08.03.2019
„Wer andere Frauen unterdrückt, kann keine Feministin sein“ – ein Interview mit der ägyptischen Künstlerin Deena Mohamed
Bildquelle: qaherathesuperhero.com
Bildquelle: qaherathesuperhero.com

Qahera ist eine ägyptische Hijabi-Comic-Heldin, die ihre Superkräfte nutzt, um auf soziale Probleme aufmerksam zu machen. Ihre Erfinderin Deena Mohamed, eine 24-jährige Künstlerin und Grafikdesignerin, hat mit Alsharq über ihre Erfahrung mit dem Online Comic, den Charakter von Qahera, und über ihre muslimisch feministische Botschaft gesprochen.

Dieser Text ist Teil der Serie Aufgehorcht. Darin stellen wir euch anlässlich des Internationalen Weltfrauentags am 8. März Einzelpersonen, Initiativen und NGOs aus der WANA-Region vor, die an den bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern rütteln. Alle Texte der Serie findet ihr hier.

Willkommen zurück! Du hast vor Kurzem den ersten Comic seit 2015 veröffentlicht. Warum hat Qaheras Comeback so lange gedauert? Was hat dich zum Neuanfang inspiriert?

Ich hatte nie vor eine Pause zu machen, aber seit 2015 habe ich nur prokrastiniert. Ich hatte so viele Ausreden, zum Beispiel die Arbeit an meiner Graphic Novel, die jetzt auf Arabisch veröffentlicht wurde. Momentan arbeite ich am zweiten und dritten Band und dann werden alle Teile gemeinsam als eine Graphic Novel auf Englisch veröffentlicht. Außerdem war es belastend, an diesem Comic zu arbeiten, weil ich so jung war: Meinen ersten Comic habe ich mit 18 rausgebracht. Deswegen habe ich es auch in der ersten Zeit anonym gemacht.

Dein aktueller Comic thematisiert Ängste. Warum?

Normalerweise gibt es für jeden Comic ein spezifisches Thema. Aber bei meinem Wiedereinstieg nach so langer Zeit, wollte ich mit etwas Generellem anfangen. Ich habe über all die klischeehaften Gründe nachgedacht, warum man Superkräfte haben möchte.

Ein Grund ist, dass Superheld*innen keine Angst haben, zum Beispiel vor Belästigung. Ich habe im Comic aber auch praktische Dinge miteinbezogen: Qahera kann fliegen, sie lässt sich nicht vom Verkehr aufhalten. Ich wollte diese Ängste thematisieren, weil ich selbst keine Superheldin bin.

Auch mein Comic ist kein gewöhnlicher Superheld*innencomic. Es ist ein politischer und sozialkritischer Kommentar, der zu unsicheren Zeiten veröffentlicht wird. Qahera repräsentiert in meinen Comics eine gewöhnliche, menschliche Perspektive – inklusive der Ängste.

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Deine Arbeit ist also politisch, ist sie dann auch aktivistisch?

Die Leute denken oft mein Comic ist ein mutiger Akt des Widerstandes, aber das ist er nicht. Ich betrachte mich selbst nicht als Aktivistin. Den Comic zu machen ist an sich sehr entspannt. Wenn es um die Thematisierung von Belästigung geht, kommt mein Comic immer zur Sprache. Aber es gibt so viele Aktivist*innen, die viel mehr zu diesem Thema arbeiten. Deswegen habe ich den Comic gemacht, der sich mit realen, protestierenden Ägypter*innen auseinandersetzt.

Viele meinen, dass „während der Revolution alles besser war“ – auch in Bezug auf Frauen(rechte?): Was denkst du darüber?

Ich hätte diesen Comic ohne die Revolution 2011 nicht gemacht. Der Comic wurde von ihr genauso beeinflusst, wie ich. Ich war damals erst 16 und deswegen nicht unbedingt mitten im Geschehen. Qahera ist aber direkt aus einer allgemeinen Revolutionsnostalgie entstanden. Als ich 2013 angefangen habe, waren wir noch mittendrin. Während der Revolution dachten wir, alles würde besser. Aber die Geschichte lehrt uns, dass man Frauenrechte nicht von einer Revolution abhängig machen sollte – sie sind immer das, woran die Leute als letztes denken.

