03.09.2017
Vom Messianismus zur Mittelklasse: Israelische Siedlungen im Westjordanland
Blick auf die Siedlung Ma'ale Adumim, eine der größten im Westjordanland. Foto und Montage: Tobias Pietsch/Alsharq
Blick auf die Siedlung Ma'ale Adumim, eine der größten im Westjordanland. Foto und Montage: Tobias Pietsch/Alsharq

Die israelischen Siedlungen im Westjordanland gelten international als zentraler Streitpunkt und Dauerthema im Israel-Palästina-Konflikt. Für die israelische Mittelklasse stellen sie aber günstige und komfortable Vororte in teurer werdenden Lebensumständen dar. Dass sich die Siedlungen vom ultrareligiösen Projekt zum Vorstadtparadies wandelten, ist ein Erfolg der israelischen Regierung.

Dieser Text ist Teil einer Serie zum Krieg von 1967. Alle Beiträge der Serie findet Ihr hier.

Die israelischen Siedlungen gehören zu den größten Konfliktpunkten zwischen Israelis und Palästinensern. Ihre Verteilung im gesamten Westjordanland erschwert das Erreichen eines durchgehenden souveränen palästinensischen Staates – wenn sie ihn nicht sogar unmöglich machen. Der hoch umstrittene Charakter der Siedlungsprojekte verschleiert jedoch die Tatsache, dass viele der Siedlungen der israelischen Mittelklasse als komfortable und preiswerte Vororte dienen. Diese „Normalisierung“ der Siedlungen und ihre Eingliederung in dasLeben und die politischen Vorstellungen vieler Israelis ist möglicherweise der größte Erfolg des israelischen Siedlungsprojekts. Durch ihre weitreichende Akzeptanz und Depolitisierung erfahren die Siedlungen in der israelischen Öffentlichkeit wenig Beachtung.  

 B'tselem (cc-by-sa) Siedlungen in der Westbank, November 2014. Karte: B'tselem (cc-by-sa, Klick auf den Link führt zu Auswahl mehrerer Karten mit höherer Auflösung)

Die Ursprünge der Siedlerbewegung

Unmittelbar nach dem israelischen Sieg im Krieg 1967 wurde Israel von einer Welle religiöser Hochstimmung beherrscht. Die Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens bedeutete, dass zum ersten Mal seit dem 2. Jahrhundert nach Christus die Klagemauer und eine Reihe von religiösen Stätten wieder unter jüdische Kontrolle gelangten. Diese Entwicklung führte zu einem bemerkenswerten Anstieg in messianistischen Haltungen in der israelischen Gesellschaft, während der israelische Sieg zunehmend als Gottes Wille betrachtet wurde. Nationalistisch-religiöse Euphorie stand auf der Tagesordnung.[1] 

Die anfängliche Siedlerbewegung entstammte dieser Strömung. Die prominenteste Gruppe nannte sich bezeichnenderweise Block der Getreuen (Hebräisch: Gusch Emunim). Ihre Mitglieder sahen die Niederlassung im Westjordanland (ihnen zufolge Judäa und Samaria, getreu der biblischen Namen für die Region) als eine religiöse Pflicht und Ehre, die das Kommen des Messias beschleunigen sollte. Das berühmt-berüchtigste Beispiel der Bewegung ist wohl die Siedlung in Hebron, wo 1994 ein amerikanisch-israelischer Siedler 29 Palästinenser massakrierte und fundamentalistische Siedler weiterhin täglich Palästinenser tyrannisieren.[2] Entscheidend ist jedoch, dass diese Bestrebungen ohne die Unterstützung des israelischen Staates und seiner Behörden niemals einen solchen Erfolg vorweisen könnten.

Schon in den Anfängen der Siedlerbewegung stellte die israelische Regierung den Siedlern militärischen Schutz und grundlegende Infrastruktur zur Verfügung. Allein in Hebron kommen auf ein paar hundert Siedler mehrere tausend Soldaten. Der israelische Staat konzipierte die Siedlungen als Teil eines strategischen Plans, um das Westjordanland besser kontrollieren zu können. Die besetzten Gebiete sollten, im Falle eines Angriffes von den arabischen Armeen im Osten, eine Pufferzone darstellen. Dementsprechend, obwohl einige Kommentatoren der Meinung sind, die Siedler hätten gewissermaßen die israelische Politik „gekapert“,[3] wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass die Siedlungen von Anfang an tief in den Staatsvorstellungen verwurzelt und mit ihnen verflochten waren.

Der Fokus auf das religiöse Segment der Siedlerbewegung verschleiert auch die Tatsache, dass eine Reihe von Siedlungen nicht von den Mitgliedern Gusch Emunims oder gleichgesinnter religiöser Israelis gegründet wurden, sondern von den israelischen Behörden geplant wurden. Dies betrifft besonders die Siedlungen in Ost-Jerusalem und in unmittelbarer Nähe der Stadt. Es ist kein Zufall, dass French Hill eine der ersten Siedlungen war, schließlich verbindet sie den Campus der Hebräischen Universität Jerusalem auf dem Skopusberg mit West-Jerusalem. In den darauffolgenden Jahren autorisierte die Regierung die Etablierung weiterer Siedlungen in Ost-Jerusalem und den umliegenden Gebieten.[4] Als Ergebnis dieser Regierungspläne ist Jerusalem im Prinzip von israelischen Siedlungen eingekesselt, womit OstJerusalem, die geplante Hauptstadt eines palästinensischen Staates, vom Rest des Westjordanlandes abgeschnitten ist.

