11.12.2019
Zwei Monate Proteste – Ein Überblick
Protestierende vor der Mohammad Al-Amine Moschee im Herzen von Beirut. Foto: Ginan Osman
Protestierende vor der Mohammad Al-Amine Moschee im Herzen von Beirut. Foto: Ginan Osman

Seit dem 17. Oktober 2019 erlebt der Libanon eine landesweite Protestwelle, die bereits nach kurzer Zeit Erfolge erzielte und weiterhin andauert. Ginan Osman studiert vor Ort und berichtet von den bisherigen Ereignissen und ihren Eindrücken.

Ich stehe vor dem „Egg“, einem großen, eiförmigen, nie fertiggestellten Kino in brutalistischem Stil in Beiruts Downtown und beobachte Personen, die auf dem Dach des Gebäudes die Aussicht über die Stadt genießen. Hinter mir ruft eine Frau in ihr Megaphon: „Bildung, Freiheit, soziale Gerechtigkeit!“ Eine Gruppe junger Protestierender wiederholt ihre Parole. Der Bau des „Egg“, gedacht als stylishes, prestigeträchtiges Kino- und Bürogebäude, begann in den 1960er Jahren, einer Zeit in der die Innenstadt von Beirut noch als pulsierendes Herzstück der Stadt florierte. Doch der Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 1975 unterbrach die Bauarbeiten.

Heute ist das Gebäude deshalb statt eines coolen Retrokinos eine verlassene, kriegsgezeichnete Ruine, dessen Fassade unzählige Einschusslöcher zieren. Doch mit Beginn der Protestwelle, die Hunderttausende landesweit auf die Straßen brachte, wurde auch das „Egg“ eingenommen. Bunte Graffitis mit revolutionären Parolen übertünchen nun das triste Grau der Ruine. Zuvor war es durch meterhohe Metallwände abgeriegelt und jahrelang vor der Öffentlichkeit verschlossen geblieben.

 Ginan Osman

Als ich am dritten Tag nach Beginn der Proteste zum ersten Mal das „Egg“ betrat, begann für mich offiziell die Revolution. Die Einnahme und Öffnung des Gebäudes stehen symbolisch für den ersten Erfolg der Protestierenden, die von der Politik errichteten Barrieren einzureißen. Denn im stark zugebauten und privatisierten Beirut, genau wie in den restlichen Städten des Landes, sind öffentliche Räume, Parks oder Grünflächen Mangelware. Mit der Protestbewegung begann ein Prozess der Wiederaneignung öffentlicher Räume. Diese Entwicklung ist dynamisch und verändert sich kontinuierlich.

Am Anfang war die WhatsApp-Steuer

Primärer Auslöser der Proteste war der Vorschlag der Regierung, eine Steuer auf die Nutzung des Nachrichtendienstes WhatsApp einzuführen. Doch sind die tatsächlichen Gründe der Aufstände komplexer: Seit Jahren befindet sich der Libanon in einer verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise, die sich in den letzten Monaten nochmal spürbar verschärfte. Dazu kam eine Welle desaströser Waldbrände kurz vor Beginn der Proteste, die aufgrund von Korruption nicht schnell genug unter Kontrolle gebracht werden konnten.

Der Vorschlag der Einführung einer WhatsApp-Steuer wurde daher als absurd und provokativ wahrgenommen. Viele Libanes*innen sahen die angekündigte Maßnahme als sinnbildlich für die chronische Unfähigkeit der etablierten Partien, das Land (ernsthaft) zu regieren und vor allem die Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Die kollektive Wut und Trauer über die verlorene Natur und die Missstände im Land verlagerten dann das Feuer von den Wäldern auf die Straßen: die Revolution begann. Unter der Parole „Kellon ya’ne kellon“, zu deutsch „Alle bedeutet alle“ richteten sich die Proteste hierbei vor allem gegen die alteingesessene politische Führung des Landes, das konfessionelle politische System, Korruption und die Wirtschaftskrise.

Phase 1: Raus zur Straßenblockade!

Die ersten Tage können als klassische Revolte betrachtet werden: Landesweit, kollektiv, führungslos und vor allem wütend strömten überall im Land riesige Menschenmassen auf die Straße, forderten den „Sturz des Regimes“ und riefen „Revolution!“ In Beirut wurden so die zahlreichen Parkplätze in der Stadtmitte zur Hauptbühne des Protests – mit der klaren Botschaft: Wir nehmen uns, was uns gehört!

Mit der Revolte kamen Straßenblockaden und brennende Barrikaden sowie der landesweite Aufruf zum Generalstreik. Für etwa zwei Wochen lag das Land praktisch still, die permanenten Straßenblockaden hatten den Streik effektiv befeuert, führten zum Rücktritt des Ministerpräsidenten Saad al-Hariri am 29. Oktober und damit auch zum Ende seiner Regierung. Das erste Ziel der Protestierenden war erreicht.

