22.08.2018
Warteschlangen für den Sprachkurs

Muhammed Ibrahim ist nach Deutschland gekommen, um der ägyptischen Gesellschaft zu entfliehen und hier ein Master-Studium zu beginnen. Bei Ankunft in Deutschland wird ihm zunächst mitgeteilt, dass sein Deutsch-Sprachkurs abgesagt wurde. Mit Aisha Abdelrahman redet er über seine Erlebnisse und Gedanken zu den ersten Monaten in Deutschland.

Dieser Text ist Teil unserer Serie „Tschüss ya Biladi, Hallo Gorba!”, in der junge Menschen aus Ägypten erzählen, warum sie nach Deutschland auswandern wollen - oder wie es ihnen seit ihrer Ankunft in Deutschland ergangen ist. Alle Texte der Serie finden Sie hier.

Muhammed erste Station in Berlin war eine arabische WG. Hier haben wir uns kennengelernt. Kurze Zeit später mache ich mit anderen ägyptischen Freunden eine Berlin-Tour, Muhammed meldet sich sofort an. Wir verabreden uns um 15:20 Uhr vor dem Brandenburger Tor. Er ruft zehn Minuten vor dem Termin an, fragt nochmals nach dem Treffpunkt und wie er ihn erreichen könne. Ohne ihn fängt die Tour an, er kommt eine Stunde später.

Muhammed ist 27 Jahre alt, er lächelt gerne und macht öfter Witze. Begeistert erzählt er, dass er die „Araberstraße“ Sonnenallee alleine gefunden und dort Falafel für fünfzig Cent und Schawarma für einen Euro gekauft habe. Während unseres Spaziergangs durch Berlin bemüht sich Muhammed, jedes Schild auf Deutsch zu lesen und freut sich sehr, wenn er es schafft. Er versucht, die Karte des öffentlichen Nahverkehrs und dann in der Bahn die Gespräche der Menschen zu verstehen. Neben ihm spricht ein Kind sehr schnell mit seinen Eltern. Muhammed hört kurz zu, dann gibt er auf und sagt: „Oh, dieses Kind spricht Deutsch wie ein Profi.“

Ohne Kontakte: keine Chance

In Kairo hat Muhammed, der aus dem Süden Ägyptens kommt, erfolgreich ein Ingenieurs-Studium abgeschlossen. Dann musste er zum Militär. Ein Verwandter von ihm arbeitet dort zwar in einer gehobenen Position und hätte Muhammed durch seine Kontakte – „nicht legal“ – davon befreien können. „Ich fand es unmoralisch und habe meinen Dienst gemacht. Das war sehr dumm von mir“, sagt Muhammed heute. Allerdings bekam er beim Militär nur leichte Aufgaben. Letztlich habe sich in der Zeit hauptsächlich gelangweilt, erzählt er.

Nach dem Militärdienst wurde Muhammed – durch Bekannte – eine Stelle als Produktionsingenieur vermittelt, wo er sehr gut verdiente. Doch bald sei es ihm klar geworden, dass man in der Firma nur aufsteigen könne, wenn man gute Beziehungen zu den Vorgesetzen habe. „Die haben uns sogar schlecht behandelt, und wir durften nur das machen, was sie uns sagten. So funktioniert es überall in Ägypten”, sagt Muhammed.

Mit dem Ziel Dozent zu werden, fing Muhammed nebenbei ein Master-Studium an. Doch kurz danach sei ihm klar geworden, dass dies vergeblich und nur eine Zeitverschwendung sei. „Egal, ob ich promoviert hätte oder nicht, und egal, wie gut ich bin – ich bekomme jede Stelle nur durch Kontakte“, erklärt er.

Gewalt und Intrigen prägten den Alltag 

„Ich habe Ägypten verlassen, weil ich mit dieser scheinheiligen und betrügerischen Gesellschaft nicht umgehen kann”, erzählt Muhammed weiter. Seine Arbeitskollegen hätten ihn in den Unterleib geschlagen und schlecht über ihn geredet, weil sie neidisch auf ihn waren. Das sei Alltag gewesen. Auch Muhammeds Freunde seien neidisch auf ihn gewesen, weil er ein Studium abgeschlossen hatte, vermutet Muhammed. „Sie haben hinter meinem Rücken über mich geredet und unterstellten mir verschiedene Dinge. Ich habe ihnen fälschlicherweise vertraut.” Und auf der Arbeit hatte er sich in eine Kollegin verliebt. Doch deren Vater lehnte ihn nach mehreren Besuchen und Gesprächen ab. „Er wollten ihren Cousin, der Pilot ist, als Ehemann für sie. Am Ende hat dann auch sie mich einfach aufgegeben.”

