Perspektiven afghanischer Frauen werden weiterhin von privilegierten Positionen vereinnahmt und instrumentalisiert, meint Mina Jawad. Das schadet dem Feminismus und verhindert Handlungsmöglichkeiten für verschiedene Realitäten.
Es ist stets ein ambivalentes Gefühl, wenn ich Einladungen erhalte, um über Afghanistan zu sprechen. Einerseits freue ich mich darüber, dass Afghanistan angesichts der schwindenden Aufmerksamkeit noch vereinzelt auf dem Schirm ist. Andererseits überkommt mich dabei auch ein gewisses Unbehagen. Meiner Erfahrung nach geht es oft nicht darum, ein wirkliches Verständnis der Lage vor Ort zu fördern oder konstruktive Debatten zu führen. Stattdessen scheint es einmal mehr darum zu gehen, Stereotype und altgediente Ansichten über Afghanistan zu bestätigen. Am besten durch eine afghanische Frau.
Dass das irgendeine afghanische Frau sein kann, erlebe ich seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ständig. Manchmal erhalte ich Anfragen, bei der die Kontaktperson nicht einmal meinen Namen kennt. Nicht, dass man mich kennen müsste. Aber eine Idee davon zu bekommen, worüber ich inhaltlich referieren könnte, wäre zumindest eine Google-Suche wert. Meist sind die Anfragen vorhersehbar: eine monotone Obsession, die kaum verhüllt wird: die Lage afghanischer Frauen. Dabei sollen sich unsere Einblicke ausschließlich auf die Opferrolle beschränken, die uns zugeschrieben wird. Und meist geht es weniger um die politische Realität der Frauen unter der restriktiven Herrschaft der Taliban, sondern mehr um emotional aufgeladene Erzählungen, die eine moralische Überlegenheit des Publikums als Abbild der deutschen Dominanzgesellschaft ausdrücken sollen.
Folge ich Einladungen, kann ich die Enttäuschung im Publikum spüren, wenn ich mich weigere, auf die Tränendrüse zu drücken und „nur“ einen Überblick über die unterschiedlichen und äußerst prekären Realitäten von Frauen in Afghanistan verschaffe. Dabei ist mir durchaus zum Heulen zumute, wenn ausgerechnet weitere geladene Redner:innen rassistische Stereotype bedienen: afghanische Frauen werden zu Vertreterinnen „ihrer“ Gruppe gemacht. Die Erzählung, dass afghanische Frauen passive Opfer von Elend und Unterdrückungsind, entmündigt afghanische Frauen. Einerseits braucht es unbedingt Raum für unterschiedliche Positionen, doch die zugedachte Rolle der geladenen Gäst:innen, als Repräsentant:innen afghanischer Frauen zu sprechen, steht im krassen Gegensatz zur Tatsache, dass es die eine afghanische Frau nicht gibt. Auch ich will und kann nicht die Stimme afghanischer Frauen sein.
Taliban als Maßstab für Freiheit und Unterdrückung?
Wenn weitere Redner:innen geladen sind, wird mein anfänglicher Enthusiasmus schnell von einer Ambivalenz überschattet. Zwar bin ich erfreut darüber, dass verschiedene Stimmen gehört werden. Doch frage ich mich, ob die Redner:innen politisiert sind und sich einer potentiellen Instrumentalisierung widersetzen. Besonders beschämend und problematisch wird es, wenn der Versuch, „authentische“ Stimmen zu hören, letztlich einseitig dazu missbraucht wird, Stereotype über Frauen mit Fluchtgeschichte zu bedienen. Bei jeder Veranstaltung besteht die Gefahr, dass das starre Bild unterdrückter Frauen in Afghanistan bedient wird, die nun im „Westen“ alle Freiheiten genießen, nachdem die Taliban all ihre Träume zunichte gemacht haben.
Dass die Politik der Taliban menschenunwürdig und frauenverachtend ist, steht völlig außer Frage. Sie ist und bleibt inakzeptabel. Doch ihre Vergehen dürfen nicht als alleiniger Maßstab dafür gelten, wie es um die Selbstbestimmung von Frauen im Globalen Norden steht – oder wie die Situation vor der Machtübernahme der Taliban aussah. Gerade in einer Zeit, in der Angriffe auf postkoloniale Theorie und feministische Analysen Hochkonjunktur haben, weil sie die dominanten Narrative des Globalen Nordens kritisch hinterfragen, ist der Vorwurf des Islamismus oder Kulturrelativismus nicht weit. Übersehen wird, dass es letztlich um eine umfassende Kritik an Unterdrückung und der trügerischen Illusion eines Universalismus geht. Besonders im Kontext bestehender sozioökonomischer Machtgefälle.
