27.03.2021
Sohn der Sonne
Der Olivenbaum als Symbol der Verwurzelung. Photo: pixabay
Der Olivenbaum als Symbol der Verwurzelung. Photo: pixabay

Wie verarbeitet ein Überlebender der Explosion im Hafen Beiruts am 4. August 2020 die Katastrophe? Ein Essay über Schmerz, Taubheit, Hoffnung und Inspiration.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch und Arabisch unter dem Titel „Son of the Sun" im Rahmen der Serie „Inner Migration" bei „Mashallah News" und wurde von dis:orient ins Deutsche übersetzt.

I.

Seit der Explosion in Beirut sind drei Wochen vergangen und ich finde immer noch keine Worte.

„Hast du Schmerzen?“ fragen mich die Leute. Ich frage mich, was sie meinen. Ich frage mich, was ich sagen soll.

Ich denke an die tiefe Wunde in meinem linken Fuß, meinen mit zwölf Stichen genähten Arm, die Verspannung in meinem unteren Rücken. Ich suche nach Worten, die beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn Glassplitter und giftige Nitrate in deinen Körper und deine Knochen eindringen. Ich denke an die versteckten Schmerzen in meinem Körper, die ich noch gar nicht lokalisieren konnte, es ist noch so früh und ich bin noch so taub. Ich denke an Beirut und was ihr angetan wurde. Ich denke an Traumata und was sie mit uns machen. Ich denke an die immer wiederkehrenden Alpträume. Ich denke an die vollkommen Fremden, die ich in der Arztpraxis oder auf dem Weg dorthin treffe und daran, was ich in ihren Augen sehe. Ich denke an Ungerechtigkeit. Ich denke an unsere Revolution. Ich denke an Enttäuschung. Ich denke auch an Schönheit; die Schönheit des Schmerzes und wie er manchmal das Beste in uns zum Vorschein bringt.

Ich denke an all das. Und dann suche ich nach Worten.

„Hast du Schmerzen?“

Ein „Nein“ fühlt sich unaufrichtig an. Aber ein „Ja“ öffnet eine Tür ins Unbekannte. Ein „Ja“ kann zu Orten führen, an die ich die Fragenden nicht unbedingt mitnehmen möchte. Also sage ich „manchmal“. Ich sage „ein wenig“. Ich spreche darüber, wie Schmerz kommt und geht. Ich spreche über Schmerztabletten. Ich spreche darüber, nicht viel fühlen zu können. Ich verwende dabei oft „aber“, meist um zu erklären, dass es besser wird oder dass es schlimmer hätte kommen können, damit die Unterhaltung unbeschwert bleibt und um mich überzeugend aus der Frage herauszureden.

„Hast du Schmerzen?“

Schließ deine Augen. Wie fühlst du dich? Was siehst du? Was würdest du sagen?

„Hast du Schmerzen?“

Ja, habe ich. Ja, danke. Ja, ich schätze deine Anteilnahme. Ja, tue ich wirklich.

Aber lass es uns für den Moment dabei belassen, denn ich habe noch immer keine Worte.

II.

Seit der Explosion in Beirut sind 46 Tage vergangen und ich verlasse die Arztpraxis ohne Gips. Es wird mich weitere 40 Tage kosten, die Krücken loszuwerden, aber heute ist das ein unwichtiges Detail. Heute ist meine Wunde endlich komplett verheilt, die Sonne scheint und ich fühle eine große Erleichterung.

In den darauf folgenden Tagen, in denen ich mich immer sicherer dabei fühle, das Haus zu verlassen und in die Welt zurückzukehren, wird mir langsam klar, dass meine Krücken vollkommen Fremden die Erlaubnis geben, mir eine weitere große Frage zu stellen.

„Schu sar ma’ak?“ fragen sie. Was ist passiert?

„El Infijar“, sage ich. Die Explosion.

„Ouf…“ sagen sie mit erstauntem Blick, der viele weitere Fragen unausgesprochen in der Luft schweben lässt. Die etwas Mutigeren lassen es sich natürlich nicht nehmen: „Bass, schu sar?“ Was genau ist passiert?