Es gibt generell viele Falschannahmen über die Vergangenheit. In Ägypten gibt es beispielsweise das Narrativ, dass es Frauen in den 1950er Jahren besser hatten, als sie beispielsweise Miniröcke trugen. Das betraf aber damals nur Frauen der Oberschicht. Frauen wurden gleichzeitig im Alter von 13 Jahren verheiratet. Miniröcke sind also kein Maßstab. Heute sind die Umstände vielleicht auch für Frauen bestimmter Klassen besser, aber eben nicht für alle. Diese Erkenntnis ist für mich besonders wichtig, weil es einen sehr deutlichen Klassenunterschied gibt. So genieße ich bestimmte Privilegien, die alle Frauen haben sollten.

Du veröffentlichst den Comic auf Arabisch und Englisch. Wer sind deine Leser*innen?

Als ich angefangen habe, war der Comic nur an einen kleinen Kreis von Freunden gerichtet. Aber dann wurde er online oft geteilt und Vielen gefiel er. Ich bin trotzdem davon ausgegangen, dass der Comic ein hauptsächlich englischsprachiges Publikum anziehen würde. Ich dachte auch, er sei für Ägypter*innen zu kitschig, weil es eine Superheldinnengeschichte ist. Aber dann wurde ich darum gebeten, die Comics ins Arabische zu übersetzen und auch der arabische Comic wurde sehr beliebt – was ich so nicht erwartet hatte.

Ich persönlich mag keine Übersetzungen, sondern Dinge, die für mich geschrieben werden. Nach dem Übersetzen wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wer mein Publikum eigentlich war. Mit der Zeit habe ich mehr und mehr ägyptische Einflüsse miteinbezogen. Heute veröffentliche ich die Comics in beiden Sprachen und versuche die komplette Leser*innenschaft zu berücksichtigen. Mein Hauptaugenmerk liegt aber auf muslimischen Frauen. Sie sind diejenigen, die in diesem Comic repräsentiert werden. Ich nehme mir ihre Meinung mehr zu Herzen, weil mein Comic einer der wenigen ist, der eine weiblichen, muslimische, ägyptische Perspektive einnimmt.

Noch eine Frage zur Übersetzung: Du übersetzt die Comics selbst. Welche Schwierigkeiten ergeben sich dabei?

Ich habe tatsächlich einige Probleme beim Übersetzen. Ich habe es in beide Richtungen versucht, auf Englisch schreiben und dann ins Arabische übersetzen – und anders herum. In beiden Fällen fand ich es sehr schwierig, alle Bedeutungsebenen miteinzubeziehen. Ich übersetze auch nicht nur, sondern ich versuche es zu adaptieren und je nach Sprache verschiedene Prioritäten zu setzen. So habe ich zum Beispiel den Femen Comic nie auf Arabisch übersetzt, weil er für das ägyptische Publikum nicht so relevant ist.

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Durch das Publizieren online kannst du direkt mit deinem Publikum interagieren. Wie fällt das Feedback aus?

Der Comic ist bekannt, aber nicht zu bekannt. Das bedeutet, dass Leute, die ihn lesen normalerweise danach suchen. Das ägyptische Feedback ist überwiegend positiv, überraschenderweise vor allem von Männern. Ich bin eine sehr sensible Person und hätte nicht weiter gemacht, wenn das Feedback überwiegend negativ gewesen wäre.

Die negativen Kommentare von Ägypter*innen sind übrigens ganz anders, als die negativen Kommentare auf Englisch. Das liegt daran, dass es 2013/14 als ich anfing [nach der Absetzung Mursis, Anm. d. Red.] in der ägyptischen Gesellschaft viele offene Identitätsfragen gab. Deswegen hatten viele Ägypter*innen ein Problem damit, dass Qahera Kopftuch trägt. Sie fragten sich: Welche Ideologie steckt dahinter?

Wie sieht es mit den Reaktionen aus dem Ausland aus?

