27.06.2024
Über Brücken, Spaziergänge und wieso öffentliche Räume politisch sind
Blick von der Brücke, kaum ein Zentimeter ist in Kairo nicht bewohnt. Foto: privat.
Blick von der Brücke, kaum ein Zentimeter ist in Kairo nicht bewohnt. Foto: privat.

Eigentlich verbinden uns Brücken. In Kairo bewirken sie für mich das Gegenteil. Sie sind ein Sinnbild für den destruktiven Städtebau Ägyptens und seine gesellschaftlichen Folgen.  

„Sie beschreiben Kairo sehr bildhaft. Man merkt, dass Sie die Stadt wirklich lieben.“ – sagt mein betreuender Professor gegen Ende seines Feedbacks zu meiner Bachelorarbeit. Sie handelt von der Nutzung von Freiräumen in den informellen Siedlungen Kairos. In meiner Masterarbeit beschäftigte ich mich erneut mit der ägyptischen Hauptstadt. Diesmal schrieb ich über den Nil, seinen Nutzen für Kairo und über die Möglichkeiten, ihn besser zugänglich zu machen. Sein Feedback zu dieser Arbeit: Meine Analyse sei sehr gut, meine abschließenden Optimierungsentwürfe dagegen unvollständig. Ich glaube, ich hatte mal wieder viel zu viel Zeit damit vergeudet, mich dem Chaos der Stadt hinzugeben. 

„Umm al-Dunia – Mutter der Welt“

Immer wieder verliere ich mich in dem Versuch, Kairo verstehen zu wollen. Mit viel Mühe mag es gelingen, nur die „schönen“ Ecken zu bewundern und dabei dem „eigentlichen Kairo“ zu entkommen. Aber mich interessierte schon immer das pulsierende, laute und manchmal auch furchteinflößende Kairo. Die Revolution 2011, der Militärputsch 2013 und die immer wiederkehrenden politischen Unruhen trübten mein Bild kaum. Ich beschäftige mich mit der historischen Entstehung der Stadt, mit den informellen Stadterweiterungen, aber auch mit dem dortigen Verständnis von einer „lebenswerten“ Stadt. Vieles, das ich sah und neu angekündigt wurde – wie zum Beispiel das „New Capital“ – entsprach nicht dem, was ich im Studium über Städteplanung lernte. Ich versuchte trotzdem, nicht mit einer eurozentrischen Planungsperspektive durch die Hauptstadt zu laufen. Denn: Warum sollten Ägypter:innen nicht selbst am besten wissen, wie sie ihre Stadt gestalten wollen? 

Madinat Nasr

Die Wohnung meiner Familie liegt in Madinat Nasr, einem recht großen Bezirk, geplant vom damaligen Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser. Die bekannteste Straße hier ist die Abbas al-Aqqad, eine breite Einkaufsstraße mit mindestens vier Spuren. Auf beiden Seiten befinden sich endlose Modegeschäfte, Restaurants, Cafés und Brautboutiquen. Es ist unfassbar laut, voll und beim Überqueren von einer der vielen neuen Brücken, wirkt die Straße wie eine brillant leuchtende Ader im Raster von Madinat Nasr. Ich erinnere mich, wie früher eine langsame Straßenbahn durch das Viertel fuhr. Später wurden die Gleise rückgebaut, der Mittelstreifen blieb. Oft saßen hier Straßenreiniger, Bus- oder Taxifahrer in ihren Pausen und schliefen im Schatten der kleinen Bäume oder lasen Zeitung im Grünen.

Heute steht hier eine der vielen Brücken, über die bereits die letzten zwei Jahre umfassend berichtet wurde. Fotos und Videos, die viral gingen, zeigten Häuser, die durch die Brücken entzweit wurden, Balkone und Fenster, die nur noch eine Handbreit von bitter riechenden Abgaswolken entfernt waren. 

Wohnhäuser in Madinat Nasr. Foto: privat.

 

„Über sieben Brücken musst du gehen...“

Kairos Brücken sind keineswegs schön. Sie versperren Sichtachsen zwischen Gebäuden und Menschen, erschweren es mir, einen Bezirk zu Fuß zu erkunden. Sie werfen riesige, dunkle Schatten und zersplittern eine historisch wertvolle Stadt. Ruhige Stadtviertel, wie einst Madinat Nasr, werden zu lauten Verkehrsknoten.  Aber: sie sind unfassbar effizient. Ich gelange von Madinat Nasr in 20 Minuten sowohl zur Cairo Festival City, einer Gated Community in New Cairo, als auch zum Khan al-Khalili im historischen Stadtkern al-Darb al-Ahmar. Die Brücken haben den Verkehrsfluss insgesamt erleichtert.

 Ich erinnere mich an ein Essay von Yasmin El-Rifae aus dem Sommer 2022. Sie berichtete von einem ihrer letzten Kairo-Aufenthalte, endete mit einer Art Verabschiedung, enttäuscht und wütend über diese Entwicklungen der Stadt. Ich verstand ihre Gefühle zwar, aber auf mich trafen sie nicht zu. Ich nahm die Entwicklungen einfach so hin. Man muss sich der Stadt völlig hingeben. Früher standen wir manchmal eine ganze Weile unter der heißen Mittagssonne in der Hoffnung, ein freies Taxi zu finden. Gab es keins, sind wir eben gelaufen. 