Also beginne ich, die Geschichte ein weiteres Mal zu erzählen. Es gibt verschiedene Versionen der Geschichte und die Wahl, welche ich erzähle, hängt größtenteils von der Ausrichtung der Planeten ab, im Himmel und in meinem Kopf. Die vollständige Version beginnt aber meist mit diesem Satz:

Ich bin allein zu Hause, stehe mitten im Wohnzimmer und scrolle auf meinem Smartphone herum. Ich warte auf einen Immobilienmakler, der um 18 Uhr mit einer Klientin für eine Besichtigung kommen will, da meine Wohnung zum Verkauf steht.

Es ist 18.07 Uhr und sie sind noch immer nicht da. Und dann, aus dem absoluten Nichts, kommt von irgendwo draußen ein sehr, sehr lautes Geräusch. Für einen gefühlten Bruchteil einer Sekunde breitet sich eine gespenstische Stille über der Stadt aus.

In diesem Bruchteil passiert all das fast gleichzeitig: Ich schaue aus dem Fenster und meine Gedanken sind auf einmal im Jahr 2005, als eine Serie von Autobomben Politiker:innen und Journalist:innen in der ganzen Stadt in den Tod riss, eine:n nach dem:r anderen, ein ganzes, unerbittliches Jahr. Ich denke an Samir Kassir. Ich denke an Gebran Tueini. Ich denke daran, wen es diesmal getroffen haben könnte.

Eine Welle der Traurigkeit erfasst mich und bevor sie abklingen kann – BOOM – die zweite Explosion geht hoch und macht ein sehr, sehr gewalttätiges Geräusch. Ich fühle, wie mich eine elektromagnetische Welle durchdringt. Ich sehe vor mir Glas zerbrechen. Ich höre Schreie unten auf der Straße. Und dann schaue ich auf den Boden und realisiere, dass in meinem linken Fuß ein Krater klafft und alles voller Blut ist. Mein Instinkt treibt mich an, sofort das Haus zu verlassen und zum nächsten Krankenhaus zu fahren. Ich mache mich auf den Weg: Ich greife nach einem Handtuch, wickle es um meine klaffende Wunde, ich greife nach meiner Brieftasche, den Schlüsseln, der Tür, und dann rufe ich den Aufzug und stelle fest, dass er nicht funktioniert.

Der Rest der Geschichte dreht sich darum, wie ich es ins Krankenhaus geschafft habe.

Ich erzähle, wie ich auf einem Bein fünf lange Treppenabschnitte herab stolperte, den rechten Arm am Geländer und den anderen fest um das Handtuch an meinem linken Fuß geklammert. Ich erzähle, wie ich begann, mein Sehvermögen und auch meine Stimme zu verlieren, gerade als ich das Erdgeschoss erreichte. Ich erzähle, wie ich für ein Wunder gebetet habe und tatsächlich einige geschahen:

Fatima, meine schwangere Nachbarin, die am Eingang des Gebäudes stand, mich als Erstes sah und deren Schreie bei meinem Anblick Leute auf der Straße auf mich aufmerksam machten; Abu Bilal, ihr Vater, der aus dem Nichts mit einem großen Stück weißem Stoff auftauchte; viele, viele Männer, die ich verschwommen aus den Augenwinkeln sah, wie sie von der Straße auf mich zueilten, mich trugen, hoch in der Luft, wo ich mich vollkommen schwerelos fühlte, und mich auf den Rücksitz eines winzigen roten Autos betteten; Ahmad, Fatimas Ehemann, der Besitzer des Autos, der den Motor anließ und uns zum Krankenhaus der Amerikanischen Universität Beirut fuhr, ein paar Minuten die Straße runter. Im Auto Fatima, die meinen Fuß hielt und den weißen Stoff auf die Wunde presste, während ihr Tränen über die Wangen liefen; Abu Bilal auf dem Beifahrersitz, alles und jeden verfluchend; Ahmad, der mit voller Geschwindigkeit über Glasscherben und dem Verkehr entgegengesetzt fuhr; und ich, der auf dem Rücken liegend das Entsetzen in ihre Gesichter geschrieben sah.

