Ägyptische Frauen und Männer protestieren online gegen sexuelle Gewalt. Während staatliche Institutionen manche Überlebenden unterstützen, werden andere zum Schweigen gebracht. Ein Kommentar zu einem bedeutenden Moment des ägyptischen Feminismus.
In ganz Ägypten haben Frauen gegen sexuelle Gewalt protestiert und in verschiedenen sozialen Netzwerken von ihren Erlebnissen berichtet. Dadurch entbrannte eine öffentliche Debatte über Gewalt gegen Frauen in Ägypten, staatliche Verantwortung, die Straflosigkeit der Täter und darüber, wie das Schweigen der Gesellschaft zur Gewalt gegen Frauen beiträgt.
An die Öffentlichkeit gehen
Am 1. Juli wurden Anschuldigungen gegen Ahmed Bassam Zaki, einen 21-jährigen ägyptischen Studenten, in den sozialen Medien laut. Mehrere Frauen beschuldigten ihn anonym der Vergewaltigung, der sexuellen Gewalt, der Einschüchterung und der Erpressung. Die Vorwürfe beziehen sich auf verschiedene Vorfälle im Laufe der letzten Jahre und an unterschiedlichen Orten.
Die Frauen beschuldigen auch bekannte Institutionen wie die American University in Cairo (AUC) – an der Zaki studierte – die Überlebenden der Übergriffe in keiner Weise unterstützt zu haben. Augenblicklich entstand eine öffentliche Diskussion über geschlechtsspezifische Gewalt. Hunderte Frauen und Männer teilten ihre Berichte auf verschiedenen Online-Plattformen.
Wichtig für den Fall Zaki ist, dass der Täter aus einer wohlhabenden Familie stammt und angesehene Schulen und Universitäten besucht hat. Diese Erkenntnis vernichtete die weitverbreitete Annahme, dass geschlechtsspezifische Gewalt nur in ärmeren Bevölkerungsschichten vorkommt und dass Status Frauen vor Gewalt schützen kann. Viele Berichte machen deutlich, dass selbst in den reichen und gebildeten Kreisen der Gesellschaft die Überlebenden von ihren Familien gezwungen wurden zu schweigen. Zaki, der im Moment in Untersuchungshaft sitzt, nutzte diesen familiären Druck, um seine Opfer zu erpressen
Das Schweigen über sexuelle Gewalt wird nun also endlich in der Mainstream-Debatte als systematisch erkannt. Es hilft den Tätern, strafrechtlicher Verfolgung zu entkommen und schafft ein Klima, in dem Männer und Frauen leicht Opfer sexueller Gewalt werden. Einige wichtige Talk Shows nahmen das Thema auf und Ägyptens Dar al-Ifta, eine wichtige religiöse Autorität, veröffentlichte eine Stellungnahme gegen sexuelle Übergriffe und forderte den Staat auf, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Es waren viele Aufrufe im Umlauf, die Männer und Frauen ermutigten, ihre Erlebnisse mit sexueller Gewalt öffentlich zu machen. Andere forderten die Familien der Überlebenden auf, ihren Söhnen und Töchtern zu glauben und sie zu unterstützen, statt sie zum Schweigen zu bringen. Einer der bekanntesten Aufrufe war der des National Council for Women (NCW), der Frauen dazu aufrief, an die Öffentlichkeit zu gehen und die Unterstützungsangebote des NCW wahrzunehmen. Dieses Auftreten des NCW in diesem Fall verlangt nach einer Diskussion über den Umgang und das Interagieren mit staatlichen Institutionen. Dabei stellt es gleichzeitig die Chance, aber auch die Herausforderung für die ägyptische feministische Bewegung heraus.
