Mina Jawad reist in ihre Heimat Afghanistan. Zwischen Sehnsucht und Privilegien mahnt sie zur Verantwortung, die widersprüchlichen Realitäten des Landes nicht durch ideologische Auseinandersetzungen und eindimensionale Narrative zu verzerren.
Für viele migrantische Menschen, einschließlich Migrantisierter Menschen zweiter Generation, sind Urlaubsreisen in die „Heimat“ etwas Selbstverständliches. Dabei sieht die Realität der Menschen aus Afghanistan, Syrien, Libanon und dem besetzten Palästina, dessen Leben von Krieg und Vertreibung geprägt ist, ganz anders aus. Es sind Realitäten, die parallel zueinander verlaufen: Auf der einen Seite sind Reisen in ihre Heimat für viele unerreichbar, blockiert durch materielle Unsicherheit und die fortwährenden Folgen von Vertreibung und Krieg. Auf der anderen Seite bleiben Reisen trotz der Hindernisse keine Seltenheit.
Diese scheinbar widersprüchlichen Realitäten – Selbstverständlichkeiten und Unselbstverständlichkeiten zugleich – sind für weite Teile der deutschen Dominanzgesellschaft schwer nachvollziehbar. Dass Reisen nach Afghanistan, Syrien oder in den Libanon überhaupt möglich sind, erscheint vielen so befremdlich, als befänden sich diese Orte auf dem Mars oder dem Mond. Noch weniger begreiflich ist die Vorstellung, dass Menschen in „diese Länder“ ohne berufliches oder ehrenamtliches Mandat reisen, da sie meist für Beruf, Erholung, Zerstreuung und Konsum reisen.
Nach dem Fall der ersten Taliban-Herrschaft 2001 schien sich für manche ein Fenster zu öffnen, und es entwickelte sich eine Konstante: Afghan:innen kehrten zurück, die teils Jahrzehnte nicht mehr in ihrer Heimat waren – sei es, um die Möglichkeiten einer dauerhaften Rückkehr auszuloten oder wegen der Notwendigkeit, nach langen Jahren der Trennung ihre Familien wiederzusehen oder Abschiede nachzuholen, die die Flucht schwerlich zuließ. In all den Jahren blieb die Sehnsucht vieler Afghan:innen in der Diaspora spürbar. Sogar junge Menschen, die als Kinder das Land verlassen haben oder gar nie dort gewesen sind, tragen eine Art nostalgischen Schmerz in sich – Sehnsucht gegenüber einer Heimat, die ihnen aus unzähligen Gründen verwehrt bleibt. Wer keine engen familiären Bindungen oder finanzielle Sicherheit hat, wird kaum die Möglichkeit haben, das Land zu besuchen.
Drei Jahre nach dem Abzug der NATO-Truppen und der Rückkehr der Taliban an die Macht, bestehen Reisen nach Afghanistan fort. Mit der Aufnahme der regulären Linienflüge im Frühjahr 2022 haben viele Afghan:innen die Rückreise angetreten. Reisen, die nicht frei von Kontroversen sind. Die Polarisierung reicht im Extrem von der Trivialisierung der Taliban-Herrschaft bis zur völligen Verteufelung von Reisen nach Afghanistan.
Privilegierte Rückkehr
Vor meiner eigenen Rückkehr war ich gespalten darüber, ob und inwiefern ich mein Umfeld über meine anstehende Reise informieren soll. Nicht aus Angst vor den Reaktionen, aber aus einer gebotenen Vorsicht, keine unnötige Aufmerksamkeit vor Ort zu schaffen. Es war teils unausweichlich. Die Reaktionen umfassten irritiertes Schweigen, gehässige Kommentare, solidarische Unterstützung und Enthusiasmus. Darin spiegelt sich die Kontroverse, in das von den Taliban regierte Afghanistan zu reisen.
