10.03.2022
Zu Tisch, bitte!
Das Soufra Team, Besucherinnen aus der Siedlung und Mitarbeiterinnen von Cuisinie sans frontières.  Bild:  Cuisine sans frontières 2021
Das Soufra Team, Besucherinnen aus der Siedlung und Mitarbeiterinnen von Cuisinie sans frontières. Bild: Cuisine sans frontières 2021

Südlich von Beirut liegt das palästinensische Geflüchteten-Camp Burj al-Barajneh. Platz, privat wie gesellschaftlich, ist dort vor allem für Frauen knapp. Ein Portrait der Initiative Soufra, die das ändern will.

Wer mit Mariam Shaar durch Burj al-Barajneh geht, muss etwas Zeit einplanen. Alle paar Meter ruft ihr jemand zu, hält an, um kurz mit ihr zu sprechen. Burj al-Barajneh liegt südlich von Beirut und ist eines von zwölf UNRWA-Camps für Palästinenser:innen, die im Zuge der Etablierung des Staates Israel 1948 vertrieben wurden. Mariam Shaar ist in dem über die Jahrzehnte zur Siedlung gewordenen Camp aufgewachsen, lebt und arbeitet dort. Sie ist die Mitinitiatorin und Hauptverantwortliche des Catering-Unternehmens Soufra (arab. für gedeckter Tisch), das von Frauen aus Burj al-Barajneh betrieben wird. Die Bewohnerinnen kochen Gerichte aus der palästinensischen, syrischen und libanesischen Küche, das sie anschließend an verschiedenen Standorten im Libanon verkaufen.

Initiiert hat das Projekt mit Hilfe von Souk el Tayeb und Cuisine sans Frontières die Women’s Program Association (WPA), eine der ältesten lokalen NGOs. Sie sind seit 1953 in den UNRWA-Camps im Libanon tätig und haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Frauen in diesen Siedlungen zu stärken: durch unterschiedliche Trainings, Mikrokredite und seit 2014 durch Soufra. Köchinnen, Lieferantinnen, eine Administratorin, eine Küchenchefin und eine Putzkraft – Soufra begann mit 10 Frauen, mittlerweile arbeiten 40 Mitarbeiterinnen am gemeinsamen Ziel: Ihren Arbeitsplatz zu erhalten, der ihnen einen Freiraum und finanzielle Unabhängigkeit bietet.

Beengte Verhältnisse

1949 als provisorisches Geflüchteten Camp errichtet, hat sich Burj al-Barajneh über die Jahrzehnte ohne formelle Planung zu einer Siedlung entwickelt: Aus Zelten wurden Lehmhäuser mit Zinkdächern und schließlich folgten rund 1.000 Betongebäude ohne architektonisches Fundament, aber mit immer neuen Geschossen. In die Breite wachsen kann die Siedlung nicht, deshalb wird im Durchschnitt alle fünf Jahre aufgestockt. Je höher die Häuser in den Himmel wachsen, desto größer auch das Risiko, dass die Gebäude bei einem Erdbeben oder durch den Zahn der Zeit irgendwann in sich zusammenstürzen.

Alle palästinensischen Siedlungen sind von der libanesischen Regierung als „temporär“ registriert und wurden dementsprechend nie nachhaltig mit Infrastruktur ausgestattet: Die willkürliche, gedrängte Bauweise und die begrenzte Fläche haben das Camp sehr dicht werden lassen. Die Straßen von Burj al-Barajneh sind eng und dunkel, gesäumt von frei hängenden Stromkabeln. Abwasser- und Elektrizitäts-Infrastruktur sind unzureichend. Statistisch gesehen teilen sich im Durchschnitt drei und mehr Menschen ein Zimmer, öffentliche Grünflächen gibt es nicht.

Der „temporäre“ Status führt jedoch auch dazu, dass die Strom- und Wasserkosten in den Gebieten steuerfrei sind. Diese Steuerfreiheit machte die palästinensischen Siedlungen in den vergangenen Jahren für weitere Geflüchtete, darunter zahlreiche Syrer:innen, attraktiv. Die Raumkapazitäten sind deshalb heute strapazierter denn je – in Burj al-Barajneh hat sich die Anzahl der Bewohner:innen beinahe verdoppelt. Schätzungen gehen von aktuell rund 31.000 Bewohner:innen aus, andere Quellen berichten von rund 50.000.

Raus aus der Isolation

Die Idee des Catering-Unternehmens von und für Frauen aus Burj al-Barajneh entstand 2012 aufgrund einer Studie der WPA und UNRWA. Diese untersuchte die Bedürfnisse von Frauen in den palästinensischen Siedlungen im Libanon und zeigte auf, dass es an Bildungschancen und Arbeitsmöglichkeiten mangelt.

Die meisten Bewohnerinnen sind finanziell von ihren Ehemännern abhängig und an ein Leben in den eigenen vier Wänden gebunden. Gleichzeitig ist die Akzeptanz von Frauen, die außerhalb des Privaten arbeiten, nach wie vor gering. Insbesondere verwitwete und geschiedene Frauen, oder diejenigen mit Ehemännern ohne Einkommen sind erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt und können ihre Familien und sich selbst oft nicht finanzieren. Die soziale Isolation und Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern wird durch die räumlichen und infrastrukturellen Verhältnisse in den palästinensischen Siedlungen verstärkt. Außerhalb des privaten Wohnraumes gibt es wenige Möglichkeiten, sich zu treffen.

Eine Straße in Burj al-Barajneh. Bild von Flavia Müller 2018.

Hinzu kommt, dass Palästinenser:innen im Libanon nicht die gleichen Rechte genießen wie libanesische Staatsbürger:innen: Trotz ihrer mittlerweile jahrzehntelangen Existenz im Libanon sind sie staatenlos, haben kein Wahlrecht und die Ausführung zahlreicher Berufe und Tätigkeiten außerhalb der Camps wird ihnen bis heute untersagt.