An einem Tag dann hätte Muhammeds chinesischer Vorgesetzter vom ihm verlangt, Dinge zu erledigen, die nicht zu seinen Aufgaben gehörten. Muhammed widersprach ihm. „Er war sauer, laut und warf Gegenstände auf den Boden. Ich habe den Raum sofort verlassen und wusste, dass ich in diesem Land keine Zukunft habe.”

Online liest Muhammed einen Facebook-Post von einem Ägypter, der in Deutschland lebt. Der Titel: „Wie kannst du aus Ägypten ausreisen?” Kurz danach bricht Muhammed sein Master-Studium ab und fängt an, Deutsch zu lernen. Ein Jahr später bewirbt er sich für ein Master-Studium in Deutschland und bekommt ein Studien-Visum für Braunschweig, wo er niemanden kennt und keine Wohnung hat.

WGs und ein gestohlener Brief

Anfang dieses Jahres schließlich landet Muhammed zum ersten Mal in Europa. Kurz vor seiner Ankunft informiert ihn die Universität, dass sein Sprachkurs abgesagt sei. Er kontaktiert Bekanntein Berlin und landet daraufhin in einer arabischen WG in Charlottenburg. Dort kann er einige Tage bleiben, bis er eine Wohnung findet. Er schläft in einem Doppelzimmer mit zwei Ägyptern, die ihm bei der Wohnungssuche, Behördengängen und der Einrichtung eines Bankkontos helfen.

Schnell findet Muhammed eine Bleibe: eine Ein-Zimmer-Wohnung in Spandau, deren eigentlicher Bewohner nur am Wochenende kommt. Auch er ist Ägypter. Und eigentlich darf er gar keine Untermieter haben. Die Wohnung sei zwar schön, aber Muhammed fühlt sich dort einsam: „Es ist am Ende der Welt. Nach der S-Bahn fahre ich noch 20 Minuten mit dem Bus. Ich habe mir aber ein Fahrrad gekauft“, sagt er. Letztlich meldet sich Muhammed bei den Behörden mit der Adresse einer ihm bekannten arabischen WG und fährt regelmäßig dorthin, um seine Post abzuholen.

Eines Tages ruft mich Muhammed an und erzählt, dass die Briefe seiner Bank aus der Post gestohlen worden seien. 600 Euro fehlen auf dem Bankkonto. Muhammed ist schockiert. Allein geht er zur Polizei und gibt eine Anzeige auf. Seine Deutschkenntnisse reichen dafür aus, doch wie es weitergehen soll, versteht er bei der Polizei dann kaum noch. Er wendet sich an Bekannte, die ihn zur Bank und nochmals zur Polizei begleiten.

Niemand versteht ihn auf Englisch

An einem anderen Abend treffen Muhammed und ich uns am Alexanderplatz. Er kommt mit seinem ägyptischen Mitbewohner. Dass manche junge Leute auf der Straße Musik spielen, begeistert ihn. Wir sitzen auf der Wiese vor dem Bundestag und führen unser Gespräch weiter.

„Ich wohnte mein Leben lang auf dem Land. Natürlich habe ich hier einen Kulturschock bekommen”, erzählt Muhammed. Die Straßen seien sauber, und jeder gehe respektvoll mit dem Anderen um. Er habe nicht gedacht, dass das öffentliche Verkehrssystem so störungsfrei laufe. Man wisse vorher Bescheid, welche Verbindung man nehmen könne und wie lang es dauere, und Google Maps funktioniere auch. „Alle Menschen sind hilfsbereit, außer einer unfreundlichen Bankmitarbeiterin.“

Für Muhammed verlässt sich das System in Deutschland darauf, dass die Menschen glaubwürdig seien. Das habe einen religiösen Hintergrund. „Wenn ich schwarz gefahren wäre, hätte ich ein schlechtes Gewissen bekommen”, sagt er. Allerdings sei auch dieses System manchmal komisch – wie könne eine Bank sensible persönliche Daten einfach an eine Briefkasten-Anschrift schicken und nicht an die Person selbst?