Die Lebensrealität von Frauen ist weitaus komplexer und hängt von vielen Faktoren ab, die über Gender hinausgehen – sowohl in Afghanistan als auch im gesamten Globalen Norden. Auch im Globalen Norden gibt es erhebliche Missstände und Verbesserungsbedarf. Relativismus? Fehlanzeige. Weder die Herrschaft der Taliban kann als Maßstab dafür herangezogen werden, wie gut es um die Frauenrechte im Globalen Norden bestellt ist, noch kann der Status quo dort als Vorbild dienen, wie sich Afghanistan entwickeln sollte. Stattdessen muss die Forderung nach einer kohärenten, ganzheitlichen Kritik an allen Formen der Unterdrückung im Vordergrund stehen. Diese muss das Machtgefälle zwischen dem Globalen Norden und Süden einbeziehen.
Identitätspolitik für Privilegierte
Die Strategie, afghanische Frauen als Sprachrohr für eindimensionale und binäre Vorstellungen von Emanzipation zu instrumentalisieren, ist berechnend. Vor allem privilegierte Afghan:innen aus den Städten, die individuell vom „Krieg gegen den Terror“ profitierten oder sich zumindest wirtschaftlich von der Mehrheit absetzen, werden zur „Stimme“ afghanischer Frauen stilisiert. Gleichzeitig werden mehrfach marginalisierte und ökonomisch ausgebeutete Menschen, besonders aus ländlichen Regionen, oft übergangen oder überstimmt. Selbst wenn sich mehrfach marginalisierte Gruppen wie queere Menschen in diese Strategie einbinden lassen, bleiben ihre Privilegien meist verschleiert.
Teilweise habe ich sogar erlebt, dass ich mit Referent:innen auf dem Podium sitze, die mit Feuereifer von „Intersektionalität“ sprechen, darüber, wie unterschiedliche Diskriminierungsformen wie Gender, Race und Sexualität zusammenwirken. Was dabei jedoch katastrophal unter den Tisch fällt, sind die Kategorien Klasse und Kolonialismus. Diese eklatante Auslassung erklärt nicht nur die erschreckende Abwesenheit von Solidarität mit Gaza; sie zeigt auch, wie oberflächlich und selektiv der Kampf gegen Unterdrückung oft geführt wird. Vergessen wird auch vielfach, dass heutzutage selbst die PR-Abteilungen von Unternehmen den Begriff „Intersektionalität“ entdeckt haben – es aber nach wie vor unverhohlen um Profit und Gewinn geht, nicht um kollektive Befreiung.
Der neoliberale Ansatz dieser Stimmen unterdrückt nicht nur andere afghanische feministische Perspektiven, sondern wirkt sich auch unterdrückend auf die feministische Praxis mehrfach marginalisierter Frauen im Globalen Norden aus. So beispielsweise auf etwa Schwarze Frauen, die das Konzept der Intersektionalität geprägt haben. Schließlich wird die Trugvorstellung genährt, dass Gesellschaften im „liberalen Westen“ inhärent egalitär seien. „Westliche“ Rechtskonservative entdecken plötzlich den Feminismus für sich, treten als vermeintliche Feministen auf und missbrauchen die prekäre Lage der Frauen in Afghanistan, um zu suggerieren, dass es keine oder kaum Frauenfeindlichkeit im Globalen Norden gibt. Dabei wird unsichtbar gemacht, wie strukturell auch hier Frauenfeindlichkeit präsent ist, wodurch vor allem die kapitalismuskritischen Kämpfe mehrfach marginalisierter Frauen unter den Teppich gekehrt werden. Ein Bärendienst am Feminismus.