Der Umgang mit dem Staat
In feministischen Kreisen auf der ganzen Welt gibt es seit Langem eine Debatte über den Umgang mit dem Staat in Sachen Frauenrechte. Wie R.W. Connell formuliert: „Der Staat ist historisch patriarchisch. Patriarchisch im Sinne konkreter sozialer Praktiken. In der neueren Geschichte institutionalisieren staatliche Strukturen die Gleichsetzung von Autorität und dominanter Maskulinität; sie werden von Männern kontrolliert; und sie arbeiten mit massiver Voreingenommenheit für die Interessen heterosexueller Männer.“ (Connell 1992, S. 535)
Nichtsdestotrotz haben Frauen in der Vergangenheit Positionen in Regierungen errungen, Lobbyarbeit für ihre Interessen gemacht und staatliche Verantwortlichkeit in Sachen Gewalt gegen Frauen eingefordert. Gleichzeitig haben Staaten Frauenrechtsbewegungen aktiv vereinnahmt. Dieser staatliche Feminismus ist, einfach ausgedrückt, eine staatlich sanktionierte Form des Feminismus, der eine eingeschränkte Perspektive auf Frauenrechte vertritt und die staatlichen Interessen nicht hinterfragt. Der staatliche Feminismus arbeitet für die staatliche Vision der Rolle der Frau, die meist in den staatlichen Institutionen verankert ist.
So sind nationale Frauenräte beispielsweise aktiv, wenn es um sexuelle Übergriffe geht, aber setzen sich nicht für weibliche politische Gefangene ein und agieren nicht gegen problematische Staatsdiskurse. Das ist kein Problem, das für Ägypten oder die WANA-Region spezifisch ist. Es ist ein Phänomen, das in den meisten staatlichen Institutionen auftritt. Trotzdem entscheiden sich manche Feminist*innen, wenn möglich, mit staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten, um Einfluss zu gewinnen, Erfolge für die Frauenrechtsbewegung zu erzielen, oder zumindest die Scheinheiligkeit der „progressiven“ staatlichen Diskurse sichtbar zu machen.
Es ist dennoch wichtig zu betonen, dass Frauen in Ägypten weiterhin unter dem Deckmantel des Schutzes von „ägyptischen Familienwerten“ angeklagt und inhaftiert werden.
Die Verfolgung von Frauen online
Wenn die Gesellschaft sich öffnet, sind Rückschläge unvermeidbar. Ein bedrohtes Genderregime kann auf viele Arten von Gewalt zurückgreifen, um den Status Quo zu verteidigen. In diesem Rahmen ist zu verstehen, dass das Wirtschaftsgericht in Kairo im Juli zwei Social Media-Influencer*innen zu zwei Jahren Gefängnis und rund 16.000 Euro Strafe verurteilte. Grundlage ist das 2018 verabschiedete Gesetz gegen Onlinekriminalität. Das Gericht argumentierte, die Videos, die die Frauen auf TikTok veröffentlicht hatten, verstießen gegen die „ägyptischen Familienwerte“ und stifteten zur Unzüchtigkeit an.
Viele ägyptische Frauen, die selbst soziale Medien nutzen, fühlen sich von diesem Urteil bedroht, da auch sie sich nun durch den widersprüchlichen Gesetzestext strafbar machen könnten – allein durch das Posten eines persönlichen Videos oder Fotos.
Noch wichtiger ist aber, dass dieses Urteil Frauen und der gesamten Gesellschaft eine widersprüchliche Botschaft sendet. Zu einem Zeitpunkt, in dem Stimmen gegen die Rechtfertigung von sexueller Gewalt durch die Kleidung oder das Verhalten von Frauen laut werden, kriminalisiert dieses Urteil Frauen und schafft eine Atmosphäre, in der Gewalt gegen jene Frauen gerechtfertigt wird, die sich nicht an bestimmte Geschlechternormen halten. Um dem entgegenzuwirken, haben ägyptische Feminist*innen eine kreative Kampagne in verschiedenen sozialen Medien mit dem Hashtag # بعد_اذن_الاسرة_المصرية gestartet, was übersetzt so viel wie „wenn es die ägyptische Familie erlaubt“ bedeutet. Gleichzeitig setzten sie eine Petition auf, welche die Freilassung aller Frauen fordert.