Selbst ist die Frau

Im Austausch mit den Bewohnerinnen von Burj al-Barajneh wurde Mariam Shaar klar: Die meisten haben zwar noch nie außerhalb der eigenen vier Wände gearbeitet, sind aber Expertinnen im Zubereiten von palästinensischen Gerichten.

Diese Erkenntnis legte den Grundstein für Soufra: Ein Catering-Unternehmen, das Frauen in besonders schwierigen Situationen als Köchinnen anstellt und ihnen damit eine finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht. In der Vorbereitung erhielten die Frauen Trainings in Gastronomie und der ansprechenden Vermarktung von Essen, unter anderem von Partner:organisationen wie Souk el Tayeb und Cuisine sans Frontières.

Mariam Shaar selbst hat für Soufra das Autofahren gelernt. Die von den Köchinnen aus Burj al-Barajneh zubereiteten Gerichte fährt sie mit einem Lieferwagen aus und beliefert private Feste, Organisationen und Märkte wie den Souk el Tayeb. Die Tatsache, dass sie und ihr Team sich mit einem Lieferwagen außerhalb des palästinensischen Camps bewegen, ist ein Meilenstein. Dennoch muss das Team beim Verlassen des Camps jedes Mal die Erlaubnis der libanesischen Behörden einholen.

Unabhängigkeit: finanziell, sozial und ökologisch

Von ihrem Erfolg beflügelt, erweiterte sich Soufra 2018 durch einen Dachgarten. Dort baut das Team selbst ökologisch Gemüse an und produziert seinen eigenen Kompost. Bei der Konzepterstellung und dem Bau des Dachgartens hat sich Soufra mit Ziad Abi Chaker zusammengetan, einem der führenden libanesischen Entwickler im Bereich Recycling und nachhaltiges Abfallmanagement. Er installierte für das Projekt sogenannte Eco-Planters, die aus recyceltem Plastik bestehen. Durch deren vertikale Installation braucht der Gemüseanbau nur minimal Platz und erbringt trotzdem genügend Ertrag, perfekt für das palästinensische Urban Gardening. Die Frauen ziehen auf dem Dach Kräuter und rund 15 verschiedene Gemüsesorten, darunter Kohl, Spinat, Mangold und Zucchini.

2021 öffnete das neuste Projekt des Teams seine Türen: die Cafeteria. Das Empowerment durch einen geschützten Raum außerhalb der eigenen vier Wände sollte nicht nur den Mitarbeiterinnen zugutekommen, sondern allen Frauen von Burj al-Barajneh. Cuisine sans Frontières half dabei, diesen ersten female-only Treffpunkt aufzubauen. Zum Angebot gehören Tanzklassen, Filmnachmittage – mit starken Frauen in der Hauptrolle – oder kleine Wettbewerbe. Das neue Gebäude mit Cafeteria und erweiterter Küche ist täglich geöffnet und ermöglicht den persönlichen Austausch zwischen den Frauen, darunter palästinensische, syrische, irakische Geflüchtete sowie Libanesinnen. Während die dichten Wohnverhältnisse schnell für Konflikte sorgen können, sind die verschiedenen Herkünfte in der Küche Ausgangspunkt für neue Kochkreationen.

Den Widrigkeiten zum Trotz

Neben der Erfolgsstory des Projekts, die dem großen Einsatz der WPA und dem Team um Soufra zu verdanken sind, haben die Corona-Pandemie, die Explosion im Hafen von Beirut 2020 und die verheerende Wirtschaftskrise im Libanon deutliche Spuren hinterlassen. Die Situation für Geflüchtete im Libanon ist allgemein schwerer geworden – die Inflationsrate lag Ende Januar 2022 bei 240%. Die Mittel für die Küche und Cafeteria von Soufra sind sehr begrenzt, die Arbeitsaufträge sind zurückgegangen und es können weniger Frauen als geplant fest angestellt werden. Stattdessen fokussiert sich Mariam als Gründerin und Hauptverantwortliche darauf möglichst viele – dafür kürzere – Schichten zu gewährleisten.

In dieser Zeit steht die Cafeteria für die Frauen aus Burj al-Barajneh auch offen, wenn sie dort nichts essen oder trinken. Sie wird zudem immer wieder an NGOs vermietet und das Catering beliefert weiterhin Organisationen und Botschaften, um wieder etwas Geld einzunehmen. „Die Energie und der Wille von Mariam und ihrem Team trotz der schwierigen Situation sind beeindruckend”, meint Phyllis Bussinger von der Partnerorganisation Cuisine sans Frontières. Dennoch bleibt der Betrieb nicht selbsttragend und ist auf Gelder von außen angewiesen.

Ihr Ziel erreichen die Gründerinnen von Soufra mit dem Projekt dennoch: Die Küche, die Dachterrasse, die Cafeteria, das Catering sowie der Verkauf der Produkte außerhalb von Burj al-Barajneh haben einen halböffentlichen Raum für die Frauen geschaffen, der ansonsten fehlt. Die Mitarbeiterinnen sind durch die Anstellung finanziell unabhängiger geworden und das Essen bringt auch Traditionen und Lebensrealität der Palästinenser:innen im Libanon – wortwörtlich – wieder auf den Tisch.

 

 

Bruna Rohling hat Stadtplanung in Berlin, Trondheim und Beirut studiert. Bei dis:orient liegt ihr Fokus auf Stadtentwicklung, Migration und Umweltgerechtigkeit in WANA. Bruna ist Doktorandin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich im Bereich Stadtentwicklung und -politik.
Redigiert von Rebecca Spittel, Clara Taxis