Die arabische intellektuelle Community in Berlin muss sich einen Namen, eine Form und eine Art von Mandat erarbeiten. Das könnte eine Denkschule, eine politische Philosophie oder sogar eine ideelle Bewegung beinhalten – alle gegenseitig bereichert durch eine tiefere Auseinandersetzung mit der arabischen Welt. Von Amro Ali
“These streets lose themselves in infinity … a countless human crowd moves in them, constantly new people with unknown aims that intersect like the linear maze of a pattern sheet.” – Siegfried Kracauer on Berlin, “Screams on the Street” (1930).
Die arabische Zukunft aus dem festen Griff des politischen Bankrotts und moralischen Morast herauszurenken mag abwegig und in die Sphäre donquichottischer Träume verbannt erscheinen. Doch muss das so sein? Wenn Gemeinschaften unbeständig sind, Widerstände losgetreten werden, ein Chor von Stimmen aufflammt; wenn Wellen von Körpern für Gerechtigkeit in Bewegung gesetzt und eine Reihe an Emotionen geweckt werden, auch wenn sie kein Begehren mehr haben: Kann der anhaltende Ansturm auf die Realität dann nicht auch das politische Denken neu beleben?
Der Festzug des Herausrenkens, der sich 2011 materialisierte, wurde seitdem brutal zum Entgleisen gebracht. Um auf dieser langen Reise zur politischen Erlösung einen erneuerten und kohärenten Ausgangspunkt zu finden, ist ein "Wir" erforderlich. Dieses speist sich aus neuen politischen Ideen, kollektiven Praktiken und überzeugenden Erzählungen, die derzeit in einer weit entfernt und sicheren Stadt re-konstruiert und zum Leben erweckt werden.
In Berlin erkennt die/der neu angekommene Araber*in plötzlich (aber nicht immer), dass die so schmerzhaft von zu Hause geerbte Gewohnheit, voller Angst über die Schulter zu schauen, allmählich nachlässt. Währenddessen beginnt langsam eine neue Morgendämmerung, wenn sich Gleichgesinnte in dieser neuen Stadt treffen: Tatsächlich ist Berlin nicht nur eine Stadt. Es ist ein politisches Labor, das eine neue Art von Anfang durchsetzt, ein Labor, das Köpfe in Richtung der Dinge dreht, die größer als das Individuum sind; und es erzeugt die Erkenntnis, dass die graue Unschärfe, die die Zukunft mit Abscheu bedeckt, tatsächlich aufgebrochen werden kann.
Nach den arabischen Aufständen von 2011 und ihren unzähligen tragischen Folgen war Berlin strategisch und politisch reif, um als Exil-Hauptstadt in Erscheinung zu treten. Seit einiger Zeit gibt es dort eine wachsende arabische intellektuelle Community, deren politische Dimensionen sich zunehmend herauskristallisieren, was ich mit diesem Essay weiter ergründen möchte.
Wenn der Sturm der Geschichte eine tektonische politische Krise ausbrechen lässt, von Revolutionen über Kriege bis hin zu völliger Verfolgung, kann eine bestimmte Stadt in der Folge als Gravitationszentrum und Zufluchtsort für intellektuelle Exilanten dienen. Das ist zum Beispiel das, was New York für jüdische Intellektuelle war, die in den 1930er Jahren aus Europa flohen, und was Paris für lateinamerikanische Intellektuelle wurde, die in den 1970er und 1980er Jahren vor den Diktaturen ihres jeweiligen Landes flohen.
Vor dem Hintergrund dieser historischen Präzedenzfälle muss die arabische intellektuelle Community in Berlin sich selbst besser verstehen, von einer Steuerung per Autopilot abkehren und sich aktiv mit politischen Fragen auseinandersetzen, die sich ihr stellen. In der Tat besteht eine dringende Notwendigkeit für diese Community, sich einen Namen, eine Form und eine Art von Mandat zu erarbeiten. Mit Blick auf ein mögliches langfristiges Ergebnis, könnte das eine Denkschule, eine politische Philosophie oder sogar eine ideelle Bewegung beinhalten – alle gegenseitig bereichert durch eine tiefere Auseinandersetzung mit der arabischen Welt.
Es geht dabei sicherlich nicht darum, Revolutionen und Aufstände herbeizurufen oder in das abgestandene Gerede von institutionellen Reformen zurückzufallen. Im Gegenteil, es muss eine Abkehr von dieser müden Transformationsrhetorik geben - weg von quantifizierbaren Machtdynamiken, die sich nicht mit tiefer gehenden Themen befassen, hin zur existentiellen Ebene, die den transnationalen arabischen Raum unterstützt. Genau in diesem Bereich belebt der Strom des menschlichen Lebens eine Sprache des Bewusstseins und die immer wiederkehrende Entschlusskraft hilft, die Räume der Würde für die Mitmenschen zu erweitern. Doch: Dieses Gebiet wird derzeit von einer Sturzflut an moralischem Elend und spiritueller Krise verwüstet.
Freiheit als Wanderin
Hier sind wir also: Zwischen den lebhaften Eigenheiten Berlins und einer arabischen Community, die über "gewöhnliche" diasporischer Pfade hinauswächst, liegt der Reiz des politisch Möglichen.
„Ich bin in Tunesien geboren, habe in Ägypten gelebt und in Libyen mein Blut vergossen. Ich wurde im Jemen geschlagen und habe Bahrain durchquert. Ich werde in der arabischen Welt groß werden, bis ich Palästina erreiche. Mein Name ist Freiheit.“ Diese beliebte Aufzählung und Variationen davon waren im Februar 2011 in der gesamten arabischen Welt zu hören, als die Hoffnung auf eine Revolution nach dem Sturz von Tunesiens Zine El Abidine Ben Ali und Ägyptens Hosni Mubarak ihren Höhepunkt erreichte. In ihr ist die Freiheit eine Wanderin, die Ansteckungsmöglichkeiten mit sich bringt, wenn sie über arabischen Grenzen hinweg herumstreift.
Syrien ist im Vers noch nicht inbegriffen. Der revolutionäre Moment dort würde im März 2011 beginnen, und es würden die Syrer*innen sein, die den höchsten Preis für eine kurzweilige Euphorie zahlten, die sich bald im Orbit tatsächlicher Veränderungen verflüchtigte. An ihrer Stelle wurde die wandernde Freiheit zu einem dystopischen Monster, als Hunderttausende gezwungen wurden, selbst Wander*innen zu werden. Das Mittelmeer, lange für seine Anmut und Pracht gepriesen, wurde zu einem Gräberfeld für Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit fliehen.
Getragen von den Wellen an Geflüchteten, zog es unter anderen einen intellektuellen Strom von Akademiker*innen, Schriftsteller*innen, Poet*innen, Bühnenautor*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen aus der gesamten arabischen Welt nach Berlin als Zufluchtsort und -stätte. Dies geschah vor dem Hintergrund einer seit langer Zeit bestehenden türkischen Präsenz (initiiert durch das Anwerbeabkommen 1962) und der Aufnahme von Geflüchteten durch Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2015, die die arabische Übergangsphase nach 2011 zum Teil prägte.
Als neue geografische, soziale und kulturelle Bedingungen eine Rekonstruktion von Visionen und Praktiken erforderten, begann ein einzigartiges arabisches Milieu Gestalt anzunehmen. Die Exil-Szene entstand auf der Glut und Asche einer verwüsteten arabischen Öffentlichkeit, die im Inferno von Konterrevolutionen, Razzien, Kriegen, Terrorismus, Coups und regionaler Unruhe brannte. Es war diese Öffentlichkeit, an deren Eindämmung autoritäre Regime hart gearbeitet hatten und für deren Rückgewinnung ganz normale Menschen mutig kämpften. Tunesiens Mohamed Bouazizi hat sich Ende 2010 in Brand gesetzt und seither Möglichkeiten für Forderungen und Kämpfe eröffnet.
So wurden die Neuangekommenden in Berlin unter die Last neu gewonnener politischer Verpflichtungen gegenüber ihren Herkunftsländern geworfen. Immerhin sind sie mit einem schuldbewussten Gefühl von unerledigten Angelegenheiten aufgebrochen. Die arabischen Aufstände führten zu einer Kluft zwischen dem „nicht mehr“ und dem „noch nicht“[1] Die/der Einzelne ging von der Knechtschaft zur Freiheit über, wodurch die Ketten der Arbeit und der biologischen Bedürfnisse durchbrochen wurden. Die Vorstellung davon, wie Menschen in Freiheit gedeihen und durch ihre Fähigkeit zu einem Neuanfang kommen können, wurde dann jedoch vom Gewicht des Kampfstiefels niedergetrampelt und vom Schlag des Richterhammers zum Schweigen gebracht.
Doch in dieser historischen Zäsur blühten die individuelle Größe und die Leidenschaft für die öffentliche Freiheit auf, während sich durch das Tränengas in den Straßen, Protesten und Kaffeehäusern eine neue Eigenschaft bildete. In einer wunderbaren Transformation konnten sie "ihr Selbst aus der Zeit vor 2011 nicht mehr erkennen"[2] So ging die Ankunft in Berlin nicht nur mit einem unvollständigen politischen Bewusstsein einher, sondern auch mit dem Bemühen, sich der Rückkehr zu der „schwerelosen Irrelevanz ihrer persönlichen Angelegenheiten"[3] zu widersetzen, wie es die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt formuliert. Dies bezeichnet ein vor-politisches Gespenst, das den Einzelnen aus der kollektiven Handlungskraft herausreißt und seine Biographie aus der Geschichte löscht. Das heißt, der Geist von vor 2011 spukt immer noch in der arabischen Community herum während sie sich in Berlin niederlässt und lernt, sich im Spannungsfeld der Gastfreundschaft und Feindseligkeit zu bewegen.[4]
Einerseits navigierte diese neue Community zwischen der Unterstützung durch und der Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen, Zivilgesellschaft, Universitäten, Kulturräumen, linker Politik, Kirchen, Moscheen, der großen türkischen Gemeinde und einem schwankenden deutschen Gefühl von Verantwortung für die Flüchtlingskrise.