Ein Bärendienst am Feminismus
Der Missbrauch des Feminismus hat Methode und eine lange Geschichte. Der sogenannte imperiale Feminismus, die außenpolitische Version des weißen „Girl Boss“-Feminismus, diente seit jeher als Vorwand, um die Interessen des globalen Nordens zu verschleiern. Unter dem Deckmantel, Frauen vor „unzivilisierten“ Männern „retten“ zu müssen, geht es in Wahrheit nur darum, Macht auszuweiten und Ressourcen zu plündern. Besonders in der jüngeren Geschichte haben Afghan:innen einen hohen Preis für den Missbrauch im Zuge des „War on Terror“ gezahlt. Afghanische Frauen werden in diesem zynischen Spiel von reaktionären Kräften auf „beiden Seiten“ instrumentalisiert.
Es zeigt deutlich, wie nahe sich binäre und eindimensionale Betrachtungsweisen stehen und aufeinander angewiesen sind: Während der imperiale Feminismus dem kolonialkritischen Feminismus einer Nähe zum Islamismus bezichtigt, unterstellt die vermeintlich antikoloniale Haltung der Taliban feministischen Praktiken des globalen Südens eine Nähe zum imperialen Feminismus. In diesem perfiden Karussell von Vorwürfen und Verzerrungen wird eine kohärente, umfassende Kritik am Missbrauch von Feminismus und Frauenfeindlichkeit in Afghanistan gefährlich ausgehöhlt.
Diese doppelte Instrumentalisierung öffnet zudem die Tore für Opportunist:innen, die vom „War on Terror“ profitierten und heute im Sinne der Taliban auftreten. In diesem Sumpf wird schnell allen protestierenden Frauen in Afghanistan unterstellt, eine fünfte Kolonne westlicher Interessen zu sein. Damit geraten jene Frauen und ihre Strategien in den Hintergrund, die sich auf widerständige Weise, oft auch im Verborgenen und Abgrenzung zum „Westen“, gegen die Taliban stellen.
Frauen zahlen den Preis
Im Schatten der Herrschaft der Taliban offenbart sich eine Realität, die über einfache Mantras und binäre Betrachtungen hinausgeht. Der imperiale Feminismus hat in Afghanistan so viel Schaden angerichtet, dass Feminist:innen, die ganzheitlich Unterdrückung bekämpfen wollen, nun in die undankbare Situation gezwungen werden, Schadensbegrenzung zu betreiben. Da die Einforderung grundlegender Rechte wie höhere Bildung und gesellschaftliche Teilhabe von den Taliban als vermeintlicher Ausdruck fremder Werte diffamiert wird und Emanzipation für Frauen im Rahmen des „War on Terror“ missbraucht wurde, bleibt ihnen angesichts der Tatsache, dass die Taliban an der Macht sind und sich diese Realität voraussichtlich in naher Zukunft nicht ändern wird, nur noch Schadensbegrenzung. Sie sind gezwungen, hart und flexibel um ihre Existenz in der Gesellschaft zu verhandeln und eine Übereinkunft mit den Taliban zu finden, denn diese lassen sich nicht einfach wegwünschen. Afghanische Frauen zahlen doppelt und dreifach den Preis für den Missbrauch von Feminismus.
Während die unwürdige Politik der Taliban zweifellos verurteilt werden muss, müssen wir uns auch der Vielfalt der Strategien bewusst sein, die erforderlich sind, um diejenigen zu unterstützen, die den täglichen Realitäten in Afghanistan gegenüberstehen. Es wäre verantwortungslos, aus der Entfernung die Taliban zu verteidigen, genauso wie es verantwortungslos wäre, sich in einem realitätsfernen Aktivismus aus Exil und Diaspora gegen die Taliban potenzielle Einflussmöglichkeiten zu untergraben. Ein realistischer Blick auf die Lage ist entscheidend, um gezielt denjenigen zu unterstützen, die am meisten gefährdet sind und unter der ökonomischen Belastung am meisten leiden.
Besonders betroffen sind seit der Machtübernahme der Taliban Witwen und Alleinverdienerinnen. Ihre Geschichten und ihre Bedürfnisse dürfen nicht in der Debatte über afghanische Frauen verloren gehen. Sie zeigen uns klar, dass es nicht nur an den grundlegendsten Lebensbedürfnissen fehlt, sondern oft auch an den Mitteln zum bloßen Überleben. Daher braucht es umfassende Bestandsaufnahmen der unterschiedlichen Realitäten afghanischer Frauen, um mit Pragmatismus (aber auch Haltung!) ihnen beistehen zu können. Mit realitätsfernem Diaspora-Aktivismus und rassistischen Stereotypen ist afghanischen Frauen nicht geholfen.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.