Verlorener Blick: Eine Brücke inmitten eines Wohngebietes. Foto: privat.

 

Ein Ende der Romantisierung – Gegenwart: Mai 2024

Heute verstehe ich, was es für ein Privileg ist, sich in dieser Stadt zu Fuß frei bewegen zu können. Dieses Jahr fühlte es sich zum ersten Mal so an, als ob meine Blase nach langer Zeit platzen würde. Ich musste mich mit all den sich bereits angekündigten Missständen konfrontieren.

Die Brücken in Kairo sind immer mehr geworden. Ich habe das Gefühl, sie sind ein Sinnbild für die destruktiven städtebaulichen Entscheidungen der Regierung. Sie verbinden zwar die coolen neuen Viertel, aber das Zentrum Kairos, die eigentlichen Knotenpunkte sind – oder viel besser sollen – nicht mehr interessant sein. Denn sie zeigen neben bedeutenden kulturellen und historischen Orten auch die Armut, das alltägliche Leben unter Präsident Al-Sisis Militärregime und die rasante Inflation. Nutzt man die Brücken, „überspringt“ man diesen Teil der Stadt. Es fühlt sich falsch an – aber es bleibt einem nichts anderes übrig. Zu Fuß durch mein Viertel zu gehen, ist keine Option mehr, weil man einfach nicht auf die andere Straßenseite kommt.

Neue Tankstelle und Fast-Food, früher war hier ein grüner Park,. Foto: privat.

 

Brücken, die trennen, statt zu verbinden

Etwas hat sich in das öffentliche Leben eingeschlichen. Es ist die Wut auf die eigenen Umstände, vorbestimmt von einem Regime, das keinerlei Rücksicht auf den Großteil der Ägypter:innen nimmt. Frustration über gescheiterte Revolution(en), über das Verbot zur Teilhabe. In all diesem Frust gibt es kaum eine Möglichkeit, bei einem langen Spaziergang abzuschalten, kaum Parks oder Grünflächen, die einen den lauten Trubel der Stadt für einen Moment vergessen lassen oder das Gefühl von Freiheit schenken. Die Stadt ist riesengroß, trotzdem ist sie wie ein Käfig.

Die einzige Freiheit für die, die es sich leisten können, bietet der Konsum. Donnerstag- und Freitagabend sind die Cafés und Restaurants in New Cairo voll bis zum Anschlag. Es wird für einen Abend so getan, als sei diese künstliche geformte Gated Community das wahre Leben. Niemals würde ich das Ägypter:innen zum Vorwurf machen. Ich mache es ja genauso.

Yasmin El-Rifae beschrieb damals in ihrem Essay, wie sich soziale Rhythmen ändern, zitiert dazu einen Bekannten: „Es gibt keine Räume mehr, in denen sich Menschen versammeln können, nichts, das uns zusammenbringt. Und es ist so schwer geworden, sich fortzubewegen. Die Menschen halten sich an die zwei oder drei Personen, die ihnen nahestehen, und das war's.“

Besonders die Revolution 2011 habe gezeigt, wie wichtig öffentlicher Raum als Sprachrohr der Gesellschaft sei und wie er unsere Beziehung zur Stadt und zueinander verändert habe, schreibt sie weiter. Die Gewaltakte in öffentlichen Camps, nach dem Sturz der Muslimbruderschaft stellten sicher, dass heute nur noch sehr wenige Menschen für öffentlichen und politischen Raum kämpfen können. Auch mein Gefühl von Sicherheit schwindet. Der öffentliche Raum und Spaziergänge sind gezeichnet von Unsicherheit. Darf ich hier langlaufen? Ist Fotografieren oder Filmen erlaubt? 

Öffentlicher Raum als politischer Ort

Das Schwinden öffentlicher Räume hat nicht nur zur Folge, dass man ohne Zwischenhalt durch Kairo „durchfährt“. Es bietet dem Regime auch eine bessere Kontrolle über öffentliche Demonstrationen oder Veranstaltungen. Diese sind ohne frei zugängliche öffentliche Räume kaum noch möglich. Verbringe ich meine Abende also nicht in einem Café, bin ich in meinem privaten Sport- und Freizeitclub (so wie es in Kairo üblich ist) oder zuhause. Praktisch für ein System, das in sich zusammenbrechen würde, sobald eine Vielzahl Ägypter:innen aufeinander treffen und ihren Unmut untereinander teilen würden. 

 Kriegspropaganda auf dem Weg nach „New Cairo“. Foto: privat.

 

Öffentliche Räume sind politisch. Sie spielen eine entscheidende Rolle für soziale Interaktionen und dienen als neutrale Orte, an denen Barrieren leichter überwunden werden können. Fehlen diese, entsteht Misstrauen und Unsicherheit: Welche politischen Positionen gibt es? Bin ich allein mit meiner Meinung? Wir verlieren das Gefühl dafür, wo wir innerhalb der Gesellschaft stehen. 

Bei meinem letzten Aufenthalt war ich kein einziges Mal spazieren. Wer weiß, wann es das nächste Mal wieder so weit ist.

 

 

Artikel von Anonym
Redigiert von Sophie Romy, Alicia Kleer