Wenn am Sonntag die Oscars verliehen werden, dann könnte zum ersten Mal eine arabische Filmemacherin ausgezeichnet werden. Nadine Labaki, 44, hat mit „Capernaum“ ein Drama geschaffen, das die Grenze zwischen Kunst und Aktivismus verwischt. Mit Laiendarstellern in den Slums von Beirut gedreht, erzählt der Film die Geschichte des Straßenjungen Zain, der seine Eltern dafür verklagt, ihn geboren zu haben. Labaki bringt auf die ganz große Leinwand, was acht Jahre nach dem „Arabischen Frühling“ sonst kaum mehr Thema ist, wenn es um den WANA geht: den Alltag im Elend. Von Lea Frehse
Labaki selbst ist ein Kind der Mittelschicht. Zum Interview bittet sie in ein Restaurant im schicken Beiruter Stadtteil Aschrafiye, wo sie mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt. Wie überall in Beirut ist „Capernaum“, das „Chaos“, nah: Drinnen putzen Arbeitsmigrantinnen aus Äthiopien, vor dem offenen Fenster bettelt ein Kind.
Frau Labaki, in „Capernaum“ verklagt der zwölfjährige Zain seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Das war nachts auf dem Rückweg von einer Party. Ich stand an der Ampel und sah eine bettelnde Frau mit ihrem Kind auf dem Mittelstreifen sitzen. Dem Kind fiel der Kopf auf die Brust vor Müdigkeit, aber die Mutter rüttelte es immer wieder wach. Bettelnde Kinder sind hier in Beirut ständig zu sehen, auch mitten in der Nacht. Aber diese Szene erschütterte mich. Das Kind forderte nichts; nichts zu essen, keine Aufmerksamkeit. Es wollte einfach schlafen, aber selbst das wurde ihm verwehrt. Ich dachte: Was würde uns dieses Kind sagen, wenn man ihm zuhören würde? Es wäre wütend. Es würde anklagen.
Im Umkehrschluss hieße Zains Klage, ein Kind, das so leben muss wie er, wäre lieber nicht geboren worden.
Das habe ich mir nicht ausgedacht. Ich bin für diesen Film über mehrere Jahre in den Elendsvierteln und Heimen im ganzen Libanon unterwegs gewesen. In einem Gefängnis traf ich einen Jungen, etwa sieben Jahre alt. Als ich ihn fragte, wie er auf der Straße überlebt hatte, sagte er: „Jungen haben mir Geld gegeben und schlimme Sachen mit mir gemacht“. Der Junge war vergewaltigt worden, um überleben zu können. Er war es, der mich fragte: Warum bin ich hier? Warum wurde ich auf die Welt gebracht, wenn da keiner ist, der lieb zu mir ist? Ich habe danach jedem dieser Kinder die Frage gestellt: Bist du froh, am Leben zu sein? Die meisten sagten nein.
Sie sind die einzige professionelle Schauspielerin im Film, ausgerechnet in der Rolle von Zains Anwältin. Um ehrlich zu sein: Auf mich wirkte ihr Auftritt gekünstelt, als einziger im Film. Warum sind Sie vor die Kamera gegangen?
Damit hadere ich. Ursprünglich sollte die Anwältin eine größere Rolle spielen, es ging auch um ihr Leben. Aber je weiter wir in den Dreharbeiten kamen, desto mehr wurde klar, dass es sie nicht braucht. Jetzt taucht sie nur noch in der Szene vor Gericht auf, damit der Plot verständlich bleibt. Vielleicht wäre der Film besser gewesen ohne den Auftritt, aber er ist eben auch eine Wahrheit. Dieser Film ist ja auch das Ergebnis meiner eigenen Auseinandersetzung mit der Gegenwart in meinem Land.
Zains Eltern sagen Ihnen vor Gericht ins Gesicht: Sie wissen nicht, wie das ist, arm zu sein.
Und das haben sie von Herzen gesagt. Alle Darsteller – außer mir – spielen Rollen, die ihrem eigenen Leben entsprechen. Wir haben ohne Skript gearbeitet, die Darsteller sollten sagen, was sie in so einer Situation sagen würden.
Taugt Armut als Argument zur Verteidigung?