Forderungen innerhalb der Opposition
Gleichzeitig sollte der Fokus nicht nur auf dem Staat liegen. Als Berichte von Überlebenden im Netz auftauchten, waren darunter auch Stimmen, die von sexuellen Übergriffen in progressiven Kreisen berichteten. Es geht dabei um sexuelle Gewalt von prominenten Aktivisten, die innerhalb und außerhalb Ägyptens etablierte NGOs leiten und eigentlich als Verbündete des feministischen Kampfes gelten. Dies hob die Diskussion noch einmal auf eine andere Ebene. Es geht auch um die Verantwortung der NGOs gegenüber ihren Begünstigten, um fehlende Gesetze gegen sexuelle Übergriffe, Straflosigkeit und die Scheinheiligkeit derer, die behaupten, Menschenrechte zu verteidigen, aber selbst Gewalttäter sind.
Vor allem seit 2011 fordert die ägyptische feministische Bewegung, deren Teil ich bin, von der Opposition, für Frauen und deren Rechte Verantwortung zu übernehmen. Die Frauen wollten von ihrem Beitrag zu den Protesten profitieren und forderten mehr Rechte. Die Antwort war jedoch meist ein enttäuschendes „das ist nicht die richtige Zeit für Frauenrechte, wir müssen zuerst eine Demokratie aufbauen“. Trotzdem war für Feminist*innen immer klar, dass es ohne Frauenrechte keine Demokratie geben wird.
Im Moment revolutionieren Frauen zumindest die linken Kreise und fühlen sich nicht länger verpflichtet, ihre übergriffigen Genossen zu decken. Es ist eine Entwicklung, die schon lange fällig war und höchstwahrscheinlich weitreichende Konsequenzen haben wird.
Trotz der Widerstände: Frauen organisieren sich
In Anbetracht all dieser Entwicklungen versuchen Feminist*innen, Frauenrechtsaktivist*innen und progressive ägyptische Frauen sich in und außerhalb Ägyptens on- und offline zu organisieren, um Erfahrungen auszutauschen, die aktuelle Diskussion zu nutzen und das weitere Vorgehen zu planen. Dabei stoßen sie an die Grenzen der digitalen Organisationsformen und der sozialen Medien: die Schwierigkeit, die Anonymität der Überlebenden und ihrer Berichte zu wahren; die Gefahr von Verleumdungsklagen, wenn öffentlich gegen die Täter Stellung bezogen wird; die Schwierigkeit innerhalb und außerhalb Ägyptens, Klagen wegen sexueller Gewalt einzureichen und ein immer kleiner werdender öffentlicher Raum in Ägypten, in dem feministische Organisationen agieren können. Ein Beispiel ist Nazra for Feminist Studies, deren Klage gegen das Einfrieren ihrer Mittel im Jahr 2017 letzten Juli abgewiesen wurde.
Trotz all dieser Schwierigkeiten und einer globalen Pandemie finden ägyptische Frauen ihre Stimme und den Mut, über eine alte Wunde zu sprechen, die nie aufgehört hat zu bluten. Das Inspirierende daran ist, dass die Diskussionen sich nicht mehr nur auf feministische Kreise beschränken. Sie sind endlich in den ägyptischen Mainstream-Medien angekommen und die ägyptischen Frauen fühlen sich so berechtigt wie nie, der Gewalt entgegenzutreten, die wir alle zu irgendeinem Zeitpunkt erlebt oder miterlebt haben.
An alle Überlebenden sexueller Gewalt: Ich sehe euch, ich höre euch, ich glaube euch, ich stehe hinter euch und habe immer wieder den größten Respekt für eure Beharrlichkeit und euren Mut.