01.02.2025
Bürgerkrieg aus Sicht der Hotels
Mayssa Jallad während eines Konzerts in Beirut. Foto: Alexandre Davidson
Mayssa Jallad während eines Konzerts in Beirut. Foto: Alexandre Davidson

Wenn die Wände Beiruts sprechen könnten, würden sie von Krieg und Zerstörung erzählen. Auf ihrem aktuellen Album geht Mayssa Jallad diesen Geschichten nach und öffnet damit einen eindrucksvollen Dialog zwischen Architektur und Musik.

Die Wände, um die es auf »Marjaa: The Battle of the Hotels« geht, sind die Betonwände des Beiruter Hotelviertels, welches im Oktober 1975 zum zentralen Schauplatz des beginnenden Bürgerkriegs wird. Die sogenannte Hotelschlacht entfacht, als Milizen das Viertel besetzen und sich in den großen Hotels des Viertels verschanzen, aus denen sie sich fortan gegenseitig bekämpfen. Aus den fünf Monate andauernden Gefechten resultiert die „Grüne Linie“, die Beirut in einen muslimischen Westen und einen christlichen Osten trennt.

Seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 werden die Ruinen der Hotels ihrem Verfall überlassen. Einige werden abgerissen. Das, was ihre Wände zu erzählen hätten, möchte im Beirut der Nachkriegszeit niemand hören. Der Bürgerkrieg ist ein gesellschaftliches Tabu; nicht einmal im Schulunterricht wird er besprochen.

Die Sängerin und Architektin Mayssa Jallad bricht nun mit diesem Tabu. »Marjaa: The Battle of the Hotels« erzählt von Beirut, der Hotelschlacht sowie dem Wesen der Gebäude und zeigt dabei, wie die Geister der Vergangenheit einen Frieden in der Gegenwart verhindern. 

Zwischen Architektur und Musik

Mayssa Jallad beschäftigte sich zunächst akademisch mit der Hotelschlacht. 2017 schreibt sie ihre Abschlussarbeit über das Thema und geht darin der Frage nach, wie sich das Hotelviertel in einen historischen Bezirk verwandeln ließe. 

Auf die Idee, ihre Leidenschaften – Architektur und Musik – zu vereinen, kommt Jallad inmitten einer Lebenskrise: „Ich arbeitete in einem Architekturbüro in New York und hatte gerade meine Abschlussarbeit über die Hotelschlacht in Beirut fertiggestellt. Ich habe mich zwei Jahre in die Geschichte von Beirut vertieft und dabei unglaubliche Sachen über meine Stadt erfahren. Gleichzeitig wurde es immer schwieriger für mich, Musik zu machen. Meine Basis, meine Musikkontakte, sind in Beirut“, erzählt die Sängerin. Sie sehnt sich danach, weiterhin Musik zu machen, möchte die Architektur aber nicht dafür aufgeben. Sie entschließt sich, zurück nach Beirut zu ziehen und die Geschichte der Stadt, über die sie die letzten zwei Jahre geforscht hat, in Liedern zu verarbeiten.

Ein unheimlicher Spaziergang

Das Ergebnis ist ein faszinierender Mix aus experimentellem Folk, Ambient und Post-Rock, für den sich Mayssa Jallad Unterstützung bei ihrem Produzenten Fadi Tabbal und weiteren Musiker:innen geholt hat. Der Stil unterscheidet sich deutlich von Jallads vorherigem Musikprojekt, der Indie-Popband Safar, deren Songs Jallad zu einem Großteil auf Englisch performt. Auf »Marjaa: The Battle of the Hotels« singt Jallad nur noch auf Arabisch und auch in den Melodien sind arabische Elemente nun hörbarer. 

Das Album beginnt mit einem musikalischen Spaziergang. Auf zwei ineinanderfließenden Songs begleitet Mayssa Jallads Stimme, unterlegt vom meditativen Oud-Spiel Youmna Sabas, die Hörer:innen  durch ein gespenstisches Beirut. Jallad beschreibt die Stadt als verlassen und von Wolkenkratzern gefangen gehalten. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen; die Landkarte, die sie zur Orientierung bei sich hat, ist unverständlich.

Es ist das Beirut der Gegenwart, in dem sich ein Unbehagen bemerkbar macht. Das wird auch im Song »Baynana« spürbar. Nach zwei Minuten verspielter Gitarrenharmonien bekommt der Song durch plötzlich einsetzende Delays und Verzerrungen eine drastische Wendung, die zeigt: Hinter der Fassade von Beirut verbirgt sich ein Abgrund. 

Singende Hotels 

Dem Abgrund widmet sich der zweite Teil des Albums, der die Ereignisse der Hotelschlachtaufarbeitet. Während die ersten Songs noch von Seiteninstrumenten und einer verträumten Stimmung bestimmt waren, wird das Album nun deutlich dynamischer und entfaltet eine abgründige Dramatik, lässt aber auch immer wieder Ruhe und Schönheit einkehren. Unter Einsatz von treibender Perkussion, düsteren Synthesizern und Drones erzählt Jallad episodenhaft den fünfmonatigen Kampf. 