Andererseits ist die arabische Gemeinschaft durch den lokalen Rassismus bedroht, durch eine wachsende rechtsextreme Bewegung in Form der Alternative für Deutschland (AfD), sowie durch arabische Botschaften, ausländischen Sicherheitsbehörden und reaktionäre Teile der Diaspora. Darüber hinaus werden ihre Mitglieder durch das moderne Unwohlsein des "Inferno of the Same" gelähmt und desorientiert. So beschreibt der in Berlin lebende südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han passend eine Welt unaufhörlicher Wiederholung ähnlicher Erfahrungen, die sich als Neuheit und Erneuerung maskieren.
Folglich sehen wir, wie die Liebe - mit all ihren Eigenschaften von Verpflichtung, Intimität, Leidenschaft und Verantwortung - damit kämpft, in einer Welt der "endlosen Wahlfreiheit, des Überflusses an Optionen und des Zwangs zur Perfektion”[5] durch die Reihen von Beziehungen bis zum Aufbau von Communities anzuschwellen.
Die Fragmentierung wird nicht nur durch Umbrüche im Zuge von Exil und Transition angeheizt. Die/der Einzelne kämpft auch darum, eine Position gegenüber einer Welt auszuarbeiten, die immer lauter und verschwommener geworden ist. Eine Welt, die die einst nachvollziehbare Beziehung zwischen Zeit und Raum durcheinander gebracht hat, die nun unter dem neoliberalen Sturm verantwortungsbewusste Bürger*innen in hyperindividuelle, selbstsuchende Konsument*innen verwandelt, indem sie eine künstliche Einheitsgröße absondert, die jeder Wiederholung von Verhalten entspricht, das tiefere Formen der Einheit und einen Gemeinschaftsgeist ausschließt.
Dennoch entfaltet sich die arabische Community - allen Herausforderungen zum Trotz - im Schatten komplexer gesellschaftspolitischer Ökologien und weitreichender Verflechtungen, die in der modernen Geschichte wohl einzigartig sind. Bisher haben die meisten erzwungenen arabischen Migrationen in Bezug auf ein bestimmtes Land und eine bestimmte Ära stattgefunden, wie z.B. die Libyer*innen, die in den 1970er Jahren vor dem Regime von Gaddafi oder die Libanes*innen, die in den 1980er Jahren vor dem Bürgerkrieg flohen. Zudem wurde die transnationale arabische Migration in die Golfregion hauptsächlich durch wirtschaftliche Faktoren angeregt, ganz zu schweigen von ihrem Aufenthaltsstatus, der jegliche politische Ansprüche unterbindet. Im Gegensatz dazu erleben wir derzeit den ersten zeitgleichen panarabischen Exodus, der aus dem arabischen Frühling geboren wurde und sich überschneidende Legitimierungen jenseits von Kultur, Religion, Nationalität und Wirtschaft vereint.
Dieses neue Exil-Wunder braut sich in einem kulturellen Wandel mit Fragen zusammen, die gerade erst auftauchen. Exil meint hier mit Edward Said "die unheilbare Kluft zwischen einem Menschen und einem Herkunftsort, zwischen dem Selbst und seiner wahren Heimat”.[6]Hinzu kommt, dass das Exil unabhängig davon eintritt, ob man aus der Heimat vertrieben wurde, in einem rechtlichen Schwebezustand lebt, an der Universität studiert oder sogar kürzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hat. Wir sprechen über das Exil als Geisteszustand,[7] in dem, selbst wenn du keiner politischen Verfolgung ausgesetzt wärest, wenn du in dein Herkunftsland zurückkehrst, du dich immer noch von einem System entfremdet fühlen würdest, das deinen innewohnenden oder erlernten höheren Ideale keinen Platz gibt.
So habe ich beispielsweise Ende 2015 an der Vorführung eines syrischen Films in Kreuzberg mit dem Titel “True Stories of Love, Life, Death and Sometimes Revolution” teilgenommen. Während der Fragerunde fragte ein Landsmann im Publikum den Co-Regisseur des Films, Nidal Hassan, "Was können wir syrische Künstler*innen jetzt überhaupt tun, wenn wir im Exil sind?” Hassan antwortete hinreißend: "Wir waren auch in Syrien im Exil.... wir müssen nur weiterhin die Welt durch unsere Praktiken verändern."
Aus einer anderen Perspektive beschreibt Dina Wahba, ägyptische Doktorandin an der Freien Universität Berlin, bewegend das Exil-Bewusstsein: "Ich gehe raus, sehe mich um und erkenne, wie schön es ist. Ich fühle mich schuldig, dass ich hier bin, während einige meiner Freund*innen in dunklen Zellen sitzen. Ich fühle mich zudem schuldig, dass ich hier bin und all diese Schönheit nicht genieße. Eine lähmende Angst hat das Mittelmeer überquert und mich in ihren Bann gezogen. Angst ist eine seltsame Sache. Ich kann nicht nach Hause, aber ich kann hier auch kein Zuhause schaffen." [8]
So wird die Exilerfahrung in Berlin durch ein breites emotionales Spektrum vertieft: Von einer alles verzehrenden Überlebensschuld gegenüber den Zurückgebliebenen bis hin zu einem angenehmen Spaziergang durch den Tiergarten, bei dem ein nagender Gedanke flüstert: "Wenn wir bloß in Kairo so große freie, unbehelligte Räume zum Atmen hätten".
Punkte zu Bedeutungslinien zusammenführen
Das arabische Berlin hat seit 2011 eine Reihe energetischer kreativer und intellektueller Nischen hervorgebracht. Allerdings fehlt etwas an diesen hyperpräsenten Momenten: Die dynamischen Räume, vom Theater über die Wissenschaft bis hin zum Freiwilligendienst der Zivilgesellschaft, sind fragmentiert und kommunizieren kaum miteinander - ganz zu schweigen von der Entkoppelung von der übrigen arabischen Community. Man kann nicht umhin zu spüren, dass die kreativen und intellektuellen Bemühungen in eine Leere geworfen werden, anstatt von einer größeren politischen Strömung aufgenommen zu werden, die diese Erfahrungen sammeln und sie zu einer übergeordneten Erzählung zusammenführen kann.
Dieses Problem, wenn wir es so nennen können, ist den inhärenten Widersprüchen der Stadt nicht unbekannt. Seltsamerweise hallt darin immer noch Siegfried Kracauers Essay "Repetition" von 1932 wider. Der Kulturkritiker und Filmtheoretiker schrieb, Berlin “is present-day and, moreover, it makes it a point of honour of being absolutely present-day… His [the inhabitant’s] existence is not like a line but a series of points… Many experience precisely this life from headline to headline as exciting; partly because they profit from the fact that their earlier existence vanishes in its moment of disappearing, partly because they believe they are living twice as much when they live purely in the present.”[9]
Die Ironie ist also, dass die Stärke des Berliner Sturms, der die kreativen und intellektuellen arabischen Energien entfesselt, zugleich seine Auflösung ist, da seine intensive Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft bricht. Das heißt, das Exil könnte nach der Gegenwart streben, um dem Trauma oder der lähmenden Melancholie zu entkommen oder zu betäuben, indem es die Vergangenheit heimsucht und sich bemüht, die Zukunft zu sättigen. Doch das kann oft bedeuten, dass das Selbst auf individuelle Interessen reduziert wird und die aufregende Gegenwart nur als ein euphorischer Deckmantel des kollektiven Fortschritts dient.
Wie der verstorbene Soziologe David Frisby über Kracauers Idee schreibt, ist die Krux folgende: “This moment of presentness itself, however, never remains present. It is always on the point of vanishing. Hence the endless search for the ever-new and the permanent transformation of consciousness of time in metropolitan existence.”[10]Dadurch entsteht die Notwendigkeit, das nächste Projekt zu verfolgen oder den nächsten Geldgeber zu finden, was nicht nur von der Begeisterung motiviert, sondern auch dem heutigen Bild des unternehmerischen Selbst geschuldet ist. Indem es sich bei der jeweiligen Unternehmung selbst ausbeutet, wird das Individuum zu "Meister und Sklave in einem" gemacht. [11]
Dennoch ist Begeisterung eng mit einer nicht enden wollenden Gegenwart verbunden. Deshalb kommen Fragen auf: Wie unterbricht man diese endlose Fluktuation und das "Recycling" von Gegenwarten? Wie kann man eine lebendige Gegenwart thematisieren, die irgendwie gebrochen scheint, da sie auf der Vergangenheit aufbaut und in die Zukunft steuert? Wie versperrt man die Falle, die den arabischen Berliner erfasst? Wie also lassen sich die verstreuten Bezugspunkte des Individuums, auf die Kracauer angespielte, verändern, so dass sie sich auf eine sinnvolle Linie zu bewegen - eine Linie, die die Beziehung der Exilant*innen nicht nur im Bezug auf ihre Lebenswege, sondern auch zu einem existenziellen Verständnis eines Gemeinwesens erhöht, das möglicherweise wiederum eine Erzählung vorantreibt, die größer als die des Individuums ist?
Eine Möglichkeit, dieses Gemeinwesen zu verstehen und den Eingriff Berlins in diese neuartige Community ebenso zu würdigen wie die Versuche ihrer Mitglieder, die Bedeutung ihrer neu gefundenen Rollen und des sie prägenden politischen Umfelds zu verdeutlichen, wäre vis-à-vis anderer Städten. Dies dient dazu, den “Elefanten im Raum” zu untersuchen, wenn auch mit Bedacht: Warum können andere westliche Städte mit großer arabischer Bevölkerung nicht als Zentrum des intellektuellen Exils dienen?
Die Berliner Anomalie
Westliche Städte wie London, Paris und New York wären angesichts der großen Anzahl von Araber*innen, die in ihnen leben, die zu erwartenden intellektuellen Zentren nach 2011 gewesen. Dennoch sind sie alle offensichtlich hinter Berlin zurückgeblieben. Dies lässt sich nicht einfach mit der dynamischen Vielfalt und der Kulturproduktion erklären, die in keiner dieser drei Städte fehlt. Vielmehr scheinen sie alle eine relative Abwesenheit von Zutaten zu haben, die zur Entfaltung einer vollwertigen politischen Exil-Community führen, wie wir sie in Berlin erleben.