Wenn über meinen Comic zum Beispiel bei BBC berichtet wird, gibt es extrem negative, islamophobe Kommentare. Das war tatsächlich mein erster Kontakt mit Islamophobie. Das schlimmste Feedback kommt von amerikanischen weißen Männern. Es ist meist sehr gewalttätig. Es ist interessant zu sehen, welche Annahmen Leute machen, wenn sie mich durch meinen Comic kennen lernen.

Westliche Journalist*innen tendieren dazu, meine Arbeit autobiographisch zu verstehen was nicht stimmt. Das Ausmaß, in dem Leute unsere Vorstellungskraft unterschätzen, finde ich interessant. Es gibt diese Annahme, dass „Dritte Welt Künstler*innen“ oder Künstler*innen, die nicht westlich sind, immer für ihr ganzes Land sprechen. Es wird davon ausgegangen, dass sie nicht auf dieselbe Art und Weise verschiedene Themen adressieren, behandeln und beschreiben können, wie alle anderen Menschen auch.

Wir haben die Frage nach dem Hijab bisher vermieden, weil sie so klischeehaft ist. Aber da es doch immer wieder zur Sprache kommt: Warum trägt Qahera Kopftuch?

Zum einen dachte ich, es wäre einfach interessant eine Hauptfigur zu haben, die nicht dem Klischee einer weiblichen Superheldin entspricht. Zweitens mag ich Dinge, die die Realität widerspiegeln. Deswegen wollte ich, dass sie aussieht wie die meisten ägyptischen Frauen, sodass sich diese durch Qahera repräsentiert fühlen. Die meisten meiner Freundinnen sehen aus wie sie. Am Anfang habe ich mich in den Comics über muslimische Männer beschwert. Auch deswegen wollte ich eine Hauptfigur, die ebenfalls sichtbar muslimisch ist.

Außerdem war es aus Designperspektive spannend einen Charakter mit Hijab zu entwerfen. Ich dachte darüber nach, wie sie fliegt und wie das dann aussehen würde. In Ägypten ist das Kopftuch eine sehr praktische Kleidung. Du kannst einfach den Niqab hochziehen und bleibst unerkannt. Qahera ist eine Figur, die beides ist: Anders und vertraut.

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In den Comics setzt du dich mit verschiedenen „Meinungen“ über muslimische Frauen auseinander, die du ablehnst. Welche sind das?

Das sind eine ganze Menge. Zum Beispiel: „Muslimische Frauen sind Opfer, die gerettet werden müssen. Sie sind nicht in der Lage, frei zu denken.“ Du wirst auch in der ägyptischen Oberklasse solche Meinungen finden – nicht über muslimische Frauen. Aber über solche, die den Hijab tragen. Die Oberschicht assoziiert ihn mit Mangel an Bildung und Unterschicht, was sehr dumm ist und diskriminierend. Diskriminierung auf Basis von Klassen ist in Ägypten omnipräsent. Aus dem Ausland ist es also die Islamophobie, innerhalb Ägyptens die Klassendiskriminierung. Ich denke der offensichtlichste Comic ist der über die Entscheidungsfreiheit der Frauen

… der von der Entscheidung handelt, den Hijab zu tragen, oder nicht.

Du wirst so oder so objektiviert. Ob du dich für oder gegen das Kopftuch entscheidest, ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, die Freiheit zu haben, eine Entscheidung treffen zu können. Die Kleidung von Frauen in der Öffentlichkeit kontrollieren zu wollen, ist ein globales Phänomen. Es ist nicht auf die muslimische Welt beschränkt.

Du hast Femen in einem deiner Comics sehr harsch kritisiert. In einem späteren Interview hast du dann diese Kritik etwas relativiert, aufgrund von Leser*Innen Feedback.

Ich habe sehr viel intelligente Kritik als Reaktion auf den Femen Comic bekommen. Eine davon war, dass Femen mit so viel Gewalt konfrontiert wird, dass es nicht hilfreich ist, das auch zu tun – und sei es in einem hypothetischen Comic-Szenario. Ich fing an, mich für feministische und akademische Kritik im Allgemeinen zu interessieren, um meine Arbeit zu nuancieren und zu verbessern. Das Problem bei Femen ist die Definition von Feminismus allein entlang der Genderfrage, ohne andere Faktoren zu berücksichtigen.