 Ir Amim (erscheint hier mit freundlicher Genehmigung). Siedlungen rund um Jerusalem. Karte: Ir Amim (erscheint hier mit freundlicher Genehmigung).

Siedlungen werden zum Mainstream

Dennoch erfolgte der größte Wandel im Wesen der Siedlungen in den späten 1980ern und in den 1990ern. Mehrere Entwicklungen trieben diese Veränderungen voran: Zunächst erlebte die sozio-ökonomische Politik in Israel eine massive neoliberale Wendung. Durch eine Welle von Privatisierungen und Kürzungen öffentlicher Dienstleistungen stiegen die Lebenshaltungskosten für die israelische Mittelklasse und Unterschicht erheblich. Gleichzeitig präsentierte die israelische Regierung eine Reihe von staatlichen Subventionen, Steuererleichterungen und günstigen Krediten für diejenigen israelisch-jüdischen Bürger, die ins Westjordanland ziehen würden. Angesichts dieser Konditionen fingen einige Kommentatoren sogar an, von einem Wohlfartsstaat für die israelische Mittelklasse in den besetzten Gebieten zu sprechen.[5]

Zeitgleich spielten das Oslo-Friedensabkommen und seine politischen Auswirkungen eine zentrale Rolle in den Regierungsentscheidungen zur Zukunft der Siedlungen. Das Etablieren eines palästinensischen Staates wurde im Friedensprozess als ultimatives Ziel der Verhandlungen gesetzt, die baldige Aufgabe israelischer Kontrolle über das Westjordanland wurde dadurch (anscheinend) unmittelbar. Um zumindest einen Teil des umstrittenen Gebietes zu bewahren, intensivierte die israelische Führung den Bau von Siedlungen und schuf „vollendete Tatsachen“. Die Schnittstelle von geopolitischen Beweggründen und sozioökonomischen Bedingungen führte dazu, dass junge, sich abmühende Mittelklassefamilien zunehmend in die großen Siedlungen zogen.[6]

Die israelischen Behörden investierten bemerkenswerte Ressourcen, um es diesen Gemeinschaften so komfortabel wie möglich zu machen. Sie verfügen über große Parks, die in den meisten Städten Israels eher selten sind. Den israelischen Gemeinden im Westjordanland stehen wesentlich mehr finanzielle Mittel zu Verfügung als den Gemeinden in Israel selbst, was dazu führt, dass die Siedlungen bessere öffentliche Dienstleistungen anbieten können.[7]

Infrastruktur verbindet Siedlungen mit dem israelischen Kernland und mit Gewerbegebieten, damit ihre Anwohner zur Arbeit pendeln können. Der Staat betreibt also einen beträchtlichen Aufwand, um die Grüne Linie – die Linie des Waffenstillstands von 1949 – praktisch auszuradieren.[8] Heutzutage kann man diese international anerkannte Grenze überqueren, ohne es zu bemerken. Dies hat wichtige Folgen: In den Alltagserfahrungen der Siedler gehören die Siedlungen praktisch gesehen inzwischen tatsächlich zu Israel.  

 Jakub Záhora Ein Park in der Siedlung Ariel. Foto: Jakub Záhora

 

Zudem trennt das aktuelle Regime im Westjordanland Israelis und Palästinenser durch ein sorgfältig ausgearbeitetes System von Absperrungen, Wegen, unterschiedlichen Ausweisen und Genehmigungsscheinen. Dies sorgt dafür, dass ein Großteil der Siedler niemals mit Palästinensern in Kontakt kommt.[9] Sie könnten sie höchstens auf den Baustellen der Siedlungen erblicken, aber selbst dort müssen palästinensische Arbeiter aufgrund der bestehenden Regulierungen von ihren Arbeitgebern vom Siedlungseingang bis zur Baustelle und zurück begleitet werden. Sie müssen außerdem zu jeder Zeit von israelischem Sicherheitspersonal bewacht werden. Die israelischen Mittelklasseenklaven innerhalb der besetzten Gebieten können also existieren, ohne dass ihre Bewohner jemals die brutale Praxis erleben, die die israelische Herrschaft über die Palästinenser aufrecht erhält.