Phase 2: Das Protestcamp, unser neuer Hörsaal

In dieser Zeit begannen viele Gruppen und Organisationen Zelte aufzuschlagen, in denen sich getroffen, informiert und diskutiert wurde. Öffentliche Vorlesungen und Vorträge zu Themen wie dem Aufbau des politischen Systems, Revolutionstheorien, dem Wirtschafts- und Bankensystem, oder der Rolle des öffentlichen Raumes wurden organisiert. Die Wiederaneignung des öffentlichen Raumes hat so zu einem beispiellosen Zusammentreffen und Austausch verschiedener Menschen der unterschiedlichsten Hintergründe geführt, der vorher in der tief gespalteten libanesischen Gesellschaft unvorstellbar gewesen war. Die Vorlesungen, der Austausch genauso wie das große öffentliche Interesse an den Geschehnissen führten zu einem immens gestiegenen politischen Bewusstsein.

Protestierende auf und im besetzten „Grand Théâtre“ in Beirut. Foto Ginan Osman

Phase 3: Erster Erfolg, die Regierung ist weg!

Dieses gestiegene Bewusstsein leitete die nächste Phase des Protests ein. Nach dem Rücktritt der Regierung wurden die Proteste genauso wie die Forderungen konkreter und der Generalstreik zunächst ausgesetzt. Nun richteten sich die Aufstände gezielt gegen die Politik bestimmter Institutionen. So fanden beispielsweise in Beirut Protestmärsche gegen die Zentralbank und das staatliche Missmanagement der Finanzkrise statt. Das Parlament wurde blockiert, um die Verabschiedung eines Amnestiegesetzes zu verhindern. Auch gab es Demonstrationen entlang der illegal bebauten Küste, um ein Zeichen gegen die wachsende Privatisierung des öffentlichen Raumes zu setzen.

Zusätzlich bekam die Bewegung mit einer stärkeren Präsenz von Schüler*innen und Student*innen im ganzen Land einen neuen Antrieb. Die „Studierenden des 17. Oktober“ führten die Revolution nun mit großen Unistreiks und Sit-ins an. Ihre Hauptparole ist: „Wenn sich nicht bald etwas ändert, müssen wir gehen“, in Anspielung auf die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit und die starke Abwanderung junger, gut ausgebildeter Libanes*innen ins Ausland.

Zwei Monate Protest: Zunehmende wirtschaftliche Krise und politische Spannungen

Die großen und kleinen Erfolge, die enormen Zahlen engagierter Menschen im ganzen Land und der persönliche Austausch auf der Straße führten zu einer kollektiven Euphorie und dem Gefühl, dass Veränderung wirklich möglich sein könnte. Doch diese Euphorie wurde besonders in den vergangenen zwei Wochen des Öfteren getrübt. Immer wieder gab es gewalttätige Angriffe auf die Protestierenden durch Anhänger der etablierten Parteien, die so versuchen, die Proteste zu konfessionalisieren. Diese Auseinandersetzungen häufen sich und werden von Mal zu Mal gewalttätiger. Dazu erfolgen immer wieder und häufig als ungerechtfertigt wahrgenommene Festnahmen Protestierender.

Auch die andauernde Wirtschaftskrise hält das Land in Atem. Die libanesische Lira verliert gegenüber dem Dollar immer mehr an Wert, worunter die stark dollarisierte Wirtschaft massiv leidet, was wiederum zu deutlich spürbaren Preissteigerungen führt. Dies äußerte sich zuletzt auch mit einem erneuten Streik der Tankstellenbetreiber, die seit Beginn der Krise mit dem in Dollar importierten und in Lira verkauften Benzin schwere Verluste verbuchen.

 Hunger oder die Konfession?“ Foto: Ginan Osman

Politisch scheint weiterhin keine Lösung in Sicht. Auch über einen Monat nach dem Rücktritt des Premierministers konnten sich die etablierten Parteien noch immer nicht auf eine neue Regierung einigen und die bislang präsentierten Vorschläge berücksichtigen die Forderungen der Protestierenden nicht. Eine Situation, welche die instabile und von Unsicherheit geprägte Lage des Landes noch weiter verschärft.

Vergangene Woche haben sich zwei Familienväter aus Verzweiflung das Leben genommen. Sie waren nicht mehr imstande, ihre Familien zu versorgen. Die bereits vor Beginn der Proteste hohe Armutsrate von 30 Prozent erlebt aktuell einen neuen Höhepunkt und zeigt einmal mehr, dass die Krise die Ärmsten am stärksten trifft.

Ginan Osman studiert derzeit Middle Eastern Studies (M.A.) an der American University in Beirut, wo sie sich vertieft mit Politik und Wirtschaft des Landes auseinandersetzt. Zuvor studierte sie Politik des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und Rabat und arbeitete in der deutschen Landes- und Bundespolitik.
Redigiert von Johanna Luther, Maximilian Ellebrecht