Dann erzähle ich von der Ankunft im Krankenhaus, wo die Türen aufflogen und überall Ärzte und Ärztinnen durch den Raum eilten. Ich erzähle, wie mir die blutige Kleidung vom Leib gerissen wurde, wie ich genäht und verbunden wurde, während Fatima bei mir blieb und um uns das Chaos regierte. Ich erzähle von viel später am Abend, als Ärzte und Ärztinnen entdeckten, dass mein Fuß immer noch blutete und wie ich schnell in den Operationssaal geschoben wurde, wo mich drei Ärzte und Ärztinnen gut 15 Minuten lang ohne jegliche Betäubung operierten. An diesem Punkte der Geschichte muss ich erklären, dass für Anästhesie keine Zeit war; es war nur Zeit dafür, Leben zu retten – meines und das der vielen anderen, die auf den Betten neben mir lagen.

Dann kommt der letzte Teil der Geschichte, in dem ich von meinen Highlights aus der Zeit im Krankenhaus erzähle und versuche zu erklären, wie ich eine Woche später das Krankenhaus verließ und mich dabei fühlte, als sei ich neu geboren.

In all den Versionen meiner Geschichte fällt es mir leichter, über die Fakten zu sprechen als über die Gefühle. Da ist auch die Frage, wie viel ich überhaupt erzählen sollte. Und dennoch bin ich davon überzeugt, dass die Geschichte erzählt werden muss. Weil in dieser Geschichte auch viele andere Geschichten sind. Weil Worte auch Waffen sind. Weil der Akt des Erzählens auch ein politischer Akt ist. Weil zwischen den Zeilen unserer Geschichte auch Heilung steckt.

III.

Die letzten drei Monate habe ich im Norden verbracht, fern von Beirut, um mich bei meiner Familie auszukurieren. In dieser Zeit sah ich von meinem Bett aus dem Fenster in den Garten und in die Weite, die sich hinter ihm erstreckt und wurde Tag für Tag Zeuge, wie sich die Jahreszeiten wandelten und die Natur sich veränderte.

Ich komme aus einer Gegend, in der Menschen Olivenbäume von ihren Vorfahren erben und wo das Leben sich darum dreht, dieses Erbe zu würdigen. Wir bestellen das Land, umsorgen die Bäume und warten jedes Jahr auf die Oliven. Die letzten sieben Jahre jedoch waren trocken. Die Blätter der Bäume wurden von einem Virus befallen, der sie noch unreif zu Boden fallen ließ. Und weil die Blätter den Früchten Schutz bieten, bedeutete der Virus im Grunde den Tod der Ernte. Manche sagen, der Staub der nahen Zementfabrik ist dafür verantwortlich, der sich auf die Blätter legt und sie am Atmen hindert. Doch diese Theorie blieb nicht ohne Anomalien. Dieses Jahr haben sich die Oliven behauptet und die Ernte war üppig.

Als die Helligkeit des Augusts weicher wurde und mit dem September in eine Leichtigkeit überging, lag eine gespannte Erwartung in der Luft. Dann kam der Oktober und mit ihm die ersten Schauer, auf die alle gewartet hatten. Regen soll die Ernte segnen und deshalb warten die Leute auf ihn, bevor sie damit beginnen die Oliven zu pflücken. Der erste Regen fiel an dem Tag, an dem ich meine Physiotherapie beendete und meine Krücken gegen einen hölzernen Stock tauschte, den mein Vater von seinem ältesten Cousin geerbt hatte. In den nächsten Tagen, in denen die Sonne schien, das Land trocknete und ich wieder an Boden gewann, begannen die Vorbereitungen für die Erntezeit. Auch ich war bereit für das Pflücken: Ich hatte meinen Stock und eine neu entdeckte Wertschätzung für dieses Erbe, das eines Tages an mich weitergegeben werden wird.

