellen Ebene. Es geht auch um den Umgang mit- und untereinander, im alltäglichen Leben oder bei unserer Arbeit. Es ist so eine Art, dass wir das alles die ganze Zeit abtun“ (BOMB).

Alte Problematiken bleiben auch nach Umbrüchen bestehen

Angesichts der Erfahrungen von Gewalt auf den Demonstrationen am Tahrir-Platz schlossen sich Freund:innen und Verbündete – darunter auch Yasmin El-Rifae – zur Operation Anti-Sexual Harassment Group (OpAntiSH) zusammen, um während der Demonstrationen nach Übergriffen Ausschau zu halten und aktiv einzugreifen. Was zunächst als improvisierte Gruppe aus Betroffenen und Verbündeten begann, wurde ein organisiertes Netzwerk. Die Zahl der Freiwilligen stieg auf über hundert an. Sie entwickelten ein Verständnis der Menge und Taktiken, wie betroffene Frauen auch aus dichten Menschengedränge rausgeholt werden können. Im weiteren Verlauf der Revolution bauten sie eine Erstversorgung auf: Einsatzteams, Kontakt zu Ärzt:innen, sie nutzten OP-Räume und Fluchtautos.

Das Besondere an OpAntiSH war ihr feministisches und revolutionäres Selbstverständnis. Es habe auch andere aktivistische Gruppen gegeben, berichtet El-Rifae, diese trugen jedoch einen anderen Grundgedanken mit sich wie beispielsweise die Idee separater Protestbereiche für Frauen und Männer. Es spielte jedoch keine Rolle, wo die Frauen demonstrierten, was sie dabei trugen oder was genau sie machten. Viel mehr war es das Ziel von OpAntiSH, die Revolution zu einem Aufstand für alle zu machen. Zu einem Kampf, für das was die vorherigen Jahre auf der Strecke blieb.

Bei den Demonstrationen ging es zwar um politische Gleichberechtigung, allerdings in einem körperlichen Kampf auf Kosten von ägyptischen Frauen. Das sichtbar zu machen gelingt Yasmin El-Rifae in ihren Artikeln und Blogposts. Viele Aktivist:innen der Revolution schwiegen jedoch zu dem, was damals passierte und wollen das Bild der friedlich demonstrierenden Menschenmassen auf dem Tahrir-Platz nicht zerstören. Natürlich war auch die Revolution nicht befreit von medialer Agenda. Das Bild eines sich aus der Mubarak-Ära befreienden Volkes war zu schön, um es durch die Berichterstattung über die Unmengen an sexuellen Übergriffen zu zerstören.

Differenzierung tut hier not: Die Beschäftigung mit den Übergriffen gegenüber Frauen ist wichtig und unverzichtbar. Und sie revidiert nicht generell den mutigen Einsatz der ägyptischen Demonstrant:innen, welche für den politischen Wandel eingestanden haben. Viel mehr wird nur sichtbar, dass alte Problematiken nicht einfach im Zuge neuer Umbrüche schwinden.

„Es braucht nicht nur einen Präsidentenwechsel – sondern einen gesellschaftlichen Wandel“

2013 drückt sie auf ihrem Blog Cairo, again ihre Hoffnung aus, dass die Revolution nicht nur die Forderung nach einem Präsidentenwechsel war und ist, sondern nach einem umfassenderen und komplexeren gesellschaftlichen Wandel: „Ich bin mir sicher, dass der Kampf gegen sexuelle Gewalt und Frauenfeindlichkeit im Mittelpunkt des größeren Freiheitskampfes stehen muss. Es kann nicht für später aufgeschoben werden, es kann nicht totgeschwiegen und ignoriert werden. Das werden wir sicher nicht zulassen.“

Was El-Rifae 2013 vielleicht noch im Zuge der Revolutions-Euphorie verfasste, bleibt bis heute in den Gesprächen mit ihr und in ihren Texten sichtbar. Aber da ist auch Frustration und Ernüchterung. Ihr Buch entstand zwischen New York und Kairo – und London, wo El-Rifae mittlerweile lebt. Dass ihre Erfahrungen auch ihre Beziehung zu Kairo beeinflusst haben, ist nicht wirklich überraschend. Eindrücklich schildert sie:

