18.10.2020
Sicher ins Feld
Sicherheit ist mehr als Daten sichern. Quelle: Pixabay
Sicherheit ist mehr als Daten sichern. Quelle: Pixabay

Der Mord an Giulio Regeni in Ägypten entblößte 2016 eine Lücke in den Sozialwissenschaften: das Thema Sicherheit in der Feldforschung. Ein neues Buch will nun Tipps geben und für Gefahren sensibilisieren. Es sollte zum Standardwerk werden.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Der Mord am Politikwissenschaftler und Arabisten Giulio Regeni Anfang 2016 in Kairo hat die Sozialwissenschaften weltweit in Aufruhr versetzt: Regeni war vor Ort gut vernetzt, hatte lokale Kontakte und forschte zu unabhängigen Gewerkschaften – ein politisches, aber vielleicht nicht lebensgefährliches Thema, mochte man meinen. Dennoch wurde der Doktorand der Universität Cambridge brutal gefoltert und ermordet, mutmaßlich von den ägyptischen Sicherheitsbehörden. Viele Sozialwissenschaftler*innen, die zeitgleich mit Regeni in Kairo waren, verließen daraufhin kurzfristig das Land. Ihr Sicherheitsgefühl war erschüttert.

Wie können Sozialwissenschaftler*innen sich selbst und ihre lokalen Kontakte im Feld schützen? Besonders in autoritären Regimen? Obwohl diese Frage nicht neu ist, gibt es bisher erstaunlich wenige Antworten. Jannis Grimm, Kevin Köhler, Ellen M. Lust, Ilyas Saliba und Isabell Schierenbeck wollten das ändern – zwei von ihnen forschten selbst in Kairo, als Regeni verschwand. Gemeinsam mit zahlreichen Koautor*innen aus verschiedenen Staaten haben sie mit „Safer Field Research in the Social Sciences“ ein Buch vorgelegt, das diese Leerstelle in der Literatur füllen soll.

Standards für die Feldforschung

Diese Leere geht tief: Aus methodischer Sicht ist das Thema Feldforschung für Soziolog*innen, Politikwissenschaftler*innen oder Forschende verschiedener Regionalstudien selbstverständlicher Teil ihrer Ausbildung oder ihrer späteren Karriere. Auch ethische Fragen werden im Zuge der Lehre diskutiert. Und es gibt praktische Sicherheitstrainings für den Ernstfall – diese sind aber oftmals kostspielig und eignen sich auch eher für Journalist*innen oder Mitarbeitende von Hilfsorganisationen, die oftmals kürzer im Feld sind und deren Arbeitsalltag mit dem der Forschenden nicht zu vergleichen ist. Standards, besonders im Punkto Sicherheit, sucht man jedoch vergebens.

Das ist umso verwunderlicher, da die sozialwissenschaftlich Feldforschenden sich eher selten mit Bilderbuch-Themen beschäftigen, sondern in der Regel dahin gehen, wo es „brennt“: In Krisenregionen mit politischen Konflikten oder fragiler Staatlichkeit. Sie beobachten Aufstände, besuchen Camps von Geflüchteten, Slums oder soziale Brennpunkte.

Das Ziel des Buches ist eine Anleitung zur systematischen Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung von Feldforschung und ist nützlich für Forscher*innen in jedem Karrierestadium. Während interessierte Studierende oder Doktorand*innen sich damit konkret auf ihre ersten Forschungen im Feld vorbereiten können, ist es auch für geübtere Forscher*innen hilfreich. Denn wie die Autor*innen bereits in der Einleitung darlegen, sind auch erfahrene Wissenschaftler*innen nicht davor gefeit, in heikle Situationen zu geraten – und fühlen sich im Gegenteil vielleicht zu sicher.

Sicherheit – für wen?

Anhand von vielen Beispielen zeigen die Autor*innen auf, wie weit der Begriff „Sicherheit“ überhaupt gefasst werden muss, um sich angemessen auf die Feldforschung vorzubereiten. Wer soll überhaupt sicher sein? Die Forschenden, klar, aber darüber hinaus muss professionelle Feldforschung die Sicherheit der lokalen Bevölkerungen vor Ort mitbedenken, die mit den Forschenden zusammenarbeiten, etwa  Fixer*innen oder Forschungsassistent*innen.

Auch könne es nicht nur darum gehen, physische Sicherheit sicherzustellen – die psychische Gesundheit und die Sicherheit von Daten seien ebenfalls wichtig. Gefahren, die sich unerwartet auftun können, sind laut den Autor*innen zahlreich: Sie reichten von der Konfiszierung gesammelter Daten über Verleumdung bei staatlichen Autoritäten bis hin zu sexualisierter Gewalt an den Forscher*innen. Außerdem machen Grimm et al. deutlich, dass eine möglichst sichere Feldforschung nicht nur eine gute Vorbereitung und ein achtsames Vorgehen vor Ort benötigt, sondern auch nach dem Verlassen des Felds weitergeht. Gefahren für die Unterstützer*innen vor Ort sowie eine mögliche Bedrohung außerhalb des Forschungslandes sind nicht auszuschließen.

