04.08.2021
Von gepackten und unpackbaren Koffern: Leben in Krisenzeiten
Blick über Beirut: im Hintergrund das schwer beschädigte Hafengelände mit dem zerstörten Getreidespeicher in der Mitte. Foto: Ginan Osman
Blick über Beirut: im Hintergrund das schwer beschädigte Hafengelände mit dem zerstörten Getreidespeicher in der Mitte. Foto: Ginan Osman

Die verheerende Explosion im Hafen Beiruts jährt sich am 4. August erstmals. Ginan Osman erinnert sich an diese Tage und Monate des vergangenen Jahres im Libanon, aber auch an ihren Umgang mit den Ereignissen und ihren Erfahrungen in der Diaspora.

Schon früh in meinem Leben wurde ich mit dem Gefühl der Ohnmacht vertraut. Als Tochter libanesischer und syrischer Migrant:innen bin ich zwar in Deutschland aufgewachsen, die Konflikte in der fernen Heimatregion meiner Eltern waren bei uns jedoch stets präsent. So war es der Beginn der Revolutionen in WANA 2011, des sogenannten „Arabischen Frühlings“, der mich stark politisierte und später vor allem der andauernde Krieg in Syrien, der mich von Wut über Entsetzen, Trauer und Hoffnungslosigkeit alles hat spüren lassen. Wie früher die Aufmerksamkeit meines Vaters stets den TV-Nachrichtensendern mit den neuesten Nachrichten aus WANA galt, war später ich es, die bei den großen politischen Ereignissen tagelang am Twitterfeed hing. Die Ohnmacht wurde dabei über Jahre meine ständige Begleiterin.

Der Drang, mehr zu verstehen über die Ungerechtigkeit und die politischen Dynamiken, die diese Region prägen und vielleicht auch um meinen Platz zu finden zwischen dem Hier und Dort, haben mich zu meinem Masterstudium der Nahostwissenschaften nach Beirut geführt. So packte ich Anfang 2019 kurzerhand meine Koffer und zog in den Libanon.

Doch gibt es einen großen Unterschied, die Nachrichten aus dem Wohnzimmer in Deutschland zu verfolgen oder tatsächlich dort zu sein, wo die Eilmeldungen herkommen. Vor Ort, wo Ablenkung kaum möglich ist, ist die Wahrnehmung der Ereignisse deutlich intensiver. Plötzlich sah ich mich direkt mit den Konsequenzen der Nachrichten konfrontiert, die ich vorher aus dem Ausland viel weniger wahrgenommen hatte. Sie trafen mich genauso wie das Schuldgefühl, das Privileg zu haben, diesen Ort der Unsicherheit, der Prekarität und Gewalt auch wieder verlassen zu können.

Ein erster Vorgeschmack

Im Jahr 2020 war das Gefühl der Ohnmacht allgegenwärtig. Zum Beispiel zu Beginn des Jahres, als die Polizei mit brutaler Gewalt gegen Aktivist:innen der Protestwelle des 17. Oktober vorging und die Protestierenden mehr Tränengas einatmeten als saubere Luft (wobei letzteres in Beirut ohnehin Mangelware ist). Oder als Premier Hassan Diab im März offiziell den Staatsbankrott verkündete und das Land zeitgleich wegen der globalen Pandemie in einen strikten Lockdown versetzt wurde.

Die Zeit zwischen März und August 2020 war schwer und schmerzerfüllt und bot einen Vorgeschmack auf das, was uns später erwarten würde. Mit jedem Tag verschlechterte sich die Lage. Der Wert der lokalen Währung, der Lira, befand sich im freien Fall, parallel dazu schossen die Preise für Lebensmittel, Dienstleistungen und Mieten drastisch in die Höhe. Die ohnehin hohe Arbeitslosenrate nahm dramatisch zu, über die Hälfte der Bevölkerung rutschte über die Monate unter die Armutsgrenze.