Und es hagelte Fragen. Ob ich mit einem männlichen Vormund reisen müsse, ob die Taliban mich als Afghanin oder als Ausländerin betrachten und in welcher Sprache ich mich verständigen würde; ob die Gefahr bestünde, wegen meiner kritischen Haltung inhaftiert zu werden, und ob ich überhaupt innerhalb des Landes ein- und wieder ausreisen dürfe. Kaum eine der Fragen konnte ich abschließend beantworten. Es stand lediglich fest, dass all diese Szenarien bereits eingetreten waren: die Inhaftierung zurückgekehrter Afghan:innen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit afghanischer Frauen, die aus dem Ausland einreisen, aber auch Fälle, in denen Frauen entgegen der Regularien der Taliban völlig unbehelligt und ohne Vormund (aus-)reisen konnten.
Mein Entschluss zurückzukehren war jedoch größer als alle Fragezeichen. Meine Sehnsucht größer als die Risiken. Mein Ehrgeiz größer als die Kritik, der ich mich stellen wollte. Dass ich aus einer privilegierten Position gereist bin, selbst wenn ich Marginalisierungen in mir vereine, steht außer Frage. Außer Frage steht ebenfalls, dass ich dabei war in ein Land zu reisen, aus dem die Menschen millionenfach aufgrund von Perspektivlosigkeit fliehen wollen. Und dass mein Erfahrungshorizont sich allein schon deshalb wesentlich von dem der Menschen vor Ort unterscheiden sollte, insbesondere dem der Frauen, die nicht den Luxus haben, sich bei aufkommendem Lagerkoller einen Tapetenwechsel zu gönnen. Gleichzeitig nahm ich mir vor, wissend über die Zustände vor Ort, nicht voreingenommen zu sein. Mein Wissen könnte auch Nicht-Wissen sein.
Denn auf der einen Seite stehen die vielen Rückkehrer:innen seit der Machtübernahme der Taliban, die die Situation vor Ort als weit weniger dramatisch schildern, als sie in den Medien dargestellt wird – bis hin zu offenem Lob, Unterstützung und sogar Propaganda für das neue Regime. Häufig verstärkt durch die Perspektiven relativ gut situierter, pragmatischer Verwandter, die vor Ort leben und im Machtwechsel mehr Vorteile als Nachteile sehen: das Ende des Krieges, mehr Sicherheit, neuer Tatendrang. Auf der anderen Seite stehen die lautstarken Kritiker:innen der Taliban aus Diaspora und Exil, die von beispiellosen und in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesenen Verletzungen von Menschen- und Frauenrechten sprechen und die Gender-Apartheid und Terrorherrschaft anprangern. Sie sehen in den Taliban den Inbegriff jedweder Ungerechtigkeit.
Im Zuge meiner Rückkehr sollte ich Erfahrungen machen, deren ungefilterte Wahrheiten nicht ansatzweise der dominierenden Polarisierung der Taliban-Gegner und Apologeten gerecht werden. Die Realität ist weitaus schlimmer, unaussprechlicher und widersprüchlicher, als es die Unterkomplexität der vorherrschenden Narrative zulässt. In der Schlacht der Halbwahrheiten verliert die Wahrheit immer. Und zur Wahrheit gehört, dass es nicht nur eine gibt.
Mehr als nur eine Wahrheit
Viele Menschen, denen ich begegnete, hatten eine überwiegend pragmatische Haltung, auch wenn ihre Einstellung zu den Taliban oft kritisch und ablehnend war. Die bloße Aussicht auf positive Entwicklungen wurde dennoch begrüßt – sei es der Bau künstlicher Kanäle zur Unterstützung der Landwirtschaft oder die Schaffung gemeinsamer Märkte mit den Nachbarländern. Während Taliban-Apologet:innen darin eine absolute Legitimation für das Regime ableiten, verurteilen Gegner:innen sie – beide Seiten einzig und allein aus rein ideologischen Gründen. Unabhängig davon, worin die Gründe der Entwicklungen liegen. Unabhängig davon, ob ein tatsächlicher fairer und nachhaltiger Nutzen vorliegt oder nicht. Eine Einordnung und Expertise fehlt gänzlich.