Man kann keine Feministin sein, wenn man gleichzeitig andere Frauen unterdrückt. Man kann keine Feministin sein, wenn man aufgrund von Klasse diskriminiert oder rassistisch ist. Viele Leute in Ägypten haben ein negatives Bild von Feminismus, weil sie mit einem sehr bourgeoisen Feminismus vertraut sind, der vom Staat ausgeht. Ich empfinde es als einen Feminismus als Beleidigung, der vorgibt Frauenrechte zu verteidigen aber andere Menschenrechte in Frage stellt oder gar verletzt.

Wie gehst du damit in deiner Arbeit um und wie ist dein persönliches Verständnis von Feminismus?

Ich erkläre es anhand des Femen Comics: Ich habe ihn gemacht, nachdem viele Kommentare unter meinem ersten Comic Islam und Religion im Allgemeinen als die Ursache des Problems darstellten. Mit dem Femen Comic wollte ich ausdrücken, dass das Problem nicht die Religion ist. Es ist das Patriarchat. Man kann nicht vorgeben, jemanden zu unterstützen und dabei gleichzeitig versuchen, diese Leute zu verändern. Man sollte ihre Art zu leben dabei immer respektieren. Ich habe Qahera gemacht, um mich über Aspekte in meiner eigenen Kultur zu beschweren. Aber das ist keine Einladung, meine Kultur von außen zu attackieren.

Feminismus muss inklusiv sein, er muss andere Faktoren mitberücksichtigen. Ich muss heute auch vorsichtiger sein mit dem was ich sage, da meine Arbeit eine viel größere Reichweite hat. Ich möchte etwas kreieren, das ehrlich ist und gleichzeitig wohl überlegt. Was ich momentan versuche, ist Themen zu finden, die ägyptische Frauen betreffen und dann zu sehen, inwiefern sie auch global eine Rolle spielen. Nicht nur für Frauen, sondern für alle. Denn jede Ungerechtigkeit ist ein Symptom von etwas Größerem.

Am 8. März ist der Internationale Frauentag. Was bedeutet dieser Tag für dich?

Ich empfinde ihn immer als leere Geste ohne echtes Empowerment. Gleichzeitig können diese Gesten und Veranstaltungen auch ein Safe Space sein, im Vergleich mit einem sehr feindlichen Umfeld, das denkt, Frauen sollten am besten zu Hause bleiben. Die Messlatte ist sehr niedrig. Aber die Gruppen, die wirklich wichtige Arbeit leisten, bleiben meist unbeachtet. Auch an diesem Tag.

Wird dem Tag in Ägypten öffentlich Aufmerksamkeit geschenkt?

Ja, sehr viel. Es gibt Firmen, die Veranstaltungen machen, vor allem Wohltätigkeitsveranstaltungen. Wie zum Beispiel, als McDonalds in den USA das „M“ zur Feier des internationalen Frauentags auf den Kopf stellte. Leere Gesten. Alles wird kommerzieller.

Was ist deine Vision für Qahera im Jahr 2019?

Ich habe vor, jeden Monat einen Comic zu veröffentlichen. Außerdem arbeite ich am zweiten Teil der Graphic Novel. Dieses Jahr möchte ich wieder voll durchstarten.

 

 

Seit Lissy zwischen 2014 und 2016 in Palästina lebte, interessiert sie sich für die WANA-Region. Besonderes Interesse gilt der Sprache Arabisch, Israel/Palästina und anti-muslimischem Rassismus. Lissy ist Dolmetscherin und Übersetzerin für Arabisch. Im Vorstand ist sie seit 2020 für die Mitgliederbetreuung zuständig.
Clara arbeitet in der Wissenschaftskommunikation. Zu dis:orient kam sie 2018 und von 2022-2024 übernahm sie die Koordination unseres Magazins. Clara hat Internationale Migration & Interkulturelle Beziehungen in Osnabrück und Politikwissenschaft in Hamburg & Istanbul studiert. Ihre Themen sind Solidarität in der postmigrantischen...
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Julia Nowecki