Für die Menschen brachte die Krise deshalb nicht nur wirtschaftliche, sondern auch tiefgreifende persönliche Einschnitte mit sich, die sich im Alltag zunehmend bemerkbar machten. Regelmäßig traf ich auf weinende Menschen im Supermarkt, die sich die Milch für ihre Kinder nicht mehr leisten konnten. Auf der Straße beobachtete ich oft lautstarke Auseinandersetzungen, Freund:innen zerstritten sich, Beziehungen gingen zu Bruch. Es gab anscheinend kein Entkommen vor der permanenten Anspannung und dem Stress, dem wir kollektiv ausgesetzt waren. Zusätzlich gab es in meinem Freund:innenkreis kaum ein anderes Thema als die Emigration, um der immer aussichtsloseren Situation zu entkommen. Die Ausreise war inzwischen nur noch eine Frage der Zeit und hing allein vom positiven Visumsantrag ab.

Die Geschwindigkeit, mit der sich die Situation zuspitzte, war für kaum jemanden greifbar. Vor wenigen Monaten noch, während der Protestwelle des 17. Oktober, hatten wir gemeinsam landesweit gegen das konfessionelle Staatssystem, die alteingesessene politische Führung und Korruption demonstriert. Hier kamen alle politischen und wirtschaftlichen Probleme, die jahrelang aufgestaut worden waren, zum Ausdruck und wurden öffentlich auf der Straße angeprangert. Aufgrund der breiten Unterstützung in der Bevölkerung war dies ein Moment, in dem das Unmögliche plötzlich möglich erschien: eine alternative Realität, eine Änderung des politischen und wirtschaftlichen Systems und eine umfassende Gesetzesreform. Der kurz darauf folgende Lockdown und die Krise, die von da an unser Leben zeichneten, verwandelten die damalige Hoffnung und Aufbruchstimmung schnell in schiere Angst vor dem, was uns noch erwartete.

Keine Auszeit von der Krise

Persönlich habe ich während dieser Zeit weiter studiert, gelesen, geschrieben und so versucht, die Entwicklungen um mich herum zu begreifen und einzuordnen. Immer wieder schossen mir dabei die gleichen Fragen durch den Kopf: Was bedeutet es in Krisenzeiten zu denken, zu schreiben, zu analysieren? Und vor allem: Welche Verantwortung trage ich? Nach Monaten, die sich in dieser Spirale endlos anfühlten, wurde die Situation für mich kaum noch erträglich.

Am 30. Juli 2020 wachte ich dann mit zugeschnürter Brust auf. Am selben Tag traf ich zwei Freundinnen, die dasselbe empfanden. Wir witzelten darüber, dass es wohl kaum noch schlimmer werden könnte und doch hatte ich das drängende Gefühl, Beirut sofort zu verlassen. Noch in derselben Nacht reiste ich für ein paar Tage zu meiner Familie nach Deutschland, um eine Auszeit von der Krise zu nehmen. In Frankfurt angekommen fühlte ich mich wie in einer Parallelwelt. Während im Libanon die Apokalypse herrschte, war zu Hause alles wie immer. Das Leben ging wie gewohnt weiter, die S-Bahn fuhr, die Geschäfte waren geöffnet, nichts hatte sich verändert außer den Masken, die nun die Gesichter der Menschen verhüllten. Für einen kurzen Moment fühlte ich Erleichterung, als wäre ich aus einem schlimmen Alptraum erwacht.

Dann kam der 4. August.