Textlich gelingt Jallad hier ein Kunstgriff. Sie singt aus der Perspektive der Hotels. Die Gebäude schildern, wie sie von den Milizen gestürmt werden und wie aus ihnen heraus gekämpft wird. Im Song »Burj al Murr (October 25 to 27)« heißt es: „Er klettert meinen Rücken hinab/ Er atmet schwer durch meine Lungen/ Er erreicht meinen Kopf/ Sieht durch meine Augen/ Tötet durch meine Augen, in Richtung Ost-Beirut“. Jallads Texte handeln von vermenschlichten Bauten, die unter den Gefechten leiden, durch sie traumatisiert werden. Auf »Markaz Azraq (December 6)« klagt ein Gebäude immer wieder: „Ich glaube, so eine Gewalt habe ich noch nie erlebt“.

Durch Architektur erinnern

Die Entscheidung, aus der Perspektive der Gebäude zu singen, war für Mayssa Jallad auch ein Weg, den Konflikt aus einer neutraleren Position zu erzählen: „Ich denke als Architektin. So habe ich überhaupt erst angefangen, mich für den Konflikt zu interessieren. Nicht, um zu beweisen, wer ihn gewonnen oder verloren hat, sondern um zu verstehen, was die Milizen meiner Stadt angetan haben. Ich bin sehr beschützerisch, wenn es um Beirut geht. Das ist ein besonderer Ort für mich, mein Zuhause“.

In der Architektur sieht Jallad gleichzeitig die Möglichkeit, ein nachhaltiges Bewusstsein in der Bevölkerung für den Bürgerkrieg zu generieren. Es mangele an sichtbarer Aufarbeitung im urbanen Raum. „Es gibt in Beirut keine Gedenktafeln, die daran erinnern, was hier geschehen ist. Nicht eine einzige. Die Gebäude wurden entweder schick renoviert, komplett abgerissen oder verharren als wahnsinniges Relikt eines Monuments.“ Anstatt die Gebäude ihrem Verfall zu überlassen, fordert Jallad, historische Führungen zu organisieren. Doch es ist schwierig und bisweilen frustrierend, sich um eine neue Gedächtniskultur zu bemühen, wenn die regierenden Politiker:innen jegliche Vorstöße in eine solche Richtung abweisen. 

Ein Balanceakt

Die Sängerin wusste, dass ein Album über die Hotelschlacht ein Balanceakt ist. Bereits in ihrer Abschlussarbeit bezieht sich Jallad auf den libanesischen Historiker Gregory Buchakjian, der darauf hinweist, dass der Kampf um das Hotelviertel etwas so Spektakuläres darstellt, dass er, vor allem für die Medien, zu einem „sexy object“ avancierte und jede Form der Auseinandersetzung stets Gefahr laufe, das Grauen der Ereignisse zu sensationalisieren. 

Jallad erklärt: „Mir war die Objektifizierung dieses Kampfes in den Medien natürlich bewusst. Die Tatsache, dass er damals so stark medialisiert wurde, hängt damit zusammen, dass dieser Kampf – auch wenn das aus vielen Gründen falsch ist – sexy ist. Mir ist klar, dass auch mir vorgeworfen werden könnte, die Sache als sexy darzustellen, da ich sie in Musik umwandle. Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb es so lange gedauert hat, das Album zu schreiben. Wir mussten die richtige Balance finden. Ich hätte nicht einfach Popsongs zu diesem Thema schreiben können, das hätte nicht gepasst. Das Thema ist zu sensibel und mit dem Verlust so vieler Menschen sowie einer bis heute anhaltenden Gewalt verwickelt.“

Beirut zum Sprechen bringen

Mit »Marjaa: The Battle of the Hotels« hat Mayssa Jallad ein immersives Musikerlebnis geschaffen, das zudem zu einer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Bürgerkriegs einlädt. Die Stärke dieses Albums liegt in der Verschmelzung nüchterner Beschreibung und Betroffenheit. Es gelingt Jallad, ohne übertriebenen Pathos oder einer Verklärung, ganz nah an dieses historische Ereignis heranzutreten. Dasselbe gilt für die Kompositionen, die in keinem Moment einem Soundtrack ähneln und dennoch die Kämpfe in eine musikalische Form zu übersetzen wissen. 

Die Sängerin hat bereits Ideen, wie sie ihr Projekt - die Verbindung von Architektur und Musik - fortsetzen kann: „Es gibt so vieles, über das man sprechen sollte. Es gibt so viel nicht erzählte Geschichte.  Ich bin von so vielen Gebäuden in Beirut fasziniert. Wenn man etwas recherchiert, realisiert man, dass sie Teil von etwas waren. Vom Bürgerkrieg, aber auch vom Alltag. Ich arbeite an einem neuen Album. Ich weiß noch nicht genau in welche Richtung es gehen soll, aber es steht fest, dass es um Architektur und darum, in Beirut und im Libanon zu leben gehen wird“. Es lässt sich also erwarten, dass Mayssa Jallad die Wände weiterhin zum Sprechen bringen wird, solange die Menschen es bevorzugen, zu schweigen.

 

 

Tom Dietrich hat Arabistik in Münster, Köln und Amman und Fotografie an der ISI Yogyakarta studiert. Im »provisorisch legal«-Podcast spricht er mit Expert:innen über Drogen.
Redigiert von Nora Krause, Sören Lembke