Ohne Einordnung bleibt auch die Frage der Sicherheit im Land. Viele lassen sich dazu verleiten, die Sicherheit in Afghanistan in den Himmel zu loben und die Rolle der Taliban hervorzuheben. Es wird behauptet, dass nun die Sicherheit gewährleistet sei und Provinzen sowie Distrikte nach Jahrzehnten endlich wieder bereisbar wären. Kritiker:innen hingegen weisen darauf hin, dass die Taliban selbst die Unsicherheit durch Anschläge und Gewalt geschaffen haben und nun, da sie diese unterlassen, daraus Legitimation ableiten. Gleichzeitig wird übersehen, dass die vermeintliche Sicherheit nicht für alle gilt – besonders nicht für Frauen, deren Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung drastisch eingeschränkt ist, während die Sicherheit selektiv gewährt wird.
Wie soll man einen allgemeingültigen Schluss aus diesen parallel stattfindenden Ereignissen ziehen, ohne Halbwahrheiten zu verbreiten? Fest steht lediglich, dass die Taliban im Alltag wie eine kopflose Krake agieren, deren einzelne Tentakeln nicht wissen, was die jeweils anderen tuen. Die einzige Berechenbarkeit liegt darin, dass kein berechenbares System vorliegt. Das System beruht sich lediglich auf den Prämissen der„Sharia“ und „afghanischen Werte“, , die wiederum subjektiv bewertet werden und im Zweifel auf Willkür beruhen. Auf Sympathie und Antipathie.
Zwar ist richtig, dass viele Provinzen und Distrikte bereisbar sind und sich die Sicherheitslage im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten verbessert hat, doch es gibt weiterhin Orte wie die Panjsher-Provinz, die für Reisende off-limits bleiben, weil die Taliban dort bewaffnete Widerstandsgruppen vermuten. Auch der regionale Ableger des IS verübt weiterhin Anschläge. Doch ebenso richtig ist, dass die Sicherheit der in Afghanistan Lebenden nicht an der Reisefreiheit von Menschen aus dem Ausland gemessen werden kann. Einige der Personen, mit denen ich vor Ort im Austausch stand, signalisierten deutlich, dass sie bestimmte Distrikte, Provinzen und Städte lieber meiden. Fest steht auch, dass korrupte Politiker:innen eher in den Genuss der verkündeten Generalamnestie durch die Taliban kommen, während ehemalige Sicherheitskräfte weiterhin in berechtigter Angst vor Vergeltung leben und sich seit Jahren verschanzen.
Auf sozialen Medien kursieren vermehrt Bilder und Videos von Diaspora-Afghan:innen, die einen heiteren und unbeschwerten Heimataufenthalt suggerieren – ein Bild, das in krassem Widerspruch zu den widrigen Lebensbedingungen der Bevölkerung steht, insbesondere zu den einschneidenden Einschränkungen für Frauen im öffentlichen Raum. Hinzu kommen von den Algorithmen der sozialen Medien Beiträge von Reiseinfluencer:innen aus unterschiedlichen Ländern, die Afghanistan besuchen. Diese Inhalte bewegen sich im Rahmen der Plattformlogik, die kurze Aufmerksamkeitsspannen bedient und keine Tiefe zulässt.
