20.05.2021
Steine und Zäune: Jerusalem und das arabische Israel
Damaskus-Tor, Jerusalem. Foto: Oren Ziv
Damaskus-Tor, Jerusalem. Foto: Oren Ziv

Die momentan entfesselte Gewalt in Israel und Palästina wirkt von außen betrachtet, als wäre sie überraschend heftig und spontan ausgebrochen. Dabei ist sie das Resultat einer verfehlten Politik, welche Konflikte ignoriert hat.

Wenn man die aktuelle Medienberichterstattung über die Gewalteskalation in Palästina/Israel betrachtet, fällt schnell auf, dass der Konflikt mehrheitlich als einer zwischen den israelischen Streitkräften und den islamistischen Fraktionen im Gazastreifen - ausgelöst durch Konfrontationen am und auf dem Tempelberg/Haram al-Sharif - wahrgenommen wird. Das ist nicht grundlegend falsch, vernachlässigt aber eine politische und gesellschaftliche Entwicklung, die zwangsläufig in einer solchen Gewaltentladung resultieren musste.

Sowohl der radikale Arm der Hamas als auch der Führungsstab der Israel Defense Forces (IDF) sowie die politische Führung des Landes haben jeweils angekündigt, die Konfrontationen nicht abklingen zu lassen und drehen damit weiter an der Gewaltspirale, während aufgeheizte Lynchmobs beider Seiten in den größeren Städten Israels Schlachtfelder hinterlassen. Diese politische und gesellschaftliche Implosion kommt nicht aus dem Nichts, sondern steht am Ende einer Politik, die kein anderes Resultat zulassen konnte.

Die Gewalt kommt nicht aus dem Nichts

Das Viertel Sheikh Jarrah nördlich der Jerusalemer Altstadt ist nicht erst seit 2021 im juristischen und demografischen Kreuzfeuer, sondern Bestandteil einer größeren Verdrängungsstrategie gegen die palästinensische Bevölkerung in Ostjerusalem, die ihren Anfang 1967 mit der Mobilisierung durch Zvi Yehuda Kook und Gush Emunim nahm und heute eine feste Größe im politischen Establishment Israels darstellt.

Eine Szene der letzten Tage und Wochen steht dabei symbolhaft für die aktuelle Lage in Jerusalem: Arieh King, seines Zeichens Gründer und Leiter der Siedlungsorganisation Israel Land Fund, verhöhnt in Sheikh Jarrah einen palästinensischen Aktivisten aufgrund einer Schussverletzung. Dass King darüber hinaus stellvertretender Bürgermeister Jerusalems ist, zeigt allegorisch das Ausmaß der strukturellen Schieflage und der Prominenz und Wirkmacht der Siedler:innenbewegung.

Dieser Umstand beschränkt sich nicht nur auf die Lokalpolitik, denn gleichzeitig wähnt sich der ehemalige Vorsitzende des Siedlungsrats und ehemaliger Bildungsminister Naftali Bennett als Teil einer neuen Koalition, um Netanyahu abzulösen.

Auch oder gerade besonders der noch amtierende Ministerpräsident Israels, Benyamin Netanjahu, hat den gesellschaftlichen Rechtsdrall forciert, indem er den Likud beziehungsweise eine rechte bis ultrarechte Koalition zur einzigen wählbaren Option aufgebaut und dafür das rechts-religiöse Establishment auf Kosten der säkularen und nicht-jüdischen Bevölkerung hofiert hat.

Spätestens mit der Corona-Pandemie und den geduldeten Freiheiten der orthodoxen Bevölkerung, hat Netanjahu klar gemacht, welchen Wert er der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe in Israel beimisst.

Das daraus erwachsende Selbstbewusstsein der Nationalreligiösen, zu denen auch die kahanistische Gruppe Lehava und die Partei Otzma Yehudit gehören, hat einen nachhaltigen Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs in Israel. Lehava erlangte kürzlich internationale Bekanntheit durch ihre Demonstration in Jerusalem, während der offen zum Töten von Araber:innen aufgerufen wurde.

Zentrales Aktionsfeld Lehavas ist unter anderem die Belästigung jüdischer Frauen und Männer, die vermeintlich nicht-jüdische Partner:innen haben, um sie vor der Assimilierung zu schützen. Der israelische Polizeipräsident Kobi Shabtai bestätigte mittlerweile, dass Itamar Ben Gvir, Chef von Otzma Yehudit maßgeblich an der Eskalation der momentanen Gewalt beteiligt ist.

Alles in allem hat die Vormachtstellung des Likud sowie seiner rechten Bündispartner:innen zusammen mit dem gleichzeitigen Bedeutungsverlust der israelischen Linken den gesellschaftlichen Diskurs und den Normkanon weit nach rechts verschoben und damit an einer Verhärtung der partikularen Verhältnisse in Israel gearbeitet. Netanyahu stellt dabei einen der zentralen Akteure dar. Mit ihm wurde auch das Narrativ von der „fünften Kolonne” wieder aufgefrischt, als er vor den „arabischen Horden” warnte, die Israel an den Wahlurnen zerstören würden.

Israels offene Gräben

Benjamin Netanyahu übernahm jedoch ein strukturelles Problem, das bereits mit der Unabhängigkeit Israels 1948 begonnen hat. Die Stunde Null des Staates Israel bedeutete für die Palästinenser:innen innerhalb des Landes gleichzeitig den Beginn einer Militärverwaltung (bis 1966) und eine sukzessive Umgestaltung des Landes im israelischen Sinne und zum Nachteil der arabischen Siedlungsgebiete.

Obwohl allen nicht-jüdischen Individuen nach der Staatsgründung vollumfängliche staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten zugesichert wurden, haben Nicht-Jüd:innen keinen Platz in der nationalen Ikonografie Israels und bleiben eher ein Fremdkörper in einem Staatswesen, das permanent im Spannungsfeld zwischen ethnonationalen und universellen Prinzipien pendelt.  

Mit dem Rechtsruck unter Netanyahu verschob sich auch die Prinzipienfrage nach rechts und fand ihren Höhepunkt im Nationalstaatsgesetz, das 2018 verabschiedet wurde und das Staatswesen final an ethnonationale Faktoren band, ohne jedoch kaum spürbare Veränderungen zu bewirken. In der Praxis ist die mangelnde Wahrnehmung der arabischen Bevölkerung jedoch durchaus sichtbar und äußert sich in der forcierten Marginalisierung der beduinischen Siedlungen in der Negev oder der juristischen Vernachlässigung ganzer arabischer Städte, deren Bevölkerungen seit Jahren gegen steigende Kriminalität und eine tatenlose oder aber übermotivierte Polizei protestieren.

Das ganze Ausmaß dieser strukturellen Vernachlässigung reicht von Infrastruktur über Bildung bis zum generellen Wunsch nach Akzeptanz israelischer Araber:innen, während Besatzung und Vertreibung auch in Israel Teil der arabisch-palästinensischen Geschichte und Wahrnehmung sind. Allerdings macht das arabische Israel 20 Prozent der Bevölkerung aus, wovon jedoch 58.8 Prozent unterhalb der Armutsgrenze leben (Stand 2018).

Das Paradoxe ist, dass es trotz einer Reihe diskriminierender Gesetze Raum für individuellen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg gibt, der im Einzelfall auch stattfindet, die arabische Bevölkerung Israels als Ganzes allerdings in Bildung, Wohlstand und politischer Partizipation weit hinter der jüdischen zurückfällt und auch keine Trendwende in Sicht ist. Israel ist keine multikulturelle, sondern eine partikularistische Gesellschaft, auseinanderdividiert von verschiedenen Narrativen und Identitäten ohne die Möglichkeit gemeinsamen Erinnerns, Definierens oder gar Begegnens.

Mit anderen Worten: die Araber:innen können dem allgemeinen Rechtsruck nicht entgegenwirken und vollumfänglich partizipieren, genauso wie der jüdischen Mehrheit das Knowhow und der Wille für eine nachhaltige Integration der Araber:innen fehlt. Gleichzeitig bestätigt eine Studie von 2019 jedoch ein überwiegend gutes Verhältnis zwischen jüdischen und arabischen Israelis, was in Kombination mit der relativen Ruhe der letzten Jahre die momentane Eskalation der Gewalt noch explosiver erscheinen lässt. Khulud Khamis, Schriftstellerin aus Haifa, veröffentlichte kürzlich ihre Beobachtungen in ihrer Heimatstadt:

„Diese letzten Tage waren in Haifa fast surreal. So etwas habe ich in meiner geliebten Stadt noch nie erlebt. In der zweiten Nacht in Folge stürmten etwa 200 jüdische Siedlerextremist:innen, die sich selbst als „Bürgerarmee" bezeichnen, palästinensische Stadtteile von Haifa. Sie sind mit Schlagstöcken und anderen Waffen bewaffnet, viele von ihnen haben eine militärische Ausbildung hinter sich, und sie sind gut organisiert.

Am Nachmittag werden kleine Gruppen dabei beobachtet, wie sie in Gebäude eindringen und Türen, die palästinensischen Bewohnern gehören, mit einer roten Markierung versehen. Sie haben Dutzende von Autos zerstört, Palästinenser:innen auf der Straße angegriffen und versucht, in die Häuser von Palästinenser:innen einzubrechen. Ähnliche Angriffe wurden auch in anderen gemischten Städten wie Lydd, Akko und Jerusalem verübt.”

Solche Erfahrungen teilen derzeit nahezu alle Bevölkerungsgruppen, seien sie jüdisch oder arabisch.

Immer wieder Jerusalem

Die Dynamik Jerusalems, besonders seiner neuralgischen Punkte, ist geprägt von einer stillen gegenseitigen Duldung mit einem unübersehbaren Misstrauen, dessen „Berechtigung” in Jahrzehnten von Terroranschlägen auf der einen Seite, Besatzung, gewalttätigen Mobs, sukzessiver Verdrängung durch Siedler:innen und anlasslosen und erniedrigenden Polizeikontrollen auf der anderen liegt. Dementsprechend steht der Gewalt die Tür immer einen Spalt offen. Jerusalem ist die zentrale Ikonografie besonders der radikalen Fraktionen unter Israelis und Palästinenser:innen und beide haben hohes Mobilisierungspotenzial, insbesondere wenn es dazu konkrete Anlässe gibt.

Während der radikale Arm der Hamas als politisches Mittel hauptsächlich Raketen und Attentatskommandos kennt, wähnt sich die extreme israelische Rechte unter dem Schutz von Polizei, Justiz und der politischen Rechten und hat dementsprechend großen Handlungsspielraum auf Kosten nicht nur der palästinensischen Bevölkerung in Jerusalem und dem Westjordanland.

Seit der Annexion Ost-Jerusalems 1967 und der offiziellen, aber einseitigen Vereinigung der Stadt durch das Jerusalemgesetz 1980 haben über 15.000 arabische Jerusalemer:innen ihren Aufenthaltsstatus verloren, seit 2004 wurden zudem über 1.000 Wohneinheiten zerstört.

Jerusalem ist, wenn auch kein physisches Schlachtfeld, mehr denn je ein ideologisches, in dem jeder Quadratmeter Boden entweder palästinensisch oder israelisch, säkular oder religiös ist. Wie fragil diese Aufteilung ist, zeigt sich beispielsweise immer wieder an den Reaktionen auf die israelischen sicherheitspolitischen Eingriffe auf dem muslimischen Haram al-Sharif/Tempelberg oder am religiösen Eindringen in säkulare Orte.

Über allem schwebt zum einen die ständige Gefahr für arabische Jerusalemer:innen, den Aufenthaltsstatus zu verlieren oder mit Siedler:innen aneinander zu geraten, während in israelischen Gebieten die gemeinsame Erinnerung an Terroranschläge die Sorge vor neuen Attentaten schürt. Mit anderen Worten, der psychische Druck lastet auf der ganzen Stadt und entlädt sich durch jede Veränderung des Status quo, wie vor drei Wochen am Damaskustor und Sheikh Jarrah.

Es gibt keinen neutralen Ort in Jerusalem, alles ist politisch und Mikroaggressionen Teil des Alltags. Obwohl der juristische Kampf um das Viertel nördlich der Altstadt nicht neu ist, steht er stellvertretend für einen Kampf um Wahrnehmung, Gleichberechtigung und Teilhabe auf Augenhöhe, die im Angesicht des israelischen Rechtsrucks immer unwahrscheinlicher werden.

Auf dem Weg zur Intifada

Fast auf den Tag genau ist es exakt 100 Jahre her, dass in Jaffa ähnliche Unruhen ausbrachen, die sich durch die gesamte britische Mandatszeit zogen und den Auftakt für die Spannungen boten, die sich aufgrund der asymmetrischen Machtverhältnisse bis heute hielten und nun im ganzen Land entladen, wie schon zur ersten und zweiten Intifada.

Was im Moment passiert, ist vielmehr ein gewalttätiger Ausdruck einer Ungleichheit, mangelnder gegenseitiger Sichtbarkeit und ein Angriff auf gewohnte Dominanzen und weniger ein orchestrierter Aufstand einzelner Gruppierungen. Diese Ungleichheit ist nicht zwangsläufig von israelischer Seite forciert oder geplant gewesen, vielmehr ist sie das Ergebnis eines ethnonationalen Staatsverständnisses, transgenerativer Traumata und daraus entstehenden mangelnden Handlungsoptionen.

„1929 lag immer in der Luft”, definiert Natan Sznaider das israelische Dilemma in Anspielung auf das Hebroner Massaker in jenem Jahr. Seit dem Jahr 2000 verzeichnet Israel 1362 zivile Opfer durch palästinensische Gewalt, seit 1920 sind es insgesamt 3158. B’Tselem gibt die Zahl palästinensischer Opfer israelischer Gewalt seit 2000 mit 9849 an (verlässliche Zahlen für den kompletten Zeitraum existieren nicht).

Anders ausgedrückt: selbst wenn Israel sich vollständig zu universellen und egalitären Prinzipien bekennen würde, könnte es das aufgrund eines kollektiven Gedächtnisses nicht, das gleiche gilt auch für die palästinensische Gesellschaft. Gewaltakte verlangen eine emotionale Reaktion, die zur Erinnerung und damit zur Grundlage und Rechtfertigung neuer Gewalt wird. Besonders die Bombenattentate der zweiten Intifada haben dieses Dilemma zusätzlich bestärkt.

Hinzu kommt, dass neben rechtsextremen Israelis auch palästinensische radikale Gruppen jede Form gegenseitiger Annäherung buchstäblich torpedieren und in absoluten Kategorien Sieg und Niederlage agitieren und handeln, wie es beispielsweise die militanten Gruppen der Hamas und der Islamische Djihad tun (Artikel 13 der Hamas Charta).

Aber Protest findet nicht nur gewaltvoll statt: Zum 18. Mai riefen verschiedene palästinensische Gruppen zu einem Generalstreik auf, an dem sich von Gaza über Israel bis ins Westjordanland durch Ladenschließungen, Arbeitsniederlegung und Demonstrationen beteiligt wurde. Nahe Ramallah endete der Tag jedoch mit mehreren Toten und Verletzten.

Abgesehen vom gewohnheitsmäßig harten und unverhältnismäßigen Vorgehen von Polizei, Border Police und IDF hat Israel seit seinem Bestehen noch keine derartige spontane zivile Gewalt erlebt. Die zentralisraelische Stadt Lod (Lydda) hat am elften Mai den Notstand ausgerufen und offiziell ihre Hilflosigkeit erklärt.

Genauso hilflos geriert sich der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas, der Demonstrationen und Kundgebungen aus Sorge um seinen politischen Status zerschlagen lässt. Gleichzeitig unterstützt er aber die Gewalt in Jerusalem, während die PFLP die momentane Eskalation zur neuen Intifada erklärt. Die Gräben werden dadurch nicht unbedingt breiter, sie werden vor allem sichtbarer und markieren einen Wendepunkt im israelisch-palästinensischen Verhältnis, von dem noch nicht abzusehen ist, in welche Richtung sich dieses entwickeln wird. Steine, Flaschen und Brandsätze fliegen, israelische und palästinensische Mobs machen Jagd aufeinander, in diesem Ausmaß ein fast unbekanntes Phänomen.

Im Westjordanland wird auf Siedler:innen und palästinensische Zivilist:innen geschossen, Moscheen werden verwüstet und Synagogen brennen und noch nie sind derart viele Raketen so weit aus Gaza nach Israel geflogen, die Israel mit umso härterem Beschuss beantwortet; insgesamt gibt es bisher über 230 Todesopfer und unzählige Verletzte in Gaza, Israel und im Westjordanland. Ein Ende ist nicht in Sicht. Israels Präsident Reuven Rivlin spricht von „Bürgerkrieg“. Es gibt aber auch gute Nachrichten: tausende Jüd:innen und Araber:innen protestierten öffentlich gegen die Gewalt und Verantwortliche der Ausschreitungen werden identifiziert.

Wenn sich die Unruhen abgekühlt haben, bleiben jedoch große, grundlegende Fragen nach der Beschaffenheit der israelischen Gesellschaft, nach der Zukunft Gazas und der palästinensischen Bevölkerung allgemein und nach der Richtung der israelischen und palästinensischen Politik im Raum. Auch ist derzeit unklar, welche Folgen die Eskalation für den Normalisierungsprozess einer Reihe arabischer Staaten gegenüber Israel haben wird, der letztes Jahr angestoßen wurde.

Klar ist, dass Jerusalem, solange sich die Situation und Stadtpolitik nicht ändert, immer wieder das Epizentrum nationaler und religiöser Auseinandersetzungen sein wird. Am 14. Mai 1948 beschallte ein Lautsprecher der Hagana die arabische Bevölkerung in Sheikh Jarrah mit folgenden Worten: “Wenn ihr bleibt, erzeugt ihr ein Desaster”.[1] 73 Jahre später scheint diese Warnung immer noch zu gelten.

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[1] Zitiert aus: Wolffsohn, Schreiber: “Nahost”, Opladen 1989, S. 155

 

 

Tobias Griessbach ist Konfliktethnologe, Veranstalter und Kulturnetzwerker. Er lebt seit 12 Jahren in Leipzig und verbringt viel Zeit in Israel und Palästina.
Redigiert von dis:orient