„Meine Beziehung zu Kairo hat sich in diesen Jahren nach der Revolution dutzende Male verändert, und das liegt daran, dass sich die Stadt verändert hat. Ich bleibe – ich benutze nie das Wort spirituell, niemals, aber … es ist das richtige Wort dafür. Ich bleibe mit bestimmten Gemeinschaften dort im Geiste verbunden, Gemeinschaften, die sehr stark von dieser Geschichte und ihren Nachwirkungen geprägt sind, davon, wie schwierig es ist, sinnvolle politische oder künstlerische Arbeit zu leisten.
Ich verließ Kairo mit dem Gefühl, unbedingt weg zu müssen. Das hatte viele Gründe, einschließlich der Möglichkeit, mir die Ausbildung meiner Kinder leisten zu können. Aber meine eigene Beziehung zu dem Ort hat mich auch dazu gebracht, dorthin zu gehen. Ich weiß nicht, wie die Dinge in diesem Kapitel aussehen werden und wie oft ich wiederkommen werde. Ich fange gerade an, darüber nachzudenken und erlaube mir zu spüren, wie sich das anfühlt, wie sich diese Distanz jetzt anfühlt“ (BOMB).

Wenngleich die Revolution für viele als gescheitert erklärt ist und sexualisierte Gewalt nach wie vor eine Herausforderung, so haben Netzwerke wie OpAntiSH und kritische Stimmen wie El-Rifaes doch Betroffenen Gehör verschafft – und dadurch Diskurse angestoßen, die weiterwirken und vor allem für die Zukunft Ägyptens wertvoll sind. Aktuell bemüht sich Yasmin El-Rifae, um eine Übersetzung ihres Buches auf Arabisch. Ihr Ziel ist, dass der Bericht „für jeden an dem Ort lesbar und zugänglich ist, an dem er geschah“ (BOMB).

Die Anerkennung der Realität

El-Rifae bekommt es hin, zu schreiben und zu sagen, was vielen von uns im Kopf schwirrt, die zweigeteilt in einem westlichen Kontext leben, aber ein Teil ihres Herzens in der WANA-Region liegen haben. Die mit einem lachenden und einem weinenden Auge Entwicklungen wie die ägyptische Revolution beobachten: Treibende Kräfte wie die mutigen Demonstrant:innen, die online gepostet, getwittert und auf den Straßen gerufen und revoltiert haben, lösen Freude und Euphorie aus. Gleichzeitig verändern die Schattenseiten aber unseren Bezug zu jenem Ort, den wir allzu lange mit so viel Wärme und Liebe verbunden haben.

Immer öfter wird erzählt, welche Gewalt es gegeben hat und immer noch gibt. Die Zusammenfassung der Demonstrationen und Aufstände in der WANA-Region, als auch die Romantisierung dieser als „Arabischen Frühling“ lässt ihre Opfer vergessen. Es problematisiert die immer noch herrschenden Unterdrückungen und Machthierarchien nicht und verdrängt eine Aufarbeitung, der physischen und psychischen Übergriffe – insbesondere gegenüber Frauen. Die kollektive Erinnerung an die Aufstände muss immer wieder ergänzt oder korrigiert werden und dafür braucht es Frauen wie Yasmin El-Rifae, Zusammenschlüsse wie OpAntiSH und Verbündete, die eben nicht passiv bleiben.

 

Alle Zitate sind von der Autorin aus dem Englischen übersetzt.

 

 

 

Iman hat in Hannover im Master Landschaftsarchitektur studiert und beschäftigt sich insbesondere mit sozialen und gesellschaftlichen Fragen innerhalb der Stadtplanung. Privat interessiert sie sich vor allem für Migration, Architektur, Kunst und „die Stadt von morgen“.  In Bezug auf ihre zweite Heimat Kairo befasst sie sich vor allem mit...
Redigiert von Rebecca Spittel, Regina Gennrich