Propaganda und Selbstinszenierung
Das Phänomen des „Disaster Tourism“, in Gebiete zu reisen, die von Katastrophen wie Krieg und Destabilisierung gezeichnet sind, ist keineswegs neu. Sensationslust ist einer der Hauptantriebe für solche Reisen. Afghanistan dient seit der Machtübernahme der Taliban verstärkt als Schauplatz für diese Form von Tourismus, die sich vermeintlich vom Massentourismus absetzen mag, und die statt Luxus Leid und Ausbeutung romantisiert. Dabei werden Reisen unternommen, die nicht selten die Entwürdigung der lokalen Bevölkerung zur Folge haben und deren Realitäten verzerren. Die Darstellungen der Influence:rinnen bieten keinerlei Tiefe oder Kontext und tragen oftmals rassistische und orientalistische Narrative weiter. Ein Reiseblogger bezeichnet Männer in traditioneller Kleidung wahllos als Taliban, nur weil sie Turban und Bart tragen. Eine andere Tiktokerin schwärmt von der „Männlichkeit“ der Taliban. Solche Narrative reduzieren die komplexe Lage vor Ort auf plumpe Stereotype. Versuche, diese Influencer:innen zur Rede zu stellen, stoßen auf Unverständnis oder werden schlichtweg ignoriert. Sie erhalten von den Taliban bevorzugte Behandlung, und deren Propaganda profitiert von diesen Bildern. Auch vor Ort begegnete ich Influencer:innen, die sich offensichtlich ohne große Einschränkungen frei bewegen konnten.
Doch auch hier verhalten sich die Inszenierungen auf Social Media nicht anders als in anderen Kontexten außerhalb Afghanistans: perfekt arrangierte Bilder, idealisierte Erfolgsgeschichten, während die restliche Realität ausgeblendet wird. Gerade die Kluft zwischen der gefilterten Fassade und der ungefilterten Wirklichkeit macht an Orten wie dem Shahr-e Naw-Viertel in Kabul die soziale Ungleichheit besonders spürbar: Innerhalb der dekadenten Mauern aus Marmor herrscht eine Parallelwelt, während außerhalb Hungernde und Obdachlose von schwer bewaffneten, privaten Sicherheitsleuten ferngehalten werden.
In einem der Nobelrestaurants – Orten, die fast ausschließlich den Besserverdienenden oder Reisenden vorbehalten sind und die einzigen, wo Frauen noch einigermaßen ungestört verweilen können – beobachtete ich, wie junge Frauen inszenierte Bilder in hängenden Gärten und prunkvollen Räumen aufnahmen. Szenerien für den Instagram-Feed von Reisenden aus dem Ausland – und goldene Gefängnisse für Frauen, die dort leben und sich die temporäre Flucht aus der Realität leisten können. Parallelwelten, die der breiten Bevölkerung und allermeisten Frauen unzugänglich sind.
Verantwortung gilt für alle
Zur Wahrheit gehört auch, dass die Kritik an den Reisenden nicht immer aus Aufrichtigkeit entspringt. Besonders Personen des öffentlichen Lebens und Menschenrechtsinfluencer:innen, die einst selbst in Afghanistan von der Republik profitiert haben und nun im Exil leben, scheinen weniger die Lage der Bevölkerung zu bedauern als den Verlust ihrer eigenen Privilegien. Es sind häufig dieselben, die während der Republik diese dekadenten Orte erbaut, ermöglicht und gefördert haben.
Noch in Afghanistan wurde ich mir darüber bewusst, dass ich die meisten Geschichten nicht erzählen kann, ohne dass diese missverstanden werden – und noch viel schlimmer, den Menschen vor Ort Schaden zufügen. Mit großen inneren Widerständen habe ich mich dazu entschlossen, überhaupt nach meiner Reise die Feder zu erheben. Ebenso, wie es ein Leichtes ist, aus den eigenen privilegierten Erfahrungen ein rosarotes Bild der Lage in Afghanistan zu zeichnen, die Missstände auf eine Weise anzuprangern, wenn den Preis die Menschen vor Ort zahlen. Es wäre ein Leichtes, ein Portrait der mutigen, resilienten und auch gebrochenen Protagonist:innen zu schreiben, mit denen sich die Leser:innenschaft identifizieren kann. Es wäre vielleicht sogar erfrischend, widerständige und lebensbejahende Praktiken von Frauen und Mädchen zu erzählen, die Wege gefunden haben, ihre Würde und ihr grundlegendes Recht am öffentlichen Leben auszuleben. Aber ich würde sie für ein bisschen Aufmerksamkeit für meine Feder nicht in Gefahr bringen - die Menschen, die in die Nicht-Existenz verbannt werden.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.