03.12.2020
Beirut nach der Stunde Null
Vier Monate nach der Explosion im Hafen von Beirut befindet sich die Stadt weiterhin im Schockzustand. Foto: Ginan Osman
Vier Monate nach der Explosion im Hafen von Beirut befindet sich die Stadt weiterhin im Schockzustand. Foto: Ginan Osman

Vier Monate ist es her, dass Beirut von einer der größten nichtnuklearen Explosionen der Geschichte erschüttert wurde. Wie halten die Stadt und ihre Bewohner*innen das aus? Ein Essay.

Schon vor Wochen wollte ich etwas über die Explosion vom 4. August und ihre Folgen schreiben. Doch jedes Mal bin ich gescheitert.

Wie sollte ich auch den Schmerz, die Frustration, Wut und Hoffnungslosigkeit beschreiben, die nicht nur ich, sondern das ganze Land seit Monaten kollektiv durchlebt? Wie kann ich die Auswirkungen einer Politik verdeutlichen, die von Fehlentscheidungen, Missmanagement, Nepotismus und Korruption geprägt ist und die konstant in jede Arterie des persönlichen Lebens eindringt? Und was soll ich schon über die Politiker*innen der herrschenden Elite schreiben, die uns von ihren Plakaten in den Straßen und Häuserwänden bis in unsere Träume verfolgen?

Auch vier Monate nach der Explosion finde ich keine Worte, die ausdrücken, wie es sich anfühlt, gewohnte Wege zu laufen, die mich eigentlich an fröhliche Momente erinnern. Heute sind meine Erinnerungen unkenntlich, verschwommen von all der Zerstörung, Dunkelheit, Trauer und dem Verlust.

Niemand weiß, mit dem überwältigenden Schmerz umzugehen. Die Konsequenzen sind verheerend. Der Ton ist rauer, der Frust ist zu groß. Alte und neue Freundschaften, Romanzen, Partnerschaften in meinem Umfeld sind in den letzten Wochen zuhauf zerbrochen.

Nicht ein*e Politiker*in wurde seit der Explosion zur Rechenschaft gezogen. Kein Hilfsprogramm wurde erlassen, kein Wort der Entschuldigung geäußert. Stattdessen befindet sich eine ganze Stadt seither im Schockzustand. Eine Stadt, die eine dramatische Bilanz ziehen musste: über 220 Menschen sind tot, etwa 7000 wurden verletzt und 300.000 verloren ihr Zuhause.

Nackter Überlebenskampf

Es ist nichts Neues, dass der Libanon seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise steckt, die sich in diesem Jahr mit der globalen Pandemie und der Finanzkrise zu einer Staatskrise entwickelt hat. Laut einer im Mai herausgegebenen Studie, lebt aktuell mehr als 55 Prozent der libanesischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Das sind etwa doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Dabei verdreifachte sich der Anteil der Menschen, die von weniger als zwei Dollar pro Tag – also in extremer Armut – leben, von acht auf 23 Prozent im gleichen Zeitraum. Parallel stiegen die Kosten für Lebensmittel um mehr als 300 Prozent.

Auf die Explosion folgte eine gewaltige Druckwelle, die weite Teile der Stadt verwüstete. Foto Ginan Osman

Was wir nun seit Monaten erleben, ist keine Krise mehr. Die beschriebenen Szenen sind Geschichten, die man sonst nur aus dem Krieg kennt. Doch haben wir es hier aktuell mit keiner bewaffneten kriegerischen Auseinandersetzung im klassischen Sinne zu tun. Stattdessen erleben wir jeden Tag aufs Neue den nackten Überlebenskampf.

Dabei war Beirut schon immer eine Stadt gezeichnet von Gewalt, die sich unterschiedlich äußert. Zum einen hat der neoliberale Wirtschaftskurs nach Ende des Bürgerkriegs mit seinen Privatisierungen und unverhältnismäßig hohen Lebenshaltungskosten eine harsche Aufspaltung der Gesellschaft in reich und arm gefördert. So bildeten sich eine sehr kleine Elite und eine relativ breite Mittelschicht, die lange über ihre Verhältnisse lebten. Gleichzeitig verarmte ein großer Teil der Gesellschaft stetig, aufgrund konstant steigender Lebenserhaltungskosten und zunehmender Arbeitslosigkeit.