All dies bedeutet nicht, dass der Großteil der Siedlerbevölkerung im Westjordanland streng säkulare Israelis sind. Vielmehr heißt es, dass selbst wenn die meisten Siedler religiös sind, ihre primäre Motivation, um in die besetzten Gebiete zu ziehen, nicht ihr Glaube an das bevorstehende Kommen des Messias ist. Obwohl im Westjordanland zu leben überwiegend mit ihren religiösen Ansichten übereinstimmt und sie es als ihren Beitrag zur Fortführung von historischem jüdischen Leben in der Gegend betrachten, ist es vornehmlich die Zweckmäßigkeit und das Versprechen eines wohlhabenden Lebensstils, die sie in Siedlungen wie Efrata südlich von Jerusalem lockt. Im Falle einiger Siedlungen sind selbst diese „weichen“ religiösen Gründe abwesend. Ma’ale Adumim, eine bedeutende Siedlung östlich von Jerusalem, dient schlicht als ein Vorort für Familien aus Jerusalem, die sich die hohen Lebenshaltungskosten in der Stadt nicht leisten können. Selbst einige Wähler von Meretz, der am stärksten linksgerichteten Partei in Israel, sind dorthin gezogen.[10]

Alltägliche Förderung der Besatzung

Die vorherrschende Konzentration auf die religiös-messianistischen Segmente der Siedlerbevölkerung verschleiert viele Aspekte der israelischen Kontrolle über die palästinensischen besetzten Gebiete. Obwohl extremistische Siedler für eine Reihe von Attacken gegen Palästinenser im Westjordanland verantwortlich sind, bilden sie, von der Größe her, eine eher kleine aber sichtbare Minderheit. Tatsächlich sind es die großen Siedlungen, welche die wesentliche Hürde für die Etablierung eines tragfähigen palästinensischen Staates bilden. Mit dieser geopolitischen Dimension vor Augen ist es bemerkenswert, wie gewöhnlich die Siedlungen in den letzten 25 Jahren geworden sind.

Genau dieser langweilige und familienfreundliche Charakter ist es aber, der den ultimativen Erfolg des Siedlungsvorhabens vorweist. Indem Siedlungen in Vorstadtparadiese der urbanen Ballungsräume verwandelt wurden, haben sie den, wenn nicht kontroversen, zumindest kuriosen Status verloren, den sie in der Vergangenheit in Israel zumeist inne hatten. Die Tatsache, dass eine junge unpolitische israelische Familie nicht zögern würde ins Westjordanland zu ziehen, ist bezeichnend dafür, wie verankert die Siedlungen in der israelischen Gesellschaft sind. Eine Situation, von der die Mitglieder Gusch Emunims vor 40 Jahren nur träumen konnten.

 

Jakub Záhora ist Doktorand der Internationalen Beziehungen in Prag. Seine Forschungsinteressen sind unter anderem der Israel-Palästina-Konflikt, die israelische Politik und Gesellschaft und kritische Ansätze in den Internationalen Beziehungen. Er ist unter [email protected] zu erreichen.

 

Fußnoten:

[1] Tom Segev, 1967: Israel, the War, and the Year That Transformed the Middle East. New York: Metropolitan Books, 2005.

[2] Siehe Berichte von B’Tselem, einer israelischen Menschenrechts-NGO, auf www.btselem.org/topic/hebron.

[3] Siehe z.B. Idith Zertal und Akiva Eldar, Lords of the Land: The War for Israel's Settlements in the Occupied Territories, 1967-2007. Philadelphia: Nation Books, 2007.

[4] Siehe Berichte von Ir Amim, einer israelischen NGO, die die Situation in Jerusalem überwacht, auf www.ir-amim.org.il/en/reports_1/639.

[5] Gutwein, Danny, „The Settleements and the Relationship between Privatization and the Occupation“, in: Marco Allegra, Ariel Handel und Erez Maggor (Hrsg.) Normalizing Occupation. The Politics of Everyday Life in the West Bank Settlements. Bloomington: Indiana University Press, 2017.

[6] „They Call Them ‘Light Version’ Settlements on the West Bank“, Al-Monitor, August 15, 2012. Online.

[7] Tali Heruti-Sover, „Report: Settlements Receive Disproportionate State Funding“, Haaretz, September 9, 2014. Online.

[8] Shakked Auerbach, „No One Actually Knows Where Israel Ends and the Palestinian Territories Begin“, Haaretz, July 8, 2017. Online.

[9] Neve Gordon, „From Colonization to Separation: exploring the structure of Israel’s occupation”, Third World Quarterly, Vol. 29, No. 1, 2008.

[10] Persönliches interview mit einem früheren Bewohner von Ma'ale Adumim, November 2015.

 

Ebenfalls in dieser Serie erschienen:

Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.

Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam

Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte

Der Kriegsbeginn 1967 in der Nahost-Presse: Euphorie überall

Fortsetzung der Presseschau: Stell Dir vor, es ist Kriegsende und kaum einer schreibt es

Die Folgen des Juni-Kriegs 1967,in Israel

1967: Wendepunkt für die arabische Linke – am Beispiel von Georges Tarabischi

Die Folgen von 1967 in Ägypten: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Nasser und der Krieg 1967: Zwischen politischem Kalkül und Improvisation

Wenn über Erinnerungen Gras wächst – palästinensische Ruinen im Ayalon Canada Park

Israel und die Golan-Drusen: 50 Jahre Provisorium

1967 – Als der Zionismus in die eigene Falle ging

Folgen von 1967 in Jordanien: Eine palästinensische Identität entsteht 

Artikel von Jakub Záhora
Übersetzt von Vanessa Guinan-Bank