Zunächst scheint es eine verbreitete Ansicht unter arabischen und muslimischen Gruppen zu geben, dass London von der Muslimbruderschaft und Islamisten dominiert wird, während Berlin mehr Raum für Pluralismus bietet. Aber Londons größte Hürde könnten in der Tat die hohen Lebenshaltungskosten sein. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Man muss es sich zweimal überlegen, bevor man ein teures Londoner U-Bahn-Ticket kauft. Im Gegensatz dazu sind die Berliner U- und S-Bahnen bezahlbar, was angesichts der Notwendigkeit von Mobilität für das Community-Building Bände spricht. Die Auswirkungen des Brexits haben auch die Großstadt London in vielerlei Hinsicht geschwächt und die ohnehin schon schwierige Einreise mit einem Visum weiter erschwert.
Paris ist zwar bei algerischen, tunesischen, marokkanischen, libanesischen und syrischen Intellektuellen beliebt, wird aber im Allgemeinen als abgeschottet und nur für die französischsprachige Welt zugänglich betrachtet. Außerdem wird das historische Erbe des Kolonialismus jede Initiative, die aus London und Paris kommt, grundsätzlich beeinträchtigen. Während New York von der US-Außenpolitik und der jetzigen Regierung überschattet wird, macht der Sicherheitsapparat zudem die Einreise mühsam. Darüber hinaus erschweren hohe Lebenshaltungskosten und die Entfernung zur arabischen Welt die Attraktivität der Stadt.
Um deutlich zu sein: Es gibt kulturelle Trends, die sich seit 2011 in all diesen Städten entfalten und ähnliche Formen von Community-Building hervorrufen könnten. Aber die kulturelle und politische Dynamik, die sich in Berlin manifestiert und mit Wirkungsstärke und Kreativität durch weitreichende Unterstützung von Institutionen und Graswurzel-Bewegungen gefördert wird, fordert Berlin und die arabische Exil-Szene auf, sich einem gemeinsamen Austausch zuzuwenden.[12] Wenn man genau hinhört, hallen die Hufschläge der arabischen Geschichte aus Berlin stärker nach, als aus allen seinen westlichen Pendants.
In diesem Zusammenhang wird häufig Istanbul als das neue Exil-Zentrum gepriesen. Tatsächlich könnte es leicht mit Berlin konkurrieren, gäbe es nicht ein paar bequemerweise übersehene Umstände. Arabische Aktivitäten werden weitgehend geduldet, solange sie ideologisch mit Erdogans illiberaler Regierung übereinstimmen oder ihr nicht widersprechen. Man könnte die Frage stellen, warum es ein Problem sein sollte, wenn ein gnädiger Gastgeber es einer arabischen Gemeinschaft zu gedeihen ermöglicht, die sich ohnehin nur mit ihren eigenen Fragen befasst?
Erstens lenkt dieser egoistische Ansatz von der düsteren Realität ab, in der türkische Wissenschaftler*innen und Journalist*innen zensiert oder inhaftiert werden - eine ernste Angelegenheit, die für die demokratischen Bestrebungen vieler Araber*innen Bedenken auslösen sollte. Es ist eine Sache und zudem verständlich, einem majestätischen Istanbul gegenüber dankbar zu sein, das einem Unterkunft und die Freiheit gibt, sich zu entfalten. Doch ist es eine beunruhigende Heuchelei, die Stadt als freies intellektuelles Zentrum zu loben und gleichzeitig die türkischen Bürger*innen zu ignorieren, die angegriffen werden, weil sie Gedanken äußern, die von der offiziellen Linie abweichen. Grundwerte, die derart drastisch kompromittiert werden, sind keine Werte mehr, sondern eher wie Hobbys. Ein drakonisches Milieu, das seine Auswirkungen auf die türkische Gesellschaft preisgibt, verzerrt daher unvermeidlicherweise auch die arabische intellektuelle Entwicklung und wird es letztlich erschweren, eine bessere Repräsentation von Exil-Stimmen und Denkprozessen zu erreichen.
Angesichts der brutalen Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul fragt man sich, ob die verstrickten Beziehungen der Türkei innerhalb der Region Istanbul genügend geografische und mentale Distanz bieten, um prüfenden Blicken zu entkommen. Hätte diese grausame Tat in der saudi-arabischen Botschaft in Berlin stattgefunden, hätte man vernünftigerweise davon ausgehen können, dass sie einen höheren Preis für den saudischen Kronprinzen gehabt hätte. Das Gewicht von Deutschland und der EU hätte ausreichen können, um ein geplantes Attentat zu verhindern oder zu verschieben.
Dies schließt nicht aus, dass die arabische Community in Istanbul ein enormes Potenzial besitzt. Schließlich sah Khashoggi selbst die Stadt als „Basis für einen neuen Nahen Osten.“[13] Es ist nur so, dass die gegenwärtige politische Konstellation viele Ausbrüche von Skepsis mit sich bringt, die besser verstanden, diskutiert und sorgfältig durchdacht werden müssen. Wenn also die derzeitigen Entwicklungen anhalten, können wir somit erwarten, dass in ferner Zukunft aus Berlin und Istanbul zwei konkurrierende arabische Denkschulen hervorgehen werden.
Doch anders als Istanbul, London, Paris und New York (und damit den USA), die keine historische "Neutralität" für sich beanspruchen können, funktioniert die Rolle Berlins seltsam gut, da sie mit einem besonderen Hintergrund verbunden ist: Die zeitgenössische arabische Einstellung gegenüber Deutschland basiert auf der Auffassung, Deutschland habe arabische Länder nie kolonisiert oder angegriffen. Dem Afrikakorps 1941-43 wird in der arabischen Geschichtsschreibung wenig Aufmerksamkeit geschenkt (was jedoch nicht von den dunklen Beziehungen ablenken sollte, die einige arabische Eliten mit Nazideutschland hatten).
In anderen Worten, Deutschland war weder eine Kolonialmacht wie Frankreich oder Großbritannien, noch hat es eine aggressive Außenpolitik wie die USA, geschweige denn eine Ambivalenz wie die Türkei. Aus dieser negativen Bewunderung, die in der gängigen arabischen Weltanschauung selten in Frage gestellt wird, leiten sich arabische Einstellungen ab. Das verschleiert jedoch heimliche koloniale Bemühungen, denen es an Theatralik mangelt. Deutsche Unternehmen wie Siemens und ThyssenKrupp sind seit langem in die "koloniale Dynamik der ökonomischen Unterwerfung" verwickelt, die beispielsweise Ägyptens chronische Unterentwicklung, Korruption und sogar das verzerrte "technologische Verständnis der Moderne" verstärkt, wie Omar Robert Hamilton argumentiert.[14] Doch Deutschland kommt unbeschadet davon und wird als Land der Organisation, Disziplin, Effizienz und Mercedes Benz gelobt.
Das Bild von Deutschland in der öffentlichen Wahrnehmung ruft selten die Art von Streitigkeiten oder Widerstand hervor, die arabische Sicherheitskräfte oder Aktivisten reizen würden. Das Paradoxe an seiner Macht ist daher, dass die von Deutschland in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts begangene Barbarei an der arabischen Welt vorbei ging. Obwohl der deutsche Orientalismus der arabischen Wissenschaft nicht unbekannt ist, wird dies in arabischen akademischen Kreisen und der arabischen Vorstellung von Deutschland für gewöhnlich nicht oder gar unmittelbar verurteilt – ein Glücksfall für Deutschland.[15] Selbst Deutschlands starke Unterstützung Israels löst nicht das gleiche Maß an arabischem Zorn aus wie gegenüber den USA und Großbritannien, zum Teil wegen der stichhaltigen populären Ansicht, dass Deutschland durch historische Schuld dazu gezwungen sei. In gewisser Weise ist Deutschland also vorbehaltlich, wenn nicht sogar zähneknirschend, aus dem Schneider.
Vor allem die Stadt
Dabei geht es jedoch mehr um Berlin als um Deutschland. Eine Stadt verdichtet nicht nur Dynamiken der Community-Buildings, sondern wird immer zeitlos als „wichtiger Kristallisationspunkt der menschlichen Zivilisation und ihrer Unzufriedenheit“[16] existieren. Durch die Annäherung an Berlin als politisches, soziales und kulturelles Labor wird es möglich, die gegenwärtige arabische Community zu beleuchten, die von einem historischen Muster von Orten der Zuflucht und der Handlungsmacht des Exils geprägt ist.
Der deutsche Kunstkritiker Karl Scheffler verewigte 1910 die Essenz der deutschen Hauptstadt mit den Worten, Berlin sei „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein.“[17] Was Scheffler wegen des "Mangels an organisch entwickelter Struktur" der Stadt als Nachteil sah, entpuppte sich letztlich als versteckter Vorteil.[18] Wie der deutsche Schriftsteller Peter Schneider feststellt, umfasst das Wort werden Vorstellungen wie den "Scheitelpunkt des Werdens", "Aufstreben" oder "das neue Berlin" - die hemmende Anstrengung sich zu verwandeln, aber die Verwandlung noch nicht ganz erreicht zu haben.
Die Thematik des Schwellenzustands steht in starkem Einklang mit der Vorstellung, die die wachsende arabischen intellektuelle Community im Bezug auf Wiederaufbau, Wandel und Werden hat. Berlins Unvollkommenheit, Skizzenhaftigkeit und Unvollständigkeit vermitteln ein Gefühl von Freiheit und Wachstum, das die kompakte Schönheit von London oder Paris nie bieten kann. Wenn jeder Ort „perfekt restauriert“ ist, kann dies zu Ausgrenzung und dem Gefühl führen, alle Orte seien besetzt.[19] So wie Kracauer sowohl die intensive als auch die verschwindende "Gegenwärtigkeit" Berlins verherrlicht und betrauert, wird sie durch Scheffler ungewollt reingewaschen. Er weist auf eine Sphäre an Möglichkeiten hin, in dem die Gegenwärtigkeit irgendwann auf etwas übergreifen kann, indem sie einfach in der Lage ist, ihre denkenden und kreativen Bewohner*innen in einem Gefühl der Bewegung zu halten.