Zum anderen ist das Erbe des nie wirklich aufgearbeiteten Bürgerkriegs (1975-1990) teilweise erdrückend allgegenwärtig – ob im konfessionalistischen politischen System oder im Alltag. So ist  etwa kurz nach Ende des Bürgerkriegs einer der berühmten Nachtclubs Beiruts, das B018, im östlichen Stadtteil Karantina errichtet worden. Karantina war Schauplatz eines der dunkelsten Kapitel des Kriegs und ist noch heute eines der ärmsten Stadtviertel. Der unterirdische Bau erinnert an einen Bunker und bricht damit bewusst mit der vorherrschenden geschichtsvergessenen Wiederaufbaupolitik des libanesischen Staates. Die Architektur spiegelt auch die entschiedene Mission des Clubs wider, mit Musik die Schrecklichkeiten des Kriegs kollektiv zu verarbeiten.

Im Jahr 2020 war es zunächst die globale Pandemie, die mit Lockdown, Ausgangssperre und Social Distancing dem B018 und anderen Clubs in der Gegend schwer zusetzen. Das gleiche Schicksal traf dabei tausende weitere Geschäfte, Bars, Restaurants und Cafés, die entweder herbe Verluste verzeichnen, oder gar schließen mussten. Die Explosion vom 4. August, die Karantina schwer traf und in weiten Teilen verwüstete, hat der Stadt nun den letzten Atem geraubt. Das B018, sowie viele andere Clubs in der Gegend, wurden dabei schwer beschädigt oder ganz zerstört.

Von Marginalisierten und Profiteur*innen

Doch was bedeutet diese Katastrophe für marginalisierte Gruppen? Menschen, wie Syrer*innen und Palästinenser*innen, queere Menschen oder Opfer des rassistischen und menschenverachtenden Kafala Systems, also Gastarbeiter*innen und  ausländische Hausangestellte, die in der libanesischen Gesellschaft als Menschen zweiter und dritter Klasse behandelt werden? All diese Menschen waren bereits zuvor gewalttätigen staatlichen und gesellschaftlichen Machtdynamiken ausgesetzt, die zum Ziel hatten, ihre Leben strukturell zu erschweren und zu gefährden.

Mit dem wirtschaftlichen und politischen Kollaps des Staates ist die ohnehin fragile Existenzgrundlage dieser Menschen nun entweder gefährdet oder ganz verschwunden. Weil die Explosion am Hafen von Beirut besonders die ärmeren Stadtviertel im Osten der Stadt am härtesten traf, hat sie großen Teilen genau dieser Gruppen nun zusätzlich noch das Dach über dem Kopf geraubt.

Weil die Explosion besonders die ärmeren Stadtviertel traf, stürzte die Zerstörung viele in existenzielle Notlagen. Foto Ginan Osman

Aus der Krise haben sich jedoch auch neue Machtstrukturen entwickelt: Während die Mittelschicht in wenigen Monaten aufgrund der Krise inklusive Massenarbeitslosigkeit und massiver Inflation schrittweise verarmt, hat sich eine neue, kleine Elite mit außerordentlicher Wirtschaftskraft entwickelt. Die Rede ist von Menschen, die trotz der Krise noch ihr Gehalt in Dollar ausgezahlt bekommen oder aus anderen Gründen Zugang zu ausländischer Währung, vor allem Dollar oder Euros, haben.

Dies betrifft einen kleinen Teil der Bevölkerung, sowie vor allem „Expats“, größtenteils weiße Europäer*innen und Amerikaner*innen, die für internationale NGOs, Firmen oder sonstige Institutionen arbeiten. Während also die Preise von Gütern und Dienstleistungen immer weiter steigen und die Währung mehr und mehr an Wert verliert, bleibt der Dollar vergleichsweise stabil, weswegen sich diese kleine Elite plötzlich im Vergleich zur verarmenden Bevölkerung viel leisten kann. Diese plötzlich starke Wirtschaftskraft kommt natürlich mit Macht, die die „Fresh Dollar“-Elite nun innehat. 

Auf Donner folgt Trauma

Die Ereignisse dieses Jahres kommen einem vor, wie ein niemals endender Albtraum, der wirklich an niemandem ohne Konsequenzen vorbeigegangen ist und doch verschiedene Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich trifft. Die meisten haben die Hoffnung längst aufgegeben.

Das Wetter im Libanon ist bekanntlich stets sonnig, doch auch hier markiert der Winter nun sein Revier. Als vor einigen Wochen der erste heftige Sturm der Saison durchs Land zog, wurde ganz Beirut nachts um halb drei plötzlich von lautem Donner geweckt - denn für die kollektiv traumatisierte Stadt erinnerte dieser stark an die Explosion vom 4. August. Die Narben dieses Jahres sitzen tief und Erholung ist soweit nicht in Sicht. 

 

 

Ginan Osman studiert derzeit Middle Eastern Studies (M.A.) an der American University in Beirut, wo sie sich vertieft mit Politik und Wirtschaft des Landes auseinandersetzt. Zuvor studierte sie Politik des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und Rabat und arbeitete in der deutschen Landes- und Bundespolitik.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Maximilian Ellebrecht