Aus eigener Erfahrung berichten die Autor*innen, wie zum Beispiel Vertreter*innen staatlicher Institutionen bei wissenschaftlichen Konferenzen auftauchten, um zu spionieren und die Anwesenden einzuschüchtern. In einem anderen Fall wurde die Wohnung einer Professorin durchsucht und verwüstet, nachdem sie einen kritischen Artikel über die Einflussnahme Chinas im Ausland publiziert hatte.

Trotz des umfassenden Verständnisses von Sicherheit liefert das Buch sehr konkrete Hinweise und ist daher durchaus geeignet, auch fortgeschrittene Studierende bei ihren ersten Schritten ins Feld zu begleiten. Am Ende jedes Kapitels finden sich Fragen, die man sich selbst zur besseren Vorbereitung stellen kann, ebenso wie Fragen an mögliche Betreuer*innen, die ihre Doktorand*innen auf die Feldforschung vorbereiten wollen.

Von konkreten Tipps für mögliche Unterkünfte vor Ort, den Vor- und Nachteilen verschiedener Verkehrsmittel sowie die Anbindung an lokale Forschungsinstitutionen, werden auch Tipps zur Erstellung eines „Sicherheitsplans“ gegeben und Möglichkeiten aufgezeigt, wie man vor Ort und fernab von Freund*innen und Familie stressausgleichende Freizeitroutinen entwickeln kann.

Absolute Sicherheit gibt es nicht

Besonders angenehm ist dabei der Ton: „Safer Field Research in the Social Sciences“ ist leicht verständlich geschrieben, bleibt stets abwägend und meidet Verallgemeinerungen. Es wird immer wieder deutlich: Den einen Fahrplan gibt es nicht. Jede Entscheidung für eine Forschungsmethode, eine Unterkunft, eine Strategie zur Absicherung der erhobenen Daten kann ihre Vor-, aber eben auch Nachteile haben.

Stattdessen muss es laut den Autor*innen darum gehen, ein Gespür für die eigene Situation, die eigene Rolle und auch eigene Privilegien zu entwickeln und sich proaktiv auf mögliche Gefahren vorzubereiten, um im Falle des Falles möglichst handlungsfähig zu bleiben. Neben den obligatorischen Kopien wichtiger Unterlagen kann dazu auch das Tragen eines „Eherings“ gehören, um sich vor ungewollten Annäherungsversuchen zu schützen.

Das Ziel des Buches ist nicht die absolute Sicherheit, sondern eine Hilfestellung für gute Vorsorge. Diesem Anspruch wird „Safer Field Research in the Social Sciences“ absolut gerecht und qualifiziert sich damit als Standardwerk für die Vorbereitung einer sozialwissenschaftlichen Feldforschung.

Toxische Diskurse aufbrechen

Doch das Werk leistet noch mehr als das. Immer wieder lassen die Autor*innen durchschimmern, dass nicht nur mangelnde Vorbereitung oder Unterstützung für Forschende zu Sicherheitsproblemen führen können. Das Problem greift tiefer: Prahlende Geschichten über besonders gewagte Forschung in Kriegs- oder Krisengebieten, gerne vorgebracht von männlichen Kollegen und noch ausgeschmückt mit Darbietungen exzessiver Gewalt oder fehlleitenden Darstellungen lokaler Bevölkerungen, verunsichern insbesondere junge Forscher*innen.

Auch Betreuer*innen oder ältere Kolleg*innen können hier zweifelhaften Einfluss ausüben, wenn etwa implizite oder explizite Erwartungen an Doktorand*innen ausgesprochen werden, sich durch Forschung in besonders gefährlichen und damit vermeintlich „spannenden“ Regionen hervorzutun und sich damit bessere Chancen auf dem prekären wissenschaftlichen Arbeitsmarkt zu erkämpfen. Damit liefert das Buch gleichzeitig noch eine gelungene Kritik der derzeitigen wissenschaftlichen Kultur der Selbstinszenierung, beispielsweise  in den internationalen Beziehungen: Keine strukturelle Abhängigkeit und kein toxischer Diskurs sollte dazu führen, dass Forschende meinen, sich oder andere in Gefahr begeben zu müssen.

Es ist nicht zuletzt diese Perspektive, die deutlich macht, dass Grimm et al. die Finger in die richtigen Wunden legen: So geht es ihnen mitnichten darum, Feldforschung zu versicherheitlichen, sondern eine gesunde, praxisorientierte und forschungsethisch vertretbare Perspektive auf das eigene Forschungsfeld zu entwickeln. Das ist dringend angebracht. Es bleibt den Autor*innen zu wünschen, dass das Buch die Reichweite bekommt, die es verdient.  

Jannis Grimm et. al.: "Safer Field Research in the Social Sciences: A Guide to Human and Digital Security in Hostile Environments". SAGE Publications, London 2020.

 

Charlie hat 2017 das erste Mal für das Magazin geschrieben und ist seit Anfang 2018 fest dabei. In ihrem Studium der Politik- und Nahoststudien hat sie sich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Siedlungspolitik Israels befasst. Bei dis:orient schreibt und redigiert sie und ist Teil des Rezensionsteams.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Bodo Weissenborn