Man vergleiche das mit anderen europäischen Städten (den Städten des Seins?), in denen beispielsweise das Überraschungselement, das das Reisen für gewöhnlich begleitet, ausgebügelt wird, wenn der Tourismus homogenisiert, optimiert, versicherheitlicht und in erkennbare Vorlagen verpackt wird: Englischsprachige Einheimische, einfacher WLAN-Zugang, von TripAdvisor bestimmte Unterkunft. All dies führt dazu, dass individuelle Bewegungen und Neugierde vorhersehbaren Wegen und Ritualen folgen. Berlin ist alles andere als immun dagegen, aber diese allumfassende Welle und Fassade wird oft durchbrochen, von den anarchistischen Protesten der Stadt, Anti-Establishment Graffiti, und vor allem einer Kultur der politischen Lebendigkeit und des Pluralismus.
Dieses Phänomen hilft, die Sinne wieder auf moderne Probleme einzustellen. Während Prags glitzernde, Disney-fizierte Straßen und konventionell romantische Räume beruhigende Lügen darüber erzählen, was die Welt sehen will, elektrisieren Berlins schroffe Ecken und Unvollkommenheit mit der Wahrheit über die Welt, wie sie ist. Obwohl die Berliner Nachkriegsgeschichte - die die Teilung im Kalten Krieg, den Wiederaufbau und die Wiedervereinigung mit sich brachte - alles andere als geradlinig ist, können wir, aufgrund solcher Spannungen der Vergangenheit, die gegenwärtige politische und intellektuelle Landschaft Berlins dafür wertschätzen, wie die Stadt die Vorstellung menschlicher Werte betont.
Die Verbindung zwischen Stadt und Denken ist entscheidend für das Verständnis des arabischen Exil-Gemeinwesens, das sich einer kollektiven seelischen Sinnsuche unterzieht, die sich jenseits des anfänglichen Wandern der Freiheit im intellektuellen und alltäglichen Subtext zeigt. Es wird erforderlich sein, einen tiefergehenden Blick auf maghfira (Vergebung), tasalah (Versöhnung), inikas (Reflexion über vergangene Fehler) sowie die Vorstellung zu werfen, dass der Nationalstaat, der viele Übel in die arabische Welt gebracht hat, keinen Sinn mehr ergibt. Daher muss das Konzept der Stadt die Dekolonisierung der nationalstaatlichen Modelle anführen und durch humanere Regierungsformen ersetzen. In diesem Sinne wird die Erforschung von Vergebung, Versöhnung und Reflexion durch die arabische Community durch ergänzenden Themen unterstützt, die in Berlins Code eingebettet sind.
Das Konzept der Vergangenheitsbewältigung bedeutet Durcharbeiten und Bewältigung. Hier wird die Vergangenheit in die gegenwärtigen Erfahrungen einbezogen. Der Begriff war einst positiv konnotiert und beschreibt, dass man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss, doch ist er zunehmend ambivalent geworden. Der Begriff bewältigen bedeutet nicht nur die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern auch das Überwinden oder Erledigen (es kann auch bedeuten, eine Aufgabe zu meistern oder zu lernen, etwas zum ersten Mal zu tun). Er wurde überstrapaziert, ist aber immer noch ein nützlicher Begriff. Die vielleicht stärkste Ausprägung ist die Aussöhnung, was Versöhnung bedeutet. Verbunden mit biblischen Motiven und selten im alltäglichen Gespräch verwendet, kann der Begriff dazu dienen, die Bewältigung der Vergangenheit zu beschreiben, indem es Gegensätze oder Parteien versöhnt, die sich gegenseitig verletzt haben. Berlin ist dadurch der paradigmatische Hintergrund und Resonanzboden für die langsam heranreifenden Elemente, die sich durch die arabische politische Community ziehen.
Das Politische wieder zusammensetzen
Zu diesem Zweck muss Berlin aktiv als ein kritisches Zentrum und sicherer Raum betrachtet und behandelt werden, um alternative Erzählungen und Zukunftsbilder zu rekonstruieren [20] – ein Raum, der eine physische Präsenz und minimale Abhängigkeit vom digitalen Bereich der sozialen Medien und Kommunikationstechnologien erfordert. Physische Präsenz sollte über jede andere Form der Zusammenarbeit gestellt werden, einschließlich der beliebten Skype-Konferenzen. Wir haben hoffentlich die Lektion aus 2011 gelernt: Das Digitale kann uns nur begrenzt weit bringen, und die im Cyberspace existierenden Communitys werden nie mit der realen Welt des Organizings und des politischen Wandels mithalten können. Sicherlich wird das Digitale sie ergänzen, aber niemals ersetzen.[21] Han würde argumentieren: “It takes a soul, a common spirit, to fuse people into a crowd. The digital swarm lacks the soul or spirit of the masses. Individuals who come together as a swarm do not develop a we.”[22]
Um es noch einmal zu betonen, es geht um Berlin. Ein*e begabte*r syrische*r Dichter*in in Hamburg oder ein*e glänzende*r marokkanische*r Filmregisseur*in in München nützen wenig, wenn sie nicht physisch die Reise in die deutsche Hauptstadt machen, ihre Identität offenbaren und ihre Präsenz spürbar machen - besser gesagt: "treffen, verschmelzen, entstehen", wie der australische Autor Stuart Braun in seinem passend benannten Buch City of Exiles: Berlin from outside in ausdrückt.[23] Kein digitaler Mechanismus kann jemals ein brauchbarer Ersatz für die Schattenwelt sein. Es muss Widerstand gegen den Ausgleichseffekt der digitalen Topologie geben, die mit ihrem Pseudo-Egalitarismus und ihren glatten Freiräumen täuscht, aber die Verantwortung fragmentiert. Indem Willkür und Unverbindlichkeit befördert werden, werden Versprechen und Vertrauen untergraben, die für die Bindung an die Zukunft erforderlich sind.[24]
Dies steht im Gegensatz zu den Winkeln, Ecken, Ritzen und Gassen der realen Welt, die Informationsverschmutzung filtern, Troll-Armeen verhindern und Langsamkeit, Mediation und Vertrauensprozesse dadurch den Weg zurück in die kollektive Mitte öffnen.[25] Der geordnete und maßvolle Rückzug aus den Sozialen Medien ist ein Weg, um typische Probleme zu vermeiden, darunter gedankliche Zerstreuen und die Unfähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ohne vollständig zur Maschinenstürmerei überzugehen, geht es darum, dem digitalen Schwarm wieder Herr zu werden, der zu der anhalten Gefangenschaft des Exils zwischen einer sensationellen „fühlt-sich-gut-an-aber-führt-zu-nichts“-Gegenwart und einem offenen Abgrund führt, der alle Anstrengungen verschlingt.
Das Politische sollte daher nicht einfach als ein Ziel verstanden werden, in dessen Sinne ein*e Syrer*in auf den bedeutsamen Tag warten muss, an dem sie/er in ein Land nach Assad zurückzukehrt (wenn überhaupt an das Offensichtliche erinnert werden muss: Selbst finstere Diktatoren und ihre Regime können die Sterblichkeit und die Gesetze der Geschichte nicht überlisten). Vielmehr geht es darum, in der Gegenwart politisch zu denken, sich politisch zu engagieren und sich in der Berliner Gesellschaft zu erproben.
Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass vor einigen Jahren eine Gruppe von Syrer*innen eine Wohltätigkeitsorganisation mit dem Namen “Giving back to Germany” gründete, die Essen an Wohnungslose verteilte. Während Nächstenliebe immer zu loben ist, muss doch die Gerechtigkeit im Vordergrund stehen. Dabei geht es darum, das politische Problem, das unter anderem zu Wohnungslosigkeit führt, besser kennenzulernen und es viel differenzierter zu verstehen, als es das Politische allgemein vermuten lässt. Um dies zu veranschaulichen: Die deutsche Bevölkerung leidet unter der Plage der Einsamkeit.[26] Dabei kann das in vielen arabischen Räumen eingespeicherte gemeinsame Kapital kann durch Freiwilligenarbeit und speziell entwickelte Outreach-Programme in diese deutschen Leere entladen werden. Einsamkeit, ein wachsendes Phänomen in dieser hyperindividualisierten Welt (und eines, das in arabische Städte vordringt), hat politische Implikationen, die als politische Probleme behandelt werden müssen - von der Sichtweise der Menschen auf Minderheiten bis hin zum Wahlverhalten. Indem ein Problem anerkannt und sich damit beschäftigt wird, werden Lehren gezogen, neue Erfahrungen und Erkenntnisse gewonnen und in das Repertoire des arabischen Gemeinwesens eingebracht.
Es hat etwas Beunruhigendes, an einem brillanten Symposium über Nahost-Studien in Berlin teilzunehmen, nur um es mit dem vorhersehbaren Wissen zu verlassen, dass die erarbeiteten Ergebnisse in ein schwarzes Loch fallen werden. Selbst wenn Publikationen und Podcasts produziert wurden, erreichen sie nur wenige und sicherlich nicht die gesamte arabische Zivilgesellschaft. Ein kontinuierlicher Dialog mit der Öffentlichkeit muss gefördert werden, so wie eine Konferenz in ständiger Bewegung: Das Netzwerk sollte für junge Araber*innen geöffnet werden, damit sie sich am politischen Denken beteiligen können, ohne in formale Lernstrukturen eingebunden sein zu müssen. Man sollte komplexe akademische Theorien in verwertbare intellektuelle Kleinode übersetzen, zum Beispiel indem Konferenz-Notizen umgeschrieben oder zusammengefasst und an einer Pinnwand in einem arabischen Café in Neukölln aufgehängt werden. Die intellektuelle Exil-Szene muss gleichermaßen eine enge Beziehung zu Café-Mitarbeiter*innen, Friseur*innen und anderen Berufsgruppen aufbauen, die zentrale Positionen in gemeinsamen sozialen Räumen haben. Der "antiquierte" Flyer wird dann mehr Gewicht haben als ein Facebook-Post, da der bloße Akt der Übergabe an jemanden eine unschätzbare menschliche Transaktion wiederherstellt, die mehr Bindung und Zusammensein realisiert als das, was die Sozialen Medien bieten können.
