Am 25.01.2011 begannen in Kairo Proteste, die zum Sturz des damaligen Präsidenten Hosni Mubarak führten und als Teil des Arabischen Frühlings in die Geschichte eingingen. Ein Gründungsmitglied von Nawara über das Gedenken 10 Jahre später im Exil.
Vor zehn Jahren machte ich mich auf dem Weg zum Tahrir Platz und beteiligte mich an einer Revolution, die die moderne Geschichte meines Landes nachhaltig veränderte. Ich war Teil eines historischen Moments: Ich sah unglaublichen Mut und extreme Brutalität, ich stürmte die Bastille, ich trat der Unterdrückung entgegen, ich lachte dem Tod ins Gesicht. Ich schloss die Angst in meine Arme.
Heute war ich beim Friseur und bekam einen neuen Haarschnitt. Es sieht gut aus. Es gefällt mir. Ich sehe aus, wie ich selbst, gezeichnet von einer Revolution, die unsere Körper auf unterschiedliche Art gezeichnet hat. Ich habe Glück: bei mir blieben nur seelische Narben zurück, manche von uns verloren ihr Augenlicht, ein Bein oder einen Arm. Ich ging zum Friseur, um das Ende eines Jahrzehnts zu markieren, um mich zu häuten, um mich zu verwandeln. Es ist an der Zeit zu werden.
Ich bin privilegiert. Ich habe Raum, um zu wachsen und etwas Neues zu werden. Einige von uns können nicht weiter machen, sind gefangen in rechtlichen Limbos, Diasporas, Gefängnissen, wirtschaftlichen Problemen. Ich habe den Luxus zum Reflektieren, also muss ich reflektieren, denn reflektieren ist ein Privileg. Wenn du die Möglichkeit hast, tu es. Das sind wir uns und unseren Kameraden:innen schuldig. Wir haben einen langen Weg zurückgelegt. Wir müssen den Schmerz und die Kämpfe unserer Generation anerkennen und würdigen. In den letzten zehn Jahren haben wir zehn Leben gelebt.
Wir haben gewagt zu träumen und sind so viele Male gescheitert. Ich tat also, was Iman Mirsal in ihrem Buch beschrieb und ließ mir meine Haare schneiden. Ich sehe die Falten, ich bin von dem gezeichnet, was ich mit 25 gesehen habe. Wir waren jung. Ich erinnere mich an das, was ich sah. Ich weiß, was ich gesehen habe und ich werde leben, um mich und andere daran zu erinnern. Ich bin ein lebendes, atmendes Archiv. Es geschah wirklich, ich war dort. Ich bin gleichzeitig Zeuge und Beweis. Meine eigene Geschichte ist ein lebendiges Testament einer Revolution, die ausgelöscht werden soll. Also gedenken wir. Was könnten wir sonst tun?
Warum gedenken wir der Revolution?
Während sich der zehnte Jahrestag der Revolution nähert, merke ich, wie ich wie besessen an der Erinnerung festhalte. Ich zwinge mich selbst zu einem Gespräch, zu dem ich vielleicht noch nicht bereit bin und ich dränge andere dazu, das gleiche zu tun – auch wenn ich die Konsequenzen nicht abschätzen kann. Ich ertappe mich bei der Frage: Warum gedenken wir? Warum feiern wir den Jahrestag einer gescheiterten Revolution? Was gibt es zu feiern an dieser Niederlage, am Scheitern, der Entfremdung und der Angst?
Warum bittere Erinnerung wieder hochholen und warum in alten Wunden bohren? Aber genau das ist der Punkt: Diese Wunden sind noch immer offen und sie bluten. Das ist unsere schwierige Realität. Wir sind die lebenden Reste einer gescheiterten Revolution und wir sind dazu bestimmt, ihr Gedächtnis zu verkörpern.
Die Erinnerung ist unsere Last, sie verfolgt uns, berührt uns, ergreift Besitz von uns. Wir sind von ihr besessen, sie lebt in uns: Sie nimmt Einfluss auf unseren Lebensweg – egal wo wir gerade sind. Wir sind von einer Revolution gezeichnet. Das Erlebte hat unser Dasein verändert, unsere Ziele im Leben, unsere Weltanschauung und wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Jede:r von uns hatte seine:ihre eigene Revolution in den letzten zehn Jahren. Eine Transformation, die all unsere Grenzen durchbrach.
Wir sind die Verkörperung der Revolution. Des Schmerzes. Die Folter hat Spuren auf unseren Körpern hinterlassen. Die verlorenen Augen und Gliedmaßen. Die verlorenen Kameraden:innen. Die posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Depressionen und Ängste, die an diesem Moment haften. Die Trauer, die sich weigert zu gehen. Wir verkörpern eine gescheiterte Revolution.
Warum gedenken wir in Berlin?
Weil wir uns daran erinnern müssen, wer wir sind und woher wir kamen - nicht nur geografisch gedacht, sondern auch emotional. Das Leben in der Diaspora verstärkt das Gefühl der Desorientierung. Das Gefühl, komplett von der Umgebung losgelöst zu sein. Die einsame Erfahrung von migrantischer Melancholie, die es einem nicht erlaubt, sich mit der direkten Umgebung zu verbinden, dem neuen und möglicherweise dauerhaften Zuhause. Ab da existiert man in einem Zustand der konstanten Vergänglichkeit. Alles ist außer Kraft gesetzt und nichts ist von Dauer.
Die Zeit stand ab 2011 still. Dann überschlug sie sich und brachte zehn Jahre der Bewegung hervor. Eine der größten Bewegungen in der Geschichte der Menschheit. Die Bewegung von Körpern. Eine Migrationsbewegung, die so nur wenige Male in der Geschichte vorkamen. Gescheiterte Revolutionen in der gesamten Region führten zu einer nie dagewesenen Zusammenkunft verschiedener Menschen in Orten wie Berlin, wo wir alle in eine neue Lebensrealität geworfen wurden.
2021 muss die Zeit noch einmal still stehen. Wir brauchen einen Moment. Einen Moment um inne zu halten und uns zu fragen: Was zum Teufel ist in den letzten zehn Jahren passiert? Wir müssen einmal durchatmen.
Wer kann heute gedenken?
Gedenken zu können ist ein Privileg. Die meisten von uns können es nicht. Wir müssen uns an ihrer Stelle erinnern, derer, die sich nicht erinnern können oder wollen. An ihrer Stelle erinnern wir uns, um ihren Schmerz und ihre Realität zu würdigen. An diejenigen, die dem Gedenken im Januar vielleicht fern bleiben und jede Erinnerung auslöschen wollen: Es ist völlig verständlich und in manchen Fällen sogar notwendig.
Nicht alle von uns müssen der Revolution gedenken. Aber manche von uns sollten. Diejenigen, die können und diejenigen, die gedenken müssen, um zu überleben. Wir sind Überlebende. Wir haben Länder und Meere überquert und ein neues Ufer gefunden. Wir sind noch immer hier – und gedenken.
Möchtest du dabei sein?