Ich war gerade in einem Einkaufszentrum für ein paar letzte Besorgungen vor meiner bevorstehenden Rückreise nach Beirut. Aufgrund der Krise sind importierte Waren, wie Kosmetikartikel oder Kleidung, im Libanon praktisch unbezahlbar geworden, also nutzte ich die Gelegenheit, um für mich und meine Freund:innen einzukaufen. Um 17:09 Uhr erhielt ich eine Sprachnachricht von einer Freundin aus Beirut. Laute Hintergrundgeräusche, ich hörte Sirenen. Mit zitternder Stimme schrie sie in das Mikrofon ihres Telefons: „Wir werden angegriffen. Ich bin verletzt, aber mir geht‘s gut. Ich suche nach Unterschlupf. Bleib in Deutschland. Komm nicht zurück. Bleib in Sicherheit. Ich liebe dich.“ Ich verstand nichts und gab mechanisch das Wort „Beirut“ bei Google ein. Sofort erschien die gigantische rosafarbene Rauchwolke auf meinem Bildschirm und ich brach zusammen.

Da war sie wieder: die Ohnmacht.

Die nächsten Stunden verbrachte ich wieder im elterlichen Wohnzimmer, wo ich, wie früher zwischen Fernseher und Twitterfeed, versuchte, zu verstehen. Statt Antworten bekam ich immer wieder die gigantische rosafarbene Rauchwolke und minütlich steigende Opferzahlen. Gleichzeitig versuchte ich verzweifelt, all meine Freund:innen und Familienmitglieder zu erreichen. Ich wünsche niemandem die schrecklichen Minuten und Stunden durchleben zu müssen, die ich an diesem Tag durchlebte, bis ich glücklicherweise von allen positive Nachrichten bekam. Zwar waren fast alle zumindest leicht verletzt, aber sie hatten Glück und haben die Katastrophe überlebt. Und trotz der grauenhaften Stunden bin ich bis heute berührt von der Welle an Anrufen und Nachrichten, die mich erreichten, von Freund:innen, Bekannten und Unbekannten, die sich in diesen Stunden nach meinem Wohlbefinden erkundigten.

Heute wissen wir, die Explosion vom 4. August 2020 war die wohl größte nicht-nukleare Explosion in der Geschichte. Rund 220 Menschen haben ihr Leben verloren und 7.000 wurden verletzt, rund 300.000 wurden auf einen Schlag wohnungslos. Wie immer traf die Katastrophe marginalisierte Gruppen am schwersten. Vor allem die Arbeiter:innenviertel im Osten Beiruts wurden schwer beschädigt. Unter den Toten waren auch mindestens 43 syrische und palästinensische Geflüchtete sowie migrantische Gastarbeiter:innen. Mindestens 13 Tote und vier Vermisste zählte die Nichtregierungsorganisation Anti Racism Movement: aus Pakistan, den Philippinen, Bangladesch, Indien und Kenia. Aber die Zahl der bei der Explosion getöteten Gastarbeiter:innen ist zweifellos viel höher, denn bis heute sind nicht alle Opfer identifiziert worden.

Nach der Katastrophe

Auch wenn niemand in meinem Familien- und Freund:innenkreis meine Entscheidung guthieß, kehrte ich ein paar Tage nach der Explosion nach Beirut zurück. Schon im Flugzeug über der Stadt sah ich den zerstörten Hafen. Erst nach und nach wurde mir das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Ich kehrte zurück in eine veränderte Stadt. Kaum eine Glasscheibe blieb unversehrt. Auch Monate später fand ich regelmäßig Glassplitter zwischen den Rillen meiner Schuhsohle. Schlimmer als das zerbrochene Glas war das Ausmaß der Verwüstung im östlichen Teil der Stadt. Meine alte Wohnung im Szeneviertel Mar Mikhael am Hafen war komplett zerstört, genauso wie die vielen Restaurants, Cafés, Bars, Galerien in der Gegend. Statt mit „Marhaba“ grüßten sich die Leute nun mit „Hamdella a’al salame“, was sich auf Deutsch mit „Gott sei Dank bist du in Sicherheit“ übersetzten lässt. Wochenlang gab es kein anderes Thema als die vielen unglaublichen Zufälle, denen die meisten ihr Leben zu verdanken haben.