Es wäre eine Illusion von äußerster Größe, zu glauben, dass die Moschee und die Kirche bei diesem Vorhaben keinen Platz hätten. Jedes Projekt, das darauf abzielt, säkulare Fantasien auszuleben, ist zum Scheitern verurteilt. Es muss eine Bewegung jenseits der Räume des Nebelkerzen werfenden Geschwätzes über Foucault vs. Deleuze und die damit verbundene Echokammer stattfinden. Es geht hier nicht nur darum, den Glauben zu tolerieren, denn er ist tief in der arabischen Community verwurzelt. Vielmehr bedeutet dies, sich mit der konstruktiven Rolle auseinanderzusetzen, die der Glaube in einem zunehmend entfremdeten Umfeld spielen kann. Dazu gehört auch, dass er besser gestaltet und verstanden werden muss, anstatt von intellektuellen Strömungen übersehen zu werden.
Anders ausgedrückt, das häufige Läuten von Kirchenglocken sollte nicht als störend empfunden werden (wie ich oft Deutsche und Besucher*innen sich beschweren höre), sondern als ermutigendes Zeichen dafür, dass die Kirche zusammen mit den Gewerkschaften ein Bollwerk gegen neoliberale Entmenschlichung bildet. Das geschieht, indem man die Geschäfte sonntags für Freizeit und Erholung geschlossen hält und Konsumwahn fördernden Sales, nach dem Vorbild der Black Friday- und Boxing-Day-Verkäufe in New York und London, in Schach hält.
In ähnlicher Weise vergeht kein Ramadan, ohne dass die Zyniker*innen stöhnen, wie der Heilige Monat die Effizienz muslimischer Mitarbeiter*innen beeinträchtigt. Abgesehen von dieser Verallgemeinerung müssen wir fragen: Ist Langsamkeit in dieser überhitzten Welt eine schlechte Sache? In einem System, das davon besessen ist, jedes Gramm Produktivität aus der Arbeitskraft zu saugen und sie in selbstgefällige Zahnräder der hyperkapitalistischen Maschine zu treiben, wirft der Ramadan einen Schraubenschlüssel in das Getriebe und erklärt: Nein, es ist besser, die äußeren Grenzen der Menschlichkeit zu erreichen, indem man die Aufmerksamkeit wieder auf Familie, Gemeinschaft, Nächstenliebe, Aufopferung und Empathie mit den Armen und Hungrigen richtet, da all dies mehr Tiefe und Bedeutung hat als das kalte und abstrakte BIP. Indem wir solche und andere Facetten sorgfältig überdenken, können wir das Politische allmählich rehumanisieren.
Egal, ob man sich als Intellektuelle*r, Aktivist*in, Dissident*in, Künstler*in, Filmemacher*in und so weiter identifiziert, agiert man innerhalb dessen, was der tschechische Denker Václav Havel als "unabhängiges Leben der Gesellschaft" bezeichnet.”[27] Das beinhaltet jede Ausdrucksform, die Wahrhaftigkeit zum Ziel hat, von der Selbstreflexion über die Welt bis hin zur Gründung einer zivilgesellschaftliche Organisation. Havels Denkweise hat sich unter autoritärer Herrschaft in der kommunistischen Tschechoslowakei der 1970er Jahre entwickelt, ist für das arabische Berlin und die arabische Welt jedoch gerade deshalb relevant, weil es ein Kampf ist, kreativ und bewusst zu leben.
Der arabische Friseur und die/der arabische Schriftsteller*in in Berlin mögen sich aus dem gleichen Hintergrund entwickelt haben, der ihnen verschiedene Schattierungen von Schmerzen bescherte - letztere*r ist jedoch unverhältnismäßig auffälliger, da sie/er einen besonderen Titel und eine de facto Stimme erhält, um für andere zu sprechen. Der Ausdruck der Wahrheit durch den Friseur wird dagegen zurückgestuft, da er nicht in die Grenzen der gesellschaftlichen "Seriosität" und der kreativen Normen fällt. Die Glaubenspraxis könnte nicht nur sein Weg sein, die Wahrheit zu erlangen, sondern auch sein Bewältigungsmechanismus. Wahrhaftigkeit kann sich jedoch auf zahlreiche andere Weisen materialisieren: Wenn ein syrischer Friseur eine*n palästinensische*n Kund*in betreut, könnte er in ein Gespräch über einen gemeinsamen Kampf geraten, das Sympathie, Empathie und Verwandtschaft hervorruft. Er lässt die/den Kund*in vielleicht nicht bezahlen, wenn er finanzielle Schwierigkeiten erahnt. Er könnte sich entscheiden, ein Bild von Aleppo vor dem Krieg aufzustellen, um an das zu erinnern, was verloren gegangen war, aber eines Tages aus Trümmern wiedergewonnen werden soll. Was dabei wie das Alltägliche aussieht, ist in Wirklichkeit der Wunsch, die Räume der Würde schrittweise zu erweitern.
Die/der arabische Autor*in ist lediglich eine Manifestation des gleichen politischen Spektrums, das diesen Friseur hervorgebracht hat. Die/der Autor*in ist zufällig eine*r der sichtbarsten, politischsten und am deutlichsten artikulierten Ausdrucksformen arabischer Missstände. Doch die/der Autor*in sollte nicht vergessen, dass er oder sie sich bewusst oder unbewusst aus dem gleichen Hintergrund und Reservoir entwickelt hat wie der Rest der Gesellschaft im Zuge der Umwälzungen des Arabischen Frühlings. Hieraus schöpfen sie ihre Kraft und Legitimität; und diese Gesellschaft hat ein sehr großes Reservoir an Schmerz, Unglück, Verwirrung und Unsicherheit. Aber wenn die Intellektuellen und Aktivist*innen nicht nur die Sinnlosigkeit der Trennung von diesem Hintergrund erkennen, sondern auch zu ihm zurückkehren und sich mit ihm beschäftigen - nicht als Shawarma-kaufende Kund*innen, sondern als Exil-Bürger*innen in einem sich ständig ausweitenden Gespräch mit moralischen Verpflichtungen - unterstützen sie damit eine standhafte Zukunft.
Das arabische Berlin müsste eine wechselseitige Beziehung zu den arabischen Städten über die institutionelle Ebene hinaus aufbauen. Derzeit sind die beiden Kandidatinnen, die für neue Ideen am empfänglichsten sind, Tunis und Beirut.
Diese Städte würden die intellektuellen Brückenköpfe zur arabischen Welt bilden. Es sollte jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass es schmerzlos sein wird, mit Tunis und Beirut umzugehen, nur weil sie eine gewisse Freiheit versprechen. Die libanesische Hauptstadt ist extrem volatil und neigt dazu, die Wildcard, der Joker, unter den arabischen Städte zu sein. Tunesische Errungenschaften größerer Freiheiten werden durch einen Braindrain und eine Trägheit in Tunis, die eine Folge endemischer Korruption und der Unfähigkeit ist, tiefere Reformen voranzutreiben, bedroht. Dennoch gibt es in dieser neuartigen Beziehung zu diesen beiden Städten ein Reservoir an latenten Möglichkeiten, das es zu erforschen gilt.
Diese Orientierung ist notwendig oder vielleicht ein erster Schritt, bis Kairo, die einzige arabische Stadt, die aufgrund ihres schieren Gewichts Ideen umsetzen kann, eines Tages wieder auf den Weg der politischen Reife und intellektuellen Offenheit zurückkehrt. Vielleicht ist dieser Ansatz daher auch ein bescheidener Versuch, ein tieferes Problem anzugehen: Denn eine der Ursachen für die tragische Abwärtsspirale in der Region war die historische Verlagerung der ideologischen arabischen Gravitationszentren nach Riad, weg von Kairo, Damaskus und Bagdad. Dabei ist es nicht so, dass diese drei Städte ihr kulturelles Kapital verloren haben, sondern eher, dass ihr Einfluss durch die rücksichtslose Vision des Öl-Geldes am Golf eingeschränkt wurde. Die zeitlose Schönheit und Demut der arabischen Kultur des Golfs - eine, die bei der Umweltpflege an vorderster Front stand - wurde zerrissen, als sie auf eine beschleunigte, entpolitisierte Hyper-Modernität umschlug, wobei die Region weiterhin auf unzählige katastrophale Weise den Preis für die Unfähigkeit und die unverantwortlichen Abenteuer der Golf-Staaten zahlt.
Dieses ganze Unterfangen unterliegt keiner Illusion in Bezug auf die Hindernisse. Die Zyniker*innen werden das Gespenst des Rechtsextremismus heraufbeschwören, und Fremdenfeindlichkeit wird sicherlich auch die Bemühungen der arabischen Exil-Szene behindern. Doch statt untätig zuzuschauen, geht es darum, den Strom der sich entwickelnden arabischen Politik mit der deutschen progressiven Politik zu verschmelzen. Dabei muss der offiziellen deutschen Heuchelei, einen Menschenrechtsdiskurs zu predigen, aber tödliche Waffen an Diktaturen zu verkaufen, aktiv der Spiegel vorgehalten werden (Ägypten ist der führende Importeur deutscher Rüstungsgüter).[28] Außerdem sind die Probleme der Welt stärker miteinander verbunden, als wir es uns jemals vorstellen konnten. Die Auseinandersetzung mit diesen Problemen muss daher nicht auf einer nationalen, sondern auf der Ebene der Stadt erfolgen, die für Menschen zugänglich ist.
Die andere offensichtliche Herausforderung ist das Visa-System. Um nicht vom konsularischen Labyrinth verzehrt zu werden, sollte man sich nicht darauf konzentrieren, mehr Intellektuelle nach Berlin zu importieren, sondern sich damit zufrieden geben, wer verfügbar ist, wer dorthin ziehen kann und wer Berlin besuchen oder durchreisen kann. Noch wichtiger ist es, schrittweise eine Generation heranzuziehen, die in neuen politischen Bahnen denkt. Um die Community zu aktivieren, wird die größte Herausforderung dabei meiner Meinung nach das Fehlen eines globalen Momentums sein. Während sich ein solches Momentum nur in seltenen Zyklen zeigt, entscheidet es zum Beispiel darüber, ob ein öffentlicher Vortrag überfüllt ist, das Publikum auf den Treppen und dem Boden sitzt, Durst und Unannehmlichkeiten in Kauf nimmt, um sich als Teil von etwas Großem zu fühlen - oder ein Dutzend regelmäßiger Teilnehmer*innen der Stimme der/des Sprecher*in lauschen, die im Raum verhallt. Die schmerzhaft langen Intervalle zwischen einem solchen Momentum werden mit Denken, Lesen, Schreiben und Versammlungen gefüllt werden müssen, um die Community langsam aufzubauen. Denn wenn das Momentum unangekündigt eintrifft, bleibt keine Zeit mehr, ein Buch zu lesen oder am Ende eines Theaterstücks sitzen zu bleiben.