Zains Eltern sind genau so Opfer, wie ihr Kind. Ein Beispiel: Viele Eltern hierzulande besorgen ihren Kindern keine Geburtsurkunde, so wie sie. Ohne Papiere können die Kinder nicht zur Schule gehen, keinen Ausweis bekommen, werden nie legal arbeiten können. Warum also kümmern sich die Eltern nicht? Weil eine Geburtsurkunde Geld kostet. Wer besorgt da Papiere, wenn nicht mal genug Geld für Essen da ist? Das System lässt die Kinder im Stich. Dafür sind wir alle verantwortlich, nicht nur die Eltern. Eigentlich klagt Zain nicht nur seine Eltern an, er klagt uns alle an.
Man könnte auch sagen: Verantwortlich sind die korrupten Politiker. Die sitzen im Libanon fest im Sattel, genau so wie in vielen anderen Ländern der Region.
Ja, das System ist korrupt, die Politiker sind korrupt. Aber wir können doch als Bürger nicht einfach sagen: Die sind verantwortlich, wir können nichts tun. Wir müssen doch in der Lage sein, zu glauben, dass Veränderung möglich ist! Sonst ist es deprimierend, überhaupt zu leben. Ja, zur Zeit sind wir alle ratlos. Alle Proteste sind ins Leere gelaufen. Jetzt müssen wir schauen, wie es weiter gehen kann, was jeder tun kann. Für mich war es dieser Film.
Im Original heißt der Film einfach „Capernaum“, was so viel bedeutet wie Chaos. Auf Deutsch steht da zusätzlich „Stadt der Hoffnung“. Finden Sie das passend?
Interessant, von dem deutschen Titel wusste ich nichts. Am Anfang stand bei mir der Wunsch, diese Welt besser zu verstehen. Je mehr ich mich mit den gesellschaftlichen Problemen beschäftigte, desto mehr tauchten auf. Das Kind ist nicht in der Schule, weil es keine Papiere hat, weil die Eltern kein Geld haben, weil sie Flüchtlinge sind, weil die Politiker… Chaos! Daher der Titel. Den roten Faden für den Film habe ich erst gefunden, als ich mich wieder traute, zu denken wie ein Kind: Wieso ist das so? Vielleicht ist das der Weg aus der Katastrophe: Wir müssen wieder naiver werden. Das scheint mir manchmal realistischer.
Sie werden scharf dafür kritisiert, dass Sie als privilegierte Frau einen Film über Armut drehen und damit Preise abräumen. Was sagen Sie dazu?
Wer soll es sonst machen? Schauen Sie, die Menschen, die in Armut leben, können nicht so für sich sprechen, oder besser: Diesen Menschen hört keiner zu. Ich habe den Film nicht gemacht, um Preise zu gewinnen, aber wenn er Preise gewinnt, ist es gut. Dann wird er gesehen.
Sie haben in Slums recherchiert und gedreht. Wie sind die Anwohner*innen Ihnen begegnet?
Ich wurde kein einziges Mal abgewiesen. Anfangs hat mich das selbst gewundert, immerhin bin ich in Häuser gekommen, in denen Kinder misshandelt wurden. Aber die Leute haben gemerkt, dass wir kamen, um zuzuhören. Auch eine Mutter, die ihr Kind schlägt, will verstanden werden.
Wie sind Sie damit umgegangen, täglich in diesen Umständen zu arbeiten und abends zurückzukehren in Ihr gewohntes Umfeld?
Bei den Dreharbeiten bin ich täglich mittags für eine Stunde nach Hause gegangen, um zu stillen. Meine Tochter war noch ein Säugling. Das hat mich geerdet. Aber: Ich habe mich nicht als Fremde in einer feindlichen Umgebung verstanden. Die Orte, an denen wir gedreht haben, sind Teil meiner Stadt. Und der Film war für mich die Möglichkeit, dazu beizutragen, sie zu verändern.
Geben Sie Straßenkindern Geld?
Ja. Ich weiß, dass es schlecht ist, weil ich so das System dahinter unterstütze. Aber ich weiß auch, dass die Kinder erst ins Bett kommen, wenn sie einen bestimmten Betrag mit nach Hause bringen. Ich gebe Geld, damit sie dann schlafen gehen können.
Nadine Labaki, 44, ist eine libanesische Regisseurin und Schauspielerin. Mit ihrem Debüt „Caramel“ (2007) wurde sie weltbekannt; ihr Film „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ (2018) ist in diesem Jahr für einen Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert.