Tareq Baconi versucht in seinem Buch über die Entwicklung der „Bewegung des islamischen Widerstandes“, eine Geschichte der Hamas anhand ihrer eigenen Publikationen zu erzählen. Der Autor wird seinem Anspruch gerecht, mit allen Vor- und Nachteilen, die ein solcher Zugang mit sich bringt. Eine Rezension von Adrian Paukstat.
„The book will have fulfilled its purpose if it presents Hamas’s counternarrative on its own terms,“ so Tareq Baconi, Fellow des European Council on Foreign Relations und Analyst des Thinktanks „Al-Shabaka – Palestinian Policy Network“, in der Einleitung zu seinem Werk. Anhand ihrer zentralen Periodika sowie Interviews mit zahlreichen Mitgliedern der Organisation hat der Autor die Positionierungen der Hamas nachgezeichnet. Hierfür recherchierte er vor allem in Archiven in Beirut sowie in Gaza selbst. Baconis Arbeit ist somit die erste Monographie über die Hamas, welche in diesem Ausmaß Archivquellen verarbeitet.
Als analytischen Rahmen spannt Baconi die Hypothese, der israelische Staat habe gegenüber der Hamas eine Pazifizierungsstrategie verfolgt. Diese sei zwar letztlich gescheitert, habe aber nicht zuletzt zur ideologischen und politischen Spaltung der besetzten Palästinensergebiete geführt.
Aus Baconis minutiöser Rekonstruktion interner Debatten wird hierbei vor allem deutlich, inwiefern die Konkurrenz von Fatah und Hamas vor allem aufgrund der Intervention äußerer Akteure, primär der USA und Israel, die Form erbitterter Feindschaft und letztlich militärischer Gewalt annahm. Die sich widersprechenden Widerstandsparadigmen (Diplomatie oder bewaffneter Kampf) der beiden Organisationen wurden so zu Legitimationsideologien in einem Bruderkrieg.
Dementsprechend liegt auch das Hauptgewicht der Darstellung auf den Ereignissen ab Beginn der zweiten Intifada im Jahre 2000 bis heute. Die Geschichte der Entstehung der Hamas aus den Strukturen des palästinensischen Arms der Muslimbruderschaft und der Übergang zum bewaffneten Kampf ab den neunziger Jahren haben in diesem Kontext eher einführenden Charakter.
Der „Putsch“ 2007 und die Rolle der USA
Besonders erhellend ist Baconis Darstellung dort, wo sie zentrale Schlüsselstellen der Geschichte der Hamas anhand ihrer Publikationen minutiös rekonstruiert, sodass diese bisweilen in neuem Licht erscheinen.
Insbesondere betrifft dies die Ereignisse unmittelbar vor, nach und während der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas in Gaza im Sommer 2007. Überzeugend legt die Darstellung des Autors nahe, dass sich das Ereignis nur aus dem Zusammenspiel der Interessen aller beteiligten Akteure schlüssig erklären lässt. Die Diskussion darüber, ob nun die Hamas einen von langer Hand geplanten Putsch implementiert habe, oder aber dem von der Fatah geplanten Putsch nur zuvorgekommen sei, erweist sich im Lichte der Darstellung Baconis als unproduktiv.
Vielmehr entstand in Gaza ein politisches Klima, in dem es letztlich nur noch darum ging, wer den ersten Schuss abfeuert, um so (intendiert oder nicht) die politische Lawine loszutreten. Grund dafür war die gezielte, auch und vor allem militärische Parteinahme externer Akteure, vor allem der USA, zugunsten der Fatah und innerhalb dieser vor allem der Fraktion um Muhammed Dahlan. Letztlich hat in diesem Spiel die Hamas die Nerven verloren, mit bekanntem Ergebnis.
Deutlich wird in diesem Kontext auch, dass die Hamas wohl bis zuletzt hoffte, sich gütlich einigen zu können, da sie bis zuletzt nie die Fatah als Ganzes für die Eskalation verantwortlich machte, sondern stets auf den Einfluss der Dahlan-Fraktion verwies.
Das Paradigma vom „bewaffneten Kampf“ als zentraler Fehler
Auch an Kritik lässt es Baconi nicht mangeln und arbeitet hierbei überzeugend zwei zentrale Kardinalssünden der Hamas heraus: Sowohl auf normativer wie auch politisch-strategischer Ebene hält Baconi das sture Festhalten am Paradigma „Bewaffneter Kampf“ angesichts der militärischen Überlegenheit Israels und dem Willen, diese auch einzusetzen, als schweren Fehler.
Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf den widersprüchlichen Bezug der Hamas zum Oslo-System. Die Hamas, so Baconi, hätte sich politisch in den letztlich unauflösbaren Widerspruch verwickelt, an einer politischen Ordnung partizipieren zu wollen, die sie eigentlich abzuschaffen gedachte. Auf dieser Basis ließ sich jedoch weder mit der internationalen Gemeinschaft noch mit der Fatah, geschweige denn Israel, zu einem Konsens kommen. Schließlich verbanden alle anderen beteiligten Akteure die Partizipation am Oslo-System notwendigerweise mit dem Bekenntnis zu dessen Prinzipien, nämlich der Anerkennung Israels, dem Ende des bewaffneten Kampfes sowie der Anerkennung zuvor abgeschlossener Vereinbarungen.
Zwar argumentiert die Hamas-Propaganda in sich schlüssig, dass diese Bedingungen voraussetzen, dass Palästina ein staatlicher Souverän sei, was es eben nicht ist. Allerdings könnte die Hamas dann eben auch nicht an diesen Strukturen teilhaben. Die Hamas, wie es im Englischen so schön heißt „wanted to have the cake and also eat it“ und musste letztlich daran scheitern.
Die Hamas auf dem Weg zur Anerkennung Israels?
Das zweite Paradigma der Analyse des Autors ist hierbei die These, dass sich die Hamas graduell an die Parameter des internationalen Konsenses zur Zwei-Staaten Lösung angenähert habe, was dennoch stets im Widerspruch zur konsequenten Nicht-Anerkennung Israels und dem Bekenntnis zum bewaffneten Kampf verblieb.
Baconis Ausführungen legen hierbei eine relativ stringente Teleologie der politischen Ausrichtung der Hamas nahe. Diese, so scheint es, bewege sich quasi notwendigerweise – von den ersten Debatten über eine langfristige Waffenruhe mit Israel (Hudna), bis zur 2017 veröffentlichten „neuen Charta“ der Hamas – in Richtung Anerkennung der Zwei-Staaten Lösung. Hier sieht Baconi Prozesse am Werk, innerhalb derer am Ende die Anerkennung Israels in den Grenzen von 67 quasi schon vorgebildet ist.
So sehr man dem Autor rechtgeben mag, wenn er darauf verweist, dass die Hamas letztlich ein politischer Akteur wie andere ist und als solcher gewissen realpolitischen Machtstrukturen und Zwängen unterworfen, auf die er auch entsprechend reagiert, so sehr irritiert doch die allzu widerspruchsfreie, scheinbare Stringenz des Arguments. Wo auch immer ein Hamas-Politiker auch nur die kleinste konziliante Äußerung in Richtung Israel artikuliert, sieht Baconi, so scheint es, schon Anerkennung und Zwei-Staaten-Lösung vorgegeben.
Dass diese Artikulationen auch anders gemeint sein könnten, dass sich diese Linie auch wieder ändern könnte und dass ein gewisses Maß an Pragmatismus nicht ipso facto mit der Absage an ideologische Maximalziele gleichzusetzen ist, all das fällt an vielen Stellen allzu gnädig unter den Tisch. Zwar hebt sich ohne Zweifel die Argumentation Baconis wohltuend ab von Analysen, welche meinen, alles Wesentliche über die Organisation aus ihren Gründungsdokumenten ableiten zu können und dementsprechend zumeist Karikaturen der Hamas als apokalyptische Selbstmordsekte produzieren, doch schlägt die Analyse bei Baconi allzu oft in die scheinbare Eindeutigkeit des Gegenteils um.
Allein schon der intensiven Recherche, vor allem in Gaza selbst, sowie der Bereitschaft Baconis, die Quellen möglichst selbst sprechen zu lassen, gebührt Respekt. Die Stärke dieser Arbeit ist jedoch zugleich ihr Schwäche. Man mag in Baconis Ausführungen dem Weltbild der Hamas bis in tagespolitische Debatten hinein zwar spürbar nahe kommen, was zweifellos einen Wert für sich darstellt. Erkauft ist dies aber stets um den Preis, dass alle anderen Perspektiven ausgeblendet werden.
So verbleibt Baconis Darstellung der Geschichte der Hamas notwendigerweise innerhalb eines Konflikt-Diskurses, in dem eine, wie auch immer geartete, „Befreiung Palästinas“ den politischen Sinnhorizont, ein monolithisches „Israel“ den ewigen Feind und ein intransigenter „Westen“ das zentrale politische Hindernis bilden. Wirklich heraus kommt man aus diesem Widerspruch nicht, zumal er in der Grundintention der Arbeit angelegt ist. Er sollte allerdings zumindest reflektiert werden.