Die Manipulation der Identität wird ein weiteres Hindernis sein, das die arabischen Skeptiker*innen, insbesondere jene in offiziellen Funktionen, sowie ihre Anhänger*innen vorbringen werden. Sie könnten unterstellen, dass etwas, das aus einer westlichen Stadt kommt, nicht so authentisch ist wie etwas aus einer arabischen oder muslimischen Stadt - ungeachtet der politischen Schlagkraft, die aus einer arabischen Gemeinschaft hervorgeht. Man erinnere sich daran, dass wir es mit arabischen Regimen zu tun haben, die westliche Menschenrechte aus irgendeinem "unerklärlichen" Grund als für sie nicht anwendbar verurteilen, wobei sie bei westlichen Waffen, Neoliberalismus, Konsum, Foltermethoden, höherer Bildung und so weiter Ausnahmen machen.[29] Die gleichen Regime singen tontaub voll nationalistischer Rhetorik das Lied von der Loyalität zum Heimatland; und doch ist es nichts ungewöhnliches zu beobachten, dass eine wachsende Zahl an Kindern der Elite in Orten wie London und Rom studiert, arbeitet und lebt, ohne die Absicht zu haben, in ihre Heimat zurückzukehren.
Die Identitätsneurose stützt dieselbe Mentalität, die es akzeptiert, wenn sich Kapital aus den Golfstaaten auf ihr erbricht und dabei den blühenden arabischen Kulturraum in ein riesiges Ödland verwandelt, nur weil, wie einer der vordergründigen Subtexte lautet, das Geld aus einem muslimischen Land kommt und deshalb etwas richtig laufen muss. Als ob eine klimatisierte, schicke Moschee in einer Mega-Mall das für den Bau eben dieser Mall begangene Unrecht der Vertreibung von lokalen Gemeinschaften, der Zerstörung jahrhundertealter Moscheen und der staatlichen Aneignung ihres Landes kompensieren würde. Fortschritt kommt schließlich nicht aus Betonmischern heraus. Vielmehr ist die Zerschlagung eines politischen Wertesystems in der arabischen Welt der Grund, warum das arabische Berlin überhaupt existiert. Auf jeden Fall gehen die Brückenkopf-Städte teilweise auf dieses Identitätsproblem ein, indem sie die oberflächlichen Vorwürfe, die sich in Zukunft möglicherweise entfalten werden, zurückweisen.
Was ist der momentane Zeitgeist? Was ist unser Ruh al-Asr?
Wir leben in einer Ära, die meist namen-, gesichts- und geistlos ist; verstärkt durch genau die neoliberalen Kräfte, die Menschen splitternackt vor dem Monster des mutierten Kapitalismus stehen lassen. Dieses Monster kennt keine Vision, keine Richtung, keine Erzählung, keine Bedeutung, keine Choreographie und keine Schlussfolgerung.[30] Es kennt nur Vermehrung und Beschleunigung, die durch Konsument*innen-Wünsche, emotionale Manipulationen und falsche Versprechungen funktionieren, die die Menschen immer wieder aus dem Reich der Authentizität herausziehen.
Es überrascht nicht, dass diese Bestie der Anti-Politik von liberalen Demokratien und autoritären Regimen gleichermaßen begeistert angenommen wurde. Das geschieht zweifellos auf viel schlimmere Weise von letzteren, da die absichtliche Schwächung des politischen Pluralismus, der Zivilgesellschaft, der Institutionen und der Meinungsfreiheit die Fähigkeit beeinträchtigt, den Strom der sozioökonomischen Entmenschlichung aufzuhalten. Das ist eine Krise ohne die schrille Dramatik einer Krise, weil sie ruhig, glatt, nahtlos und stark verinnerlicht wird. Aber wie bei jeder Krise können wir nur versuchen, die formlosen Bedrohungen, die noch kommen werden, zu begrenzen, indem wir sie benennen und ihr Gestalt verleihen. Denn indem man etwas als Krise bezeichnet, argumentiert Jacques Derrida: “one tames it, domesticates it, neutralizes it… One appropriates the Thing, the unthinkable becomes the unknown to be known, one begins to give it form, one begins to inform, master, calculate, program.”[31]
Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht vielleicht darin, zu einem obskuren Artikel zurückzukehren, der 1870 vom syrischen Intellektuellen Salim al-Bustani im al-Jinan Journal geschrieben wurde. Unter dem Titel "Ruh al-Asr" (Geist der Zeit) wurde es höchstwahrscheinlich als Antwort auf das bekannte deutsche Gegenstück “Zeitgeist” formuliert. Ruh al-Asr war ein literarisches und philosophisches Thema, das von einer “metaphysical force in terms of its moral imperatives of liberty, freedom, equality, and justice”[32] gebildet wurde.
Wie viele seiner arabischen Zeitgenossen ließ sich al-Bustani eindeutig von der "Liberalität" und dem "menschlichen Fortschritt" aus dem Westen verführen, doch flehte er seine Leser*innen an, lokale Traditionen und Werte zu verteidigen, da der Rekurs auf abstrakte Prinzipien keinen tragbaren Ersatz darstellen würden. Insbesondere verachtete er die Araber*innen, die europäischen Bräuche nur deshalb folgten, weil sie europäisch seien (ein Phänomen, dessen langer Arm bis heute in die postkoloniale Zeit ragt)[33] Er war besorgt über die peripheren Extreme westlicher Gewalt, die zwischen Nihilismus und Anarchie verlaufen, was im Übrigen ein Vorläufer der modernen islamistischen Variante ist, die die ausgleichende Wirkung des Ruh al-Asr verletzen würde. Denn wie die Rolle der Heldinnen in al-Bustanis Geschichten zeigt, konzentrierte sich die Dynamik von Ruh al-Asr weitgehend auf Intelligenz, gesunden Menschenverstand und Anstand. Das Ziel dabei war, dem Einzelnen durch Lesen und Lernen zu helfen und Auftrieb zu geben und die Gesellschaft vor Korruption zu schützen.[34] Ruh al-Asr ist daher ein Ausdruck, den wir vielleicht wiederaufleben lassen und uns mit einer neuen Bedeutung einverleiben müssen.
Das Bestreben, Ruh al-Asr neues Leben einzuhauchen, hätte besser umgesetzt werden können, wenn es in Deutschland, genauer gesagt Berlin, noch einen starken altruistischen Zeitgeist gäbe - jedoch wird dieser Begriff leider bestenfalls auf Modetrends und im schlimmsten Fall auf den Geltungsbereich der extremen Rechte reduziert. Ich sage das, weil ein überzeugender Zeitgeist seinem arabischen Gegenstück idealerweise Hintergrund und Resonanzboden bieten könnte.
Der Zeitgeist hat seit der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts in der deutschen Öffentlichkeit oft eine Art erhellenden oder dunklen Geist geprägt. Mit Berlin im Epizentrum des Kalten Krieges konnten sich die Deutschen mit ideologischen Merkmalen - marxistisch, antisowjetisch, pro-amerikanisch - identifizieren oder sympathisieren und so klarstellen, wo sie in politischen Fragen stehen. Ein Zeitgeist kam in verschiedenen Inkarnationen. So konnte beispielsweise die Terrorgruppe der linken Roten Armee Fraktion (Baader-Meinhof-Gruppe) in den 1970er Jahren, trotz der von ihr ausgeübten Gewalt, Sympathie in weiten Teilen der westdeutschen Gesellschaft, insbesondere der Intellektuellen- und Studierendenszene, gewinnen. Aber der Zeitgeist konnte auch Deutsche aus den gleichen Gesellschaftsschichten dazu bringen, friedliche Maßnahmen wie die Anti-Atom-Proteste und den Umweltschutz der 1980er Jahre zu unterstützen.
Als ich mir vor langer Zeit einen Dokumentarfilm aus den 1970er Jahren über Berlin ansah, haben sich mir die Schlussworte des englischen Kommentators in mein Gedächtnis eingebrannt: “This is West Berlin. A city that feeds on its nerves, a town that has learned to live in isolation, to flourish under tension. In spite of Detente, still a frontier post, living in some sense from day to day. Truly a phenomenon of our times and a lesson for our generation.” Dieses Berlin existiert nicht mehr. Die willkommene Beseitigung der existentiellen Bedrohung (wenn auch nur euphorisch betrachtet) hat die kollektiven Formen des politischen Geistes verwässert. Eine einmalige Großdemonstration gegen Neonazis ist nicht so sehr ein anhaltender politischer Geist, sondern eine politische Kultur, die auf Nazi-Übergriffe reagiert. Letzteres sollte jedoch nicht heruntergespielt werden, da ein so massiver Protest und Diskurs Berlin immer noch an die Spitze des Westens stellt, der ansonsten immer noch darum kämpft, eine bedeutsame Antwort auf die Welle der Fremdenfeindlichkeit und einer wütenden extremen Rechte aufzubauen.
In einem wiedervereinigten Deutschland und in einer neuen unipolaren Welt, in der der Aufstieg der USA die freie Marktwirtschaft auf den Trümmern des Kommunismus verankerte, veröffentlichte eine verzweifelte RAF - dieser vom Zeitgeist entstellte letzte Spross des deutschen Jahrhunderts, der erst politisch, dann kriminell wurde - 1992 ein "Diskussionspapier" mit dem Titel "Wir müssen das Neue suchen".[35] Aber es war zu spät, die Utopie war abgesegelt; nicht nur für die RAF, sondern, so scheint es, auch für andere deutsche politische Strömungen, gemeinsam mit dem restlichen Nachkriegseuropa, wenn nicht gar der Welt. Die Frage, was nun als "groß" und "neu" anzusehen sei, wurde von Technologie und Märkten monopolisiert.
Große Ideen sind seit der Wiedervereinigung Deutschlands in der Regel zurückgegangen, ein Thema, das im aktuellen klinischen Managementstil von Merkel zu erkennen ist. Dies zeigt, wie sehr sich das Land verändert hat, zum Beispiel seit der dynamischen Führung von Willy Brandt (Bundeskanzler 1969-1974). Doch muss fairerweise gesagt sein, dass Führungskräfte im Allgemeinen auf das internationale Umfeld ihrer Zeit reagieren und ihr Handeln entsprechend gestalten. Damit geben sie den Ton für das öffentliche Denken vor.
Wenn du eine*n Deutsche*n ohne Migrationsgeschichte in Berlin fragst, was die Deutschen heute inspiriert oder bewegt, wirst du weniger über die Antwort überrascht sein als darüber, überhaupt eine Antwort zu erhalten. Als ob die Frage etwas ist, das ihr/ihm noch nie in den Sinn gekommen wäre. Verständlicherweise scheint die Zögerlichkeit von der historischen Vorsicht der Deutschen geprägt zu sein, sich nicht (mehr) in dunkle Gefilde treiben zu lassen. Allerdings würden auch viele aufrichtig bekennen, es liege daran, dass das individuelle Eigeninteresse das Ruder übernommen hat. Wenn eine angemessene Reaktion zustande kommt, ist das in der Regel gleichbedeutend mit der Bekämpfung des Klimawandels oder der Unterstützung von Geflüchteten. Folglich hat die Unfähigkeit, eine kohärente und stringente humanistische Erzählung zu formulieren, den Zeitgeist teilweise der Willkür einer wiederauflebenden extremen Rechten ausgeliefert.
Manchmal sieht man das Flackern eines schönen menschlichen Geistes. Im Sommer 2015 kam es zu einer Aufwallung gegen die zunehmende Dehumanisierung der Geflüchteten und viele Deutsche kamen an Bord, um die großzügige Aufnahme von Geflüchteten zu unterstützen. Außerdem zeigte sich in Merkel eine vorübergehende Führungsqualität, die "Wir schaffen das" verkündete. Doch dieser wiederbelebte altruistische Zeitgeist dauerte kaum sechs Monate: Er wurde in den frühen Morgenstunden des neuen Jahres 2016 in Köln von betrunkenen Geflüchteten zerrissen, die Berichten zufolge deutsche Frauen angriffen. Rückblickend zeigt sich: Es gibt etwas sehr Problematisches an einem idealisierten Zeitgeist, der den Geflüchteten willkommen heißt, nur um das ganze Vorhaben zu zerschlagen, wenn er von einem zweifelsohne ernsten Vorfall auf die Probe gestellt wird.
Selbst wenn die Araber*innen Ruh al-Asr irgendwie wiederbeleben würden, würden sie sich in einem Europa, das seine politische Vorstellungskraft verloren hat, intellektuell verwaist fühlen. Doch anstatt Zuschauer*innen zu sein, muss die arabische Exil-Szene die Vision haben, sich kollektiv mit den Kräften zusammenzutun, die die rechtsextreme Flut zurückhalten. Gemeinsam helfen sie, wenn auch im bescheidenen Maße, die bessere Natur der deutschen Vorstellungskraft wiederzubeleben, tragen dazu bei, die globale Erschöpfung des politischen Denkens zu bekämpfen und forcieren parallele demokratische Erzählungen gegen die Auswüchse arabischer autoritärer Narrative.
Aber vor all dem muss man letztlich fragen: Was ist unser Ruh al-Asr? Es gibt keine einfache Antwort. In den Tagen der revolutionären Flitterwochen 2011 und 2012 hätte dies verschieden beantwortet werden können, aber heute ist es nicht mehr möglich. Er besteht sicher nicht darin, die Entwicklung hin zur gefestigten Unterdrückung in der arabischen Welt zu akzeptieren. Sich mit der Frage zu befassen erfordert vielmehr, tiefer zu gehen - über die Diskussion von Lösungen für das palästinensische Problem oder den ägyptischen Autoritarismus hinaus.
Wir müssen auf der existentiellen Ebene unseres moralischen Sumpfes denken. Unsere Öffentlichkeiten werden nicht nur dahingehend überlistet, Massaker zu bejubeln oder über die Ermordung eines Journalisten in einem Konsulat zu schweigen. Ihr Leben auf biologische und Arbeitsprozesse zu reduzieren, beraubt sie auch der Möglichkeit, jegliche Form von höherem Gemeinwohl zu erlangen. Wir müssen also zu den Grundlagen zurückkehren und jedes einzelne Wort, das unser Leben durchdringt, neu definieren: Bürger*in, Stadt, Staat, Araber*in, Muslim*in, Christ*in, Jüd*in, Sunnit*in, Schii*int, Exil, Gerechtigkeit, Glück, Bildung, Inshallah und so weiter. Und wir müssen uns fragen, warum sind sie wichtig? Es müssen Fragen zu den christlichen, nubischen, berberischen, amazigh und anderen nicht-arabischen und nicht-muslimischen Minderheiten in der Region gestellt werden und wie sie zu einer würdigen Gleichstellung erhoben werden können. Es wird die Fähigkeit erfordern, Geflüchtete nicht nur als Objekt der Sympathie, der Reform oder des potenziellen Terrors zu beleuchten, sondern sie auch zu intellektuellen Produzent*innen zu erheben. Zu verstehen, was die besseren Teile unseres Ruh al-Asr ausmacht, bedeutet, eine neue Art des Framings, der Darstellung und Gestaltung der Welt zu entwerfen. So kann die von maskh (Formlosigkeit) geprägte, absonderliche Realität bekämpft und vor dem Schrecken derselben gerettet werden.
Anstatt ein Rezept für eine utopische arabische Zukunft zu entwerfen, ist es besser, die gegenwärtigen Realitäten zu berücksichtigen, um ein neues Handbuch des Denkens zu erstellen, das sich aus den gelebten Wahrheiten der arabischen Welt zusammen mit den Erfahrungen von Vertreibung, Migration, Bewegung, Exil, Entfremdung und Ankommen in Berlin in die Erzählung einfügt. Aber eine Schlüsselfrage kommt hinzu - wohin nun? Es geht darum, eine neue Geschichte in einem relativ sicheren Raum zu verfassen, indem man zum Beispiel auf Arendts methodischer Annahme aufbaut: “That thought itself arises out of incidents of living experience and must remain bound to them as the only guideposts by which to take its bearings.”[37] Mit anderen Worten, welches Bezugssystem sich auch entwickelt: Es sollte ein ständiges Bemühen sein, das auf unsere Einschätzung und Rekonstruktion reagiert, wenn wir mit sich verändernden Umständen konfrontiert werden, während wir über das tückische Terrain von Erinnerung, Geschichte, politischen Vorstellungen, Erzählungen und Gegen-Erzählungen reisen.
Angesichts ähnlicher transzendentaler Fragen seiner Zeit kämpfte al-Bustani darum, die arabische Zukunft im Schatten des Kolonialismus zu verstehen. Aus seiner Kurzgeschichte von 1875, Bint al-Asr, "Tochter des Zeitalters", beschwört er das Gespenst der Unsicherheit nach dem Einfluss europäischer Einflüsse: “These things are taking place at a time whose meaning, like the uncertain light of dawn, is yet unclear. Therefore, the minds of many people, too, are not clear. Even strangers (Europeans) are in the dark, like the natives. This state of affairs shows that the country is suffering under the burden of a cultural situation whose values are in an uncertain state of transition.”[38]
Al-Bustani stand vor einem anderen Moment der Wahrheit, in dem er sich fragte und darüber wunderte, was schließlich aus dieser Verwirrung für seine arabischen Mitmenschen herauskommen wird. Heutzutage sehen wir uns dieser Verwirrung wieder gegenüber, so wie wir sie seit al-Bustanis Zeiten mehrmals erlebt haben. Denn Gott weiß, was morgen kommt, aber die Reise wird aus dem symbolischen Kapital schöpfen, das 2011 geboren wurde, es vermenschlichen und dadurch neue Wege eröffnen. Der elektrisierendste Moment des Jahres 2011 war, als dem Begehren und der Phantasie freie Hand gelassen wurde - bis sie von Blut, Reue, Verzweiflung und Erschöpfung torpediert wurden. Mehr denn je geht es aktuell daher darum, Begehren und Fantasie vernünftig wiederzubeleben, sie aber diesmal mit Wissen und Disziplin zu regieren.
Wir müssen neue Persönlichkeiten und Denker*innen hervorbringen, die uns weiter dabei helfen, die Neugierde, Unerbittlichkeit, den Erfindungs- und Einfallsreichtum einer mit gebrochenem Herzen lebenden Community zu erschließen: Neue Texte als Leitfaden zu übernehmen, philosophisches Denken in das Herz künftiger Unterfangen zu integrieren und Bücher zu produzieren, die es wert sind, an die noch kommenden Generationen vererbt zu werden. Und wir müssen nicht nur das Erlernen der deutschen Sprache und die Verfeinerung unseres Umgangs mit der arabischen Sprache fördern, sondern uns auch ständig bewusst sein, dass politisches Denken unausweichlich durch die Worte strukturiert ist, die wir verwenden und vermeiden, und deshalb ein belebtes Vokabular erforderlich ist, um die Taxonomien der Macht in Frage zu stellen und zu diskutieren. Aber vor allem müssen wir uns mit unserer Sterblichkeit abfinden, die uns das Bewusstsein und die Demut vermittelt, dass unsere Meilensteine Erbstücke vergangener Kämpfe sind und die Früchte unserer Bemühungen nur über unser Leben hinaus wachsen können. Es wird nicht erwartet, dass man alles tut, aber man sollte auch nicht seine Verantwortung aufgeben, etwas Sinnvolles für andere zu tun.