Ich finde es paradox, wie eine Explosion, die mir den Boden unter den Füßen wegriss, am Ende die Einsicht schenkte, wie sehr ich mit meinem Land verbunden bin. Und wenn mich die Leute fragen, ob ich gehen oder bleiben möchte, stehe ich vor dem nächsten Paradox. Ich habe es immer gehasst, wie binär diese Frage ist und wie selten sie, wenn überhaupt, Raum für einen Mittelweg lässt. Aber ich weiß nicht, ob ich bleiben oder gehen werde!

Was ich weiß, ist, dass ich in diesem Land verwurzelt und für immer mit der Geschichte seiner Vergangenheit verbunden bin. Die Reise, um wieder auf die Beine zu kommen, hat mich gelehrt, die Komplexität dieser Vergangenheit zu akzeptieren, ohne mich mit ihr zu belasten. Tatsächlich ist sie eine Bereicherung. Und ohne sie wäre meine eigene Geschichte unvollständig.

Heilen ist ein Prozess des Wieder-Ganz-Werdens. In diesem Prozess haben Worte eine transformative Kraft. Was ich denke und sage ist von Bedeutung. Wie ich meine Erfahrung des Schmerzes zum Ausdruck bringe, spielt in diesem Prozess eine Rolle. Schmerz kommt und geht, doch er hat immer etwas zu sagen. Ihn auszuhalten bedeutet zu lernen, ihm zuzuhören und dann zu antworten. Deshalb ist Heilen in vielerlei Hinsicht ein kreativer Prozess. Und wie alle Handlungen, die Neues erschaffen, ist es transformativ.

In den letzten drei Monaten habe ich oft an das gedacht, was mir eine Freundin einmal erzählte, nachdem sie sich eine Handgelenksverletzung zugezogen hatte. „Knochen sind eine Metapher für das Herz“ sagte sie; sie brechen auf, damit das Licht hindurchscheinen kann. Ja, Licht verändert und Photosynthese ist das beste Beispiel. Sicher, ich bin Opfer von unvorstellbarer Gewalt geworden. Aber meine Geschichte einzufordern, ohne mich in die Rolle des Opfers zu begeben, ist Teil des Prozesses. So bahnt sich das Licht langsam einen Weg. So wird aus einem Moment des Zusammenbrechens ein neuer Aufbruch.

Vielleicht ist es gar nicht so zufällig, dass die Bäume nach sieben Jahren wieder blühten. Ich war immer von den vielen Geheimnissen fasziniert, die in dieser ungeraden Zahl verborgen sind. Die sieben Farben des Regenbogens, sieben Wochentage, die sieben Chakren des menschlichen Körpers, sieben Noten in der Musik, sieben Weltwunder… In der arabischen Poesie schließt der siebte Vers ein Gedicht. Mit weniger als sieben ist es noch nicht am Ziel. Sieben aber bedeutet den Durchbruch.

In den letzten sieben Jahren habe ich immer bewundert, wie mein Vater nie die Hoffnung für sein Land aufgab. Er kam immer wieder zurück auf das Feld und versuchte es weiter. Denn tief in seinem Inneren glaubte er an die Wunder der Natur und daran, dass das Leben immer irgendwie zurückkommt. Weil wir, wie ein Gedicht, das sich im siebten Vers entfaltet, immer dort ankommen, wo wir sein müssen, ganz egal wie schrecklich und düster es auf dem Weg dahin wird. Denn in unserer Tiefe wohnt eine angeborene Anziehung hin zur Sonne.

 

 

Ibrahim Nehme ist ein Künstler und Speaker aus dem Libanon. Seine Arbeit verbindet Journalismus, Aktivismus und kreative Kunst und kann als eine Reihe von Versuchen verstanden werden, das kollektive Bewusstsein zu verändern. Er ist Mitgründer des Outpost Magazins.
Redigiert von Johanna Luther
Übersetzt von Clara Taxis