19.05.2024
„Geld allein wird nicht viel ändern“
Dächer über Beirut. Foto: Rohling, B.
Dächer über Beirut. Foto: Rohling, B.

Die EU hat dem Libanon ein milliardenschweres Hilfspaket angeboten. Im Gegenzug soll das Land der irregulären Migration nach Europa entgegenwirken. Der Vorschlag löst vor Ort Kritik und vermehrte Feindseligkeiten gegenüber Syrer:innen aus.

Am 2. Mai 2024 kündigte EU-Chefin Ursula von der Leyen ein Hilfspaket von einer Milliarde Euro für den Libanon an. Das Land befindet sich seit 2019 in einer beispiellosen sozioökonomischen Krise und hat seit Oktober 2022 keinen Präsidenten mehr. Gleichzeitig leben seit Beginn des bewaffneten syrischen Konfliktes 2011 schätzungsweise 1,5 Millionen Syrer:innen im Libanon. Damit weist das kleine Land weltweit die höchste Flüchtlingszahl pro Kopf auf. 

Eine Milliarde Euro für den Libanon

Das von der EU zugesagte Hilfspaket soll die Grundversorgung im Libanon zwischen 2024 und 2027 finanziell stärken. Die Hilfe ist dabei insbesondere für die Bereiche Bildung, Gesundheit und Sozialschutz sowie für die am stärksten von der Krise betroffene Bevölkerung vorgesehen. Das tangiert u.a. Geflüchtete und Personen, die aufgrund des aktuellen Libanon-Israel Konfliktes an der südlichen Landesgrenze vertrieben werden. Darüber hinaus zielt das Finanzhilfspaket darauf ab, die nationalen Reformen, insbesondere im Bankensektor, zu unterstützen.

Im Gegenzug fordert die EU den Libanon auf, der irregulären Migration und den Schleuser-Netzwerken nach Europa entgegenzuwirken. Denn angesichts der Lebensbedingungen im Libanon versuchen, neben Libanes:innen, immer mehr Syrer:innen irregulär nach Europa zu migrieren – oft über den Seeweg von der libanesischen Küste aus nach Zypern.

Mit anderen Worten: Die EU will die libanesische Armee zur verstärkten Kontrolle der See- und Landesgrenzen finanzieren. Demgegenüber sollen legale Wege für Libanes:innen offen bleiben, z.B. durch Saisonarbeit. In ihrer Presseerklärung zum Treffen mit dem libanesischen Premierminister Najib Mikati und dem zypriotischen Präsidenten Nikos Christodoulides in Beirut merkt von der Leyen an: Es wäre doch „sehr hilfreich“, „wenn der Libanon eine Arbeitsvereinbarung mit Frontex abschließen würde“. Die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex ist für ihre Mitschuld an Menschenrechtsverletzungen gegenüber Migrant:innen an den EU-Außengrenzen und ihre Intransparenz bekannt.

Ähnliche Abkommen zur Regulierung von Migrationsbewegungen nach Europa gibt es bereits zwischen der EU und anderen Ländern wie Tunesien oder Mauretanien. Bislang waren diese Abkommen allerdings mit Menschenrechtsverletzungen, einer Aushöhlung des Asylschutzes und einer Unterminierung des internationalen Schutzsystems ohne Überwachungs- und Kontrollmechanismen verbunden.

Ambivalente Reaktionen auf den Flüchtlings-Deal

Das vorgeschlagene EU-Hilfspaket löst bei der libanesischen Regierung eine starke Gegenreaktionen aus. Einige der Politiker:innen bezeichnen das Geld als „Bestechung“, um die syrischen Geflüchteten und andere Migrant:innen im Libanon zu halten. Gebran Bassil, Vorsitzender der Freien Patriotischen Bewegung (FPM), bemerkte mit Verweis auf das Hilfspaket, dass der Libanon statt Geld eher eine politische Lösung für die Rückkehr der Syrer:innen in ihr Heimatland benötige. Auch der maronitische Patriarch Bechara al-Rai forderte die libanesische Bevölkerung auf, nicht auf die Verlockungen der Europäischen Kommission hereinzufallen, sondern sich vereint für die Rückführung der Syrer:innen einzusetzen. Mufti Ahmad Kabalan, Vorsitzender des höchsten schiitischen Religionsrates, bezeichnete den EU-Fond wiederum als „eine vergiftete Milliarde Euro“.

Der libanesische Premierminister Mikati äußert sich nach seinem Treffen mit von der Leyen hingegen diplomatischer. Er betont, dass das EU-Hilfspaket ohne weitere Bedingungen gewährt werden würde. Gleichzeitig bleibe die libanesische Regierung entschlossen, illegalisierte syrische Geflüchtete nach Syrien zurückzuschicken.

Syrer:innen zunehmend von Anfeindungen und Abschiebungen betroffen

Neben Kritik in der Regierung löst das geplante EU-Libanon Abkommen eine weitere Welle der Feindseligkeit gegenüber Syrer:innen aus, die sich bereits seit Anfang April 2024 verstärkt hatte. Die Diskriminierung zeigt sich unter anderem in Versammlungsverboten, Ausgangssperren oder in der umgehenden Meldung verdächtiger Handlungen an die Behörden. Grund für diese erneuten Spannungen im April war die Ermordung von Pascal Sleiman, einem Beamten der libanesischen Streitkräfte (LF). Für die Tat wurde eine Gruppe von Syrern beschuldigt. Angesichts der zunehmenden Anfeindungen auf der Straße berichteten mehrere in Beirut lebende Syrer:innen, sie fühlten sich nicht sicher genug, um ihre Häuser zu verlassen.