Generell sei es für Muhammed nervig, dass er sich auf Deutsch manchmal nicht ausdrücken könne. „Dann spreche ich Englisch und keiner versteht mich.” Die Deutschen mögen es nicht, sie möchten, dass man ihre Sprache beherrscht, sagt er weiter. „Ich glaube, die Leute werden es schätzen, wenn ich flüssig Deutsch spreche. Irgendwann werde ich so schnell wie die Kinder reden.”

Geld zu verdienen ist schwer

Deutschland sei für Muhammed nie das Land der Träume gewesen. „Ich habe immer gedacht, dass das Leben hier nicht einfach ist, und es ist tatsächlich schwer.” Das Schwerste sei, Geld zu verdienen. Muhammed habe noch keine Arbeit gefunden, bisher keine Aufenthaltserlaubnis bekommen und bis jetzt auch noch keinen Platz im Sprachkurs. „Ich habe nie gedacht, dass meine Geldausgaben so hoch sein werden und dass die Versicherung so teuer ist.“ Er habe sich 8.000 Euro ausgeliehen, um das Visum bekommen zu können. Jetzt sei es schwer, den Betrag zurückzuzahlen.

Innerhalb der nächsten Jahre will Muhammed die deutsche Sprache beherrschen, mit dem Studium fertig sein und einen festen Job haben. „Eine deutsche Frau werde ich nicht heiraten. Die deutschen Frauen haben eine andere Mentalität. Wenn ich eine Muslima finde, die religiös ist, wäre das möglich”, sagt Muhammed und redet dann noch lang über die Schönheit der deutschen Frauen.

Nach den ersten vier Wochen in Berlin sei für Muhammed klar: Seine Kinder sollen keine Ägypter werden. Sie sollen pünktlich sein, gut erzogen, gesundes Essen essen, sauberes Wasser trinken, und sie sollen einen deutschen Pass haben, mit dem sie überall auf der Welt hinreisen können. Außerdem erklärt er: „Mir ist es wichtig, dass meine Kinder Muslime werden. Es darf nicht passieren, dass meine Tochter mit einem Freund nach Hause kommt.”

Sobald seine Kinder sieben oder zehn Jahre alt wären, würde Muhammed Deutschland deshalb verlassen und in einem der Golfländer wohnen wollen – bis die Kinder erwachsen wären und ihre islamische Identität gefestigt hätten. Anschließend könne es dann wieder zurück nach Deutschland gehen.

Auswanderung hat negative Folgen fürs Land

In Deutschland selbst fühle Muhammed sich aber nicht fremd, auch weil er hier schnell Ägypter getroffen hätte. „Man sagt, es gibt Wärme in Ägypten. Hier ist es aber auch nicht kalt.” Und alles habe eben seine Nachteile: „Wenn ich krank bin und meine Mutter anrufe, wird sie nicht bei mir sein können.”

Über Ägypten denkt Muhammed fast gar nicht nach. Allerdings ist er der Meinung, dass die starke Auswanderung Ägypten stark beeinflusse. Als er zum Goethe-Institut ging, um sich für einen Sprachkurs anzumelden, fand er eine riesige Warteschlange vor. Schon um Mitternacht hatten Menschen angefangen sich anzustellen – die Anmeldung startet um 09.00 Uhr morgens.

Alle seien Ärzte, Ingenieure und andere hochqualifizierte Bewerber gewesen, merkt Muhammed an. Angela Merkel habe wohl aufgrund der aktuellen Arbeitsmarktsituation die Hoffnung, hochqualifizierte Mitarbeiter aus dem Ausland nach Deutschland zu bringen, die dann bestimmt niedrigere Gehälter als die Deutschen bekommen würden, sagt er. Und überlegt weiter: „Wenn alle das Land verlassen, wer wird dann da arbeiten? Die Erfolglosen! Und das wird Ägypten zerstören.”

Nachtrag: Weil Muhammed keine Aufenthaltserlaubnis in Berlin bekommen konnte, zog er nach Braunschweig. Dort hat er einen Deutschkurs begonnen. Während des diesjährigen Ramadan wäre er gerne in Ägypten gewesen.
 

Artikel von Aisha Abdelrahman
Redigiert von Johannes Gunesch, Jan-Holger Hennies