Indem wir Kracauers Worte der Anonymität und Ziellosigkeit zu Beginn dieses Essays durchbrechen, müssen wir uns selbst - und einander - auf der Straße wiederfinden, von Mensch zu Mensch, über Menschenmengen hin zu einem lebhaften Gemeinwesen: zu neuen Menschen in der Berliner Szene mit Namen, Zielen und Stimmen, die sich mit dem überschneiden, was gut und gerecht ist. Das Anschwellen verschiedener Rhythmen, die sich harmonisch ergänzen, offenbart eine Bedeutung, die überlebensgroß ist, und lässt eine besonderen Melodie erklingen, die es wert ist, gehört zu werden.
Fußnoten
[1] Hannah Arendt, On Revolution (Harmondsworth: Penguin, 1973). 205.
[2] Amro Ali, "The Hidden Triumph of the Egyptian Revolution," Open Democracy (25 January 2016), https://www.opendemocracy.net/north-africa-west-asia/amro-ali/hidden-tri....
[3] Hannah Arendt, Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought (Harmondsworth: Penguin, 1977). 4.
[4] “…the foreigner…has to ask for hospitality in a language which by definition is not his own, the one imposed on him by the master of the house, the host, the king, the lord, the authorities, the nation, the State, the father, etc…That is where the question of hospitality begins: must we ask the foreigner to understand us, to speak our language, in all the senses of this term, in all its possible extensions, before being able and so as to be able to welcome him into our country?” Jacques Derrida and Anne Dufourmantelle, Of Hospitality (Stanford: Stanford University Press, 2000). 15.
[5] Byung-Chul Han, The Agony of Eros, Untimely Meditations (Cambridge: MIT Press, 2017). 1.
[6] Edward W. Said, Reflections on Exile and Other Essays (Cambridge: Harvard University Press, 2000). 173.
[7] Wie der palästinensische Dichter Mahmoud Darwish einst formulierte: “Das Exil ist mehr al sein geographisches Konzept. Du kannst in deinem Heimatland, in einem Zimmer in deinem Haus im Exil sein.” Adam Shatz, "A Poet's Palestine as a Metaphor," New York Times (22 December 2001), https://www.nytimes.com/2001/12/22/books/a-poet-s-palestine-as-a-metapho....
[8] Dina Wahba, "Diaspora Stories: Crippling Fear and Dreams of a Better Home," Mada Masr (16 August 2018), https://madamasr.com/en/2018/08/16/opinion/u/diaspora-stories-crippling-....
[9] David Frisby, Fragments of Modernity: Theories of Modernity in the Work of Simmel, Kracauer and Benjamin, Social and Political Theory (Cambridge: Polity, 1985). 142.
[10] Ibid. 141.
[11] Byung-Chul Han, The Burnout Society (Stanford: Stanford University Press, 2015). 49. Wie Han anmerkt, hat der Neoliberalismus die/den unterdrückten Arbeiter*in in eine*n freien Auftragnehmer*in verwandelt, und der Klassenkampf ist dem inneren Kampf mit dem eigenen Selbst gewichen. Das ist so eingerichtet, dass jede*r, die/der nicht erfolgreich ist, Scham empfinden muss und niemandem außer sich selbst die Schuld geben kann. Dadruch sind Regierungen, Institutionen, Gesellschaft und strukturelle Faktoren von jeglicher Verantwortung befreit.
[12] Eine Reihe an Institutionen und Initiativen stehen im Zentrum des Deutsch-Arabischen kulturellen Austauschs und Zusammenarbeit. Darunter sind: Freie Universität Berlin, Humboldt Universität, Forum Transregionale Studien, das Goethe Institut (und seine Unterstützung für Institutionen wie Arab Image Foundation); der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und seine Unterstützung für arabische Akademiker*innen und Künstler*innen (z.B. Akram Zaatari, dessen Filme häufig im Kurzfilmwettbewerb des Berliner Filmfestivals gezeigt werden); Transmediale (vormals Durchführer des Arab Shorts Program); die Barenboim-Said Akademie, die nicht nur ein Raum für arabische Kunst, intellektuellen Austausch und Konferenzen ist, sondern vermutlich das größte Stipendienprogramm für arabische Musiker*innen weltweit. Insgesamt ist das Spektrum breit, von den zahlreichen politischen Stiftungen und dem Außenministerium bis hin zu Nachbarschaftsdynamik in Neukölln und um die Sonnenallee.
[13] Sarah El Deeb, "Saudi Writer Saw Turkey as Base for a New Middle East," Associated Press News (21 October 2018), https://apnews.com/5643bc71beaf43249527f1e0d14dd67b.
[14] Hamilton bettet sein Argument in die Arbeit des Politikwissenschaftlers Franz Neuman ein, der 1944 interessanterweise schrieb, “foreign trade may be a means of enriching a higher and better-organised nation at the expense of the less industrialized. This is the essence of foreign trade even under conditions of free competition… We believe that on the world market, commodities are not exchanged at their value, but that, on the contrary, a more industrialized country exchanges less labor for more. Foreign trade, under conditions of free competition, is thus the means of transferring profits.” In: Omar Robert Hamilton, "Industrial Colonialism: Egypt, Germany and the Maintenance of the Modern World,"Mada Masr (5 July 2018), https://madamasr.com/en/2018/07/05/opinion/u/industrial-colonialism-egyp....
[15] Zwei historische Anekdoten können möglicherweise die Essenz der Gegenüberstellung Deutschlands und anderer europäischer Mächte in der arabischen Vorstellung beleuchten. Als Kaiser Wilhelm II 1989 Damaskus besuchte, trat er an das Grab Saladins und sagte: „Möge der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, daß zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.“ Der Kaiser legte einen Kranz ab mit den Worten „Ein furchtloser Ritter, der seinen Feinden oft Ritterlichkeit lehren musste.“ Die Rede wurde bald ins Arabische übersetzt. Die Rede des Kaisers machte Saladin zu einem politischen Symbol in der arabischen Welt (bis dahin wurde er nur als wichtige historische Figur betrachtet). Der Ägyptische Dichter Ahmad Shawqi komponierte sogar eine Ode an den Kaiser. Der wahrgenommene Kontrast wurde bestärkt, als der französische General Henri Gouraud am Ende des ersten Weltkriegs das Grab Saladins mit den Füßen trat und proklamierte: „Wach auf Saladin. Wir sind zurückgekehrt. Meine Anwesenheit hier weiht den Sieg des Kreuzes über den Halbmond.“ Diese Beleidigung wurde später Teil der kollektiven Erinnerung des syrischen Widerstands gegen die Franzosen. In: Doğan Gürpınar, Ottoman/Turkish Visions of the Nation, 1860-1950 (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2013). 87; Anthony Billingsley, Political Succession in the Arab World: Constitutions, Family Loyalties, and Islam (New York: Routledge, 2010). 214.
[16] Sharon M. Meagher, Philosophy and the City: Classic to Contemporary Writings (Albany: State University of New York, 2008). 4.
[17] Peter Schneider, Berlin Now: The City after the Wall, trans. Sophie Schlondorff (New York: Macmillan, 2014). 7.
[18] Ibid.
[19] Ibid. 8.
[20] Es war kein Zufall, dass das in Berlin ansässige Forum Transregionale Studien 2018 eine Konferenz mit dem Titel “Imagining the Future: The Arab World in the Aftermath of Revolution” organisierte.
[21] Aus der arabischen Welt kommend, wo die physische Öffentlichkeit unterdrückt wird, ergibt es viel Sinn, soziale Medien zu nutzen. Es ist jedoch etwas ziemlich besonderes, meine durch-digitalisierten arabischen Kollege*innen (teilweise mich eingeschlossen) und die von Privatsphäre besessenen Deutschen gemeinsam zu betrachten.
[22] Han,In the Swarm: Digital Prospects. 13.
[23] Stuart Braun, City of Exiles: Berlin from the Outside In (Noctua Press, 2015). 13.
[24] Han,In the Swarm: Digital Prospects. 52-53.
[25] Ibid. 45.
[26] "Two Thirds of Germans Think the Country Has a Major Loneliness Problem," The Local Germany (23 March 2018), https://www.thelocal.de/20180323/two-thirds-of-germans-think-the-country....
[27] Václav Havel and Paul R. Wilson, Open Letters: Selected Writings, 1965-1990 (New York: Vintage Books, 1992). 177.
[28] Sofian Philip Naceur, "Q&a with German Mp Stefan Liebich: Revealing German Arms Exports to Egypt," Mada Masr (16 November 2017), https://madamasr.com/en/2017/11/16/feature/politics/qa-with-german-mp-st....
[29] Da Ägypten diese Dualität versinnbildlicht, empfehle ich Mohamed Naeems übersetztes Essay: “Ever since its inception, the idea of Egyptian modernity was imagined as a choice between authenticity and modernity. In the popular consciousness, modernity had to be scrutinized by a lens of virtue and propriety. In short, we must take from the advanced West what suits us and abandon the rest — ‘we’ referring to the dominant classes, their interest and lifestyles. So things like ballet, malls and American consumption patterns are marks of advancement, but democracy and gender equality are alien concepts that undermine the identity and particularity of the nation.” In: Mohamed Naeem, "Mother of the World, against the World and Outside of It," ibid. (9 June 2016), https://madamasr.com/en/2016/06/09/opinion/u/mother-of-the-world-against....
[30] Byung-Chul Han, The Transparency Society (Stanford: Stanford University Press, 2015). 30-31.
[31] Jacques Derrida and Elizabeth Rottenberg, Negotiations: Interventions and Interviews, 1971-2001 (Stanford: Stanford University Press, 2002). 71.
[32] Matti Moosa, The Origins of Modern Arabic Fiction (Washington DC: Three Continents Press, 1983). 170.
[33] Ibid. 167.
[34] Ibid. 177-178.
[35] Jeremy Peter Varon, Bringing the War Home: The Weather Underground, the Red Army Faction, and Revolutionary Violence in the Sixties and Seventies (Berkeley: University of California Press, 2004). 306.
[36] Es ist mir nicht entgangen, dass die Idee einer arabische Exil-Szene bereits mit Spannungen verbunden ist, die Stimmen, die sich nicht ohne weiteres dem arabischen Label unterordnen, ausschließen.
[37] Arendt, Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought. 14.
[38] Moosa, The Origins of Modern Arabic Fiction. 166.
Literatur
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