Politisch hat sich seitdem nichts bewegt. Keine ernstzunehmenden Ermittlungen und Erkenntnisse zur Ursache der Explosion. Keine Verhaftungen der wichtigsten politischen Verantwortlichen. Keine Entschädigungen für die Betroffenen. Keine staatliche Unterstützung zur Überwindung der kollektiven Traumata. Stattdessen wurden die Angehörigen der Opfer von der Polizei mit Tränengas angegriffen und von den Straßen gedrängt, als sie für die politische Aufarbeitung der Explosion und Gerechtigkeit für die Verstorben demonstrierten. Der verantwortliche Richter, der die Ermittlungen zur Explosion leitete, wurde inzwischen abgesetzt – ob sein Nachfolger sich gegen die mächtige politische Klasse durchsetzen kann, ist bislang unklar. Aya Majzoub von Human Rights Watch fordert daher, wie die Betroffenen der Explosion, eine unabhängige internationale Aufklärung, frei von den Zwängen machtpolitischer Interessen libanesischer Politiker:innen.

Zugleich verstärkte sich die Abwärtsspirale im Land immer weiter. Die Inflation galoppierte ungebremst, die Preise stiegen noch immer und es war keine politische Lösung in Sicht. Die Situation hatte zunehmend auch Auswirkungen auf mich und nach langer Überlegung fasste ich Anfang 2021 schweren Herzens den Entschluss, den Libanon vorerst zu verlassen. Während so viele davon träumen, das Land verlassen zu können, konnte ich einfach meine Koffer packen und in mein altes Leben zurückkehren.

Vom ewigen Dazwischensein

Wenige Wochen nach meiner Abreise spitzte sich die Lage aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Krise und der politischen Blockade weiter zu. Inzwischen gibt es kaum noch Benzin im Land, der Strom kommt nur noch sporadisch. Die Lebensmittelpreise steigen weiter und die Medikamente werden knapp. Und wieder bin ich gezwungen, die Entwicklungen aus der Ferne zu beobachten. Etwas hat sich jedoch geändert. Denn mittlerweile habe ich gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen und kann den Teil der Nachrichten entschlüsseln, der zuvor für mich verschlüsselt blieb. Und doch macht es das nicht einfacher, die Lage zu ertragen.

Juli 2021, wenige Tage vor dem ersten Jahrestag der Explosion: Wieder erhalte ich eine Sprachnachricht von einer Freundin aus Beirut. Unter Tränen sagt sie: „Ich habe heute erfolglos an fünf verschiedenen Tankstellen versucht, mein Auto zu tanken. Bei der Fünften angekommen, hat mir jemand den Weg abgeschnitten. Nachdem ich ihn anhupte, kam er zu mir rüber und hat mich einfach geschlagen. Er hat mich einfach geschlagen! Einfach so! Das ist das Land in dem wir leben! Ich komme nicht an meine Medikamente. Ich kann einfach nicht mehr. Komm ja nicht auf die Idee, zurückzukommen. Ich weiß nicht mehr, wie ich weitermachen soll."

Für jede:n mit Familie oder Freund:innen im Libanon gehören Nachrichten wie diese mittlerweile fast zum Alltag. Und doch vergeht seit meiner Rückkehr kein Tag, an dem ich Beirut nicht schmerzlich vermisse. Ich traue mich kaum, diesen Gedanken auszusprechen, geschweige denn ihn aufzuschreiben. Er fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht all jener, die nicht einfach ihre Koffer packen und gehen können.

 

 

Ginan Osman studiert derzeit Middle Eastern Studies (M.A.) an der American University in Beirut, wo sie sich vertieft mit Politik und Wirtschaft des Landes auseinandersetzt. Zuvor studierte sie Politik des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und Rabat und arbeitete in der deutschen Landes- und Bundespolitik.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Johanna Luther, Bodo Weissenborn