Human Rights Watch weist zudem auf willkürliche Inhaftierungen (auch von syrischen Armeeüberläufern und Oppositionsaktivist:innen), Folter und Zwangsrückführungen von im Libanon lebenden syrischen Migrant:innen hin. Nach Angaben des UNHCR drohte 2023 rund 13.772 Syrer:innen die Abschiebung – obwohl Syrien weiterhin als zu unsicher für eine Rückführung gilt.

Yahia Hakoum doktoriert zur syrischen Revolution und hat einen Hintergrund in Politikwissenschaften und Internationalen Beziehungen. Seiner Einschätzung nach akzeptiert „die libanesische Regierung Syrer:innen nicht als Flüchtlinge.“ Das sei ein Fakt, an dem auch kein Geld aus der EU etwas ändere. Hakoum ordnet ein: „Natürlich verwendet die Regierung die syrischen Geflüchteten gerne als Aushängeschild, um Gelder der EU und den Vereinten Nationen zu erhalten. Gleichzeitig haben sie bisher nichts unternommen, um den Syrer:innen im Libanon ein Leben in Würde zu bieten. Ganz im Gegenteil, die Rückführung und Anfeindung von Syrer:innen sind Teil der politischen Kampagnen im Libanon.“

Was bedeutet der geplante EU-Deal für Syrer:innen im Libanon?

Trotz der unsicheren Bedingungen in Syrien sieht das geplante EU-Libanon-Abkommen die Prüfung eines „strukturierteren Ansatzes für die freiwillige Rückkehr nach Syrien“ in Zusammenarbeit mit dem UNHCR vor. Solche Vorhaben bergen das Risiko, dass syrische Flüchtlinge zwangsweise zurückgeführt werden. Damit wird die EU möglicherweise einmal mehr Komplizin in der Verletzung des internationalen Rechts und des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung.

Um weitere Diskriminierung und Gewalt gegenüber Syrer:innen im Libanon sowie rechtswidrige Abschiebungen zu vermeiden, fordert Human Rights Watch mehr Menschenrechtsschutz sowie unabhängige Kontrollmechanismen und Berichterstattung. Kann das EU-Libanon-Abkommen dies in einem Land gewährleisten, das für seine korrupte Regierung bekannt ist?

Yahia Hakoum meint dazu: „Klare Regeln und Mechanismen der EU gegenüber der libanesischen Regierung könnten Syrer:innen Schutz bieten und die Welle an Rassismus in der libanesischen Politik und in den Medien verringern. Ehrlich gesagt denke ich aber nicht, dass die nötigen Schutz- und Kontrollmechanismen wirklich in Betracht gezogen werden im Fall des EU-Libanon Deals. Meiner Meinung nach wird das Geld eher in den korrupten Staatsmechanismen untergehen, aber zu keiner wirklichen Veränderung beitragen. Das haben bereits ähnliche Deals mit Libyen, Tunesien oder Ägypten gezeigt.“

Er ist davon überzeugt, dass die Migrations- und Flüchtlingskrise nicht mit Geld allein bewältigt werden kann. „Selbst wenn die EU Gelder an den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad vergeben würde, um die Migration zu stoppen, würde dies das Problem nicht lösen“, so Hakoum. Stattdessen brauche Syrien „eine langfristige und solide politische Lösung. Dann könnte auch die Rückkehr der syrischen Bevölkerung besprochen werden.“

Parlamentssitzung im Mai erzielt noch keine Entscheidung

Ob das EU-Hilfspaket vom Libanon angenommen wird, steht noch nicht fest. Am 15. Mai fand jedoch eine erste Parlamentssitzung aller politischen Figuren im Libanon statt, um die angebotenen EU-Gelder und die Frage der syrischen Geflüchteten zu diskutieren. Die Sitzung zielte darauf ab, die dem Abkommen bisher kritisch eingestellten Parteien in einer Entscheidung zu einen. Denn angesichts seiner finanziellen Krisenlage kann es sich der Libanon kaum leisten, das Hilfspaket auszuschlagen. Damit würde es seine Beziehungen zur EU, insbesondere hinsichtlich der Flüchtlingsfrage, aufs Spiel setzen.

Mikati, der die Sitzung leitete, unterstrich daher, dass die EU-Gelder halbjährlich evaluiert und an die Bedürfnisse des Landes angepasst werden würden. Die restliche Sitzung fokussierte mögliche Maßnahmen gegenüber der im Libanon lebenden Syrer:innen. Allerdings blieben die Politiker:innen bezüglich einer endgültigen Entscheidung zum EU-Hilfspaket vage.

 

 

 

Bruna Rohling hat Stadtplanung in Berlin, Trondheim und Beirut studiert. Bei dis:orient liegt ihr Fokus auf Stadtentwicklung, Migration und Umweltgerechtigkeit in WANA. Bruna ist Doktorandin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich im Bereich Stadtentwicklung und -politik.
Redigiert von Claire DT, Jasmin Schol