27.07.2024
Studie: Abstiegsangst ist bei jungen Menschen in WANA allgegenwärtig
Ausschnitt des Buchcovers von "Die enteignete Generation" von Jörg Gertel, David Kreuer und Friederike Stolleis
Ausschnitt des Buchcovers von "Die enteignete Generation" von Jörg Gertel, David Kreuer und Friederike Stolleis

Die Studie „Die enteignete Generation“ zeigt, wie stark die Krisen der letzten fünf Jahre den Alltag junger Menschen in der Region prägen. Neben viel Frust und Ratlosigkeit gibt es jedoch auch kleine Hoffnungsschimmer. 

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Der jungen Generation in Westasien und Nordafrika (WANA) mangelt es an Perspektiven und Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Leben. Zu diesem Schluss kommt die neue Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Lebenssituation von jungen Menschen in WANA. „Die enteignete Generation – Jugend im Nahen Osten und in Nordafrika“ von Jörg Gertel, David Kreuer und Friederike Stolleis ist im April 2024 erschienen. 

Die Studie knüpft an die bereits vor sieben Jahren erschienene Erstauflage an, die von den Herausgebern Jörg Gertel und Rolf Hexel damals noch leicht hoffnungsvoll unter dem Titel „Zwischen Ungewissheit und Zuversicht“ zusammengefasst wurde. Denn trotz der schon zu dieser Zeit herrschenden Krisen, beobachteten sie, dass viele junge Menschen in den untersuchten Ländern mit ihrer Lebensplanung und -gestaltung vorankamen. In der Neuauflage ist von dieser Zuversicht nur noch wenig zu spüren.  

Die Mittelklasse schrumpft immer weiter

Das Ziel der Studie bleibt, ein Verständnis für die Lebenssituation junger Leute in WANA zu bekommen. Dafür wurden etwas über 12.000 junge Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren in Algerien, Ägypten, Irak, Jemen, Jordanien, Libanon, Libyen, Palästina, Marokko, Sudan und Tunesien sowie syrische Geflüchtete in Libanon im Herbst 2021 und Sommer 2022 befragt. Anders als 2016 kamen keine Teilnehmende aus einem Golfstaat. 

Im Zentrum der Studie steht für die Autor:innen die Frage, wie die globalen Krisen der letzten fünf Jahre (Corona, Ukraine-Krieg, Inflation) sowie die nationalen beziehungsweise regionalen Konflikte ihre Lebensgestaltung prägten. Jörg Gertel und Katharina Grüneisl gehen davon aus, dass diese zu einer wachsenden materiellen wie immateriellen Ungleichheit geführt haben. 

Denn in den betroffenen Ländern fand kaum eine Umverteilung von Vermögen statt. Die Mittelklasse hat sich in allen acht Ländern, die 2016 teilnahmen, halbiert. Gewachsen sind dagegen die Zahlen derjenigen, die sich den unteren und in geringerem Ausmaß den oberen Schichten zurechnen. Den Prozess der Enteignung verstehen sie als eine zunehmend ungleiche Ressourcenkonzentration und als eine damit einhergehende Kürzung an Möglichkeiten, das eigene Leben zur eigenen Zufriedenheit zu gestalten. So geben ein Großteil der Befragten – schicht- und altersunabhängig – an, weniger Handlungsspielraum zu haben als die Generationen vor ihnen, insbesondere im Vergleich zur Generation ihrer Eltern. 

Das vollständige Buchcover der im April 2024 erschienenen Jugendstudie "Die enteignete Generation"

 

Hohe Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg

Die zunehmend schlechte wirtschaftliche Lage der letzten Jahre und teilweise auch Jahrzehnte, führte dazu, dass viele WANA-Staaten nach und nach ihren Sozialstaat und die staatlichen Subventionen zurückfuhren. Krisenfeste Jobs mit einer auskömmlichen Bezahlung und sozialen Absicherungen, wie einer Rente oder Krankenversicherung, sind verschwindend gering. Ein Drittel der Teilnehmenden ist arbeitslos und gibt an, dass ein Job oft nicht mehr ausreiche, um sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Dreiviertel der Befragten leben weiterhin bei ihrer Familie. In diesen ist der Vater oft der Hauptverdiener. Zurecht werfen die Autor:innen die Frage auf, wer diese Familien versorgt, wenn der Vater stirbt. Ihre finanziellen Rücklagen brauchten viele während der Corona-Pandemie für Essen und Medikamente auf. 

Für diejenigen, die eine eigene Familie gegründet haben, ist die wirtschaftliche Situation meist schwieriger. Sie müssen ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften und schaffen das immer schlechter. Einen finanziellen Puffer haben sie nicht und können diesen auch nicht aufbauen. Das Damoklesschwert des Abstiegs schwebt stets über ihnen. Die Studie zeigt, dass die jungen Leute sich diesem enormen Druck bewusst sind, aber kaum Möglichkeiten sehen, auf eigenen Füßen zu stehen und die soziale Leiter nach oben zu klettern. 31 Prozent der Teilnehmenden bewerten die wirtschaftliche Situation ihrer Familien als sehr schlecht, 42 Prozent als eher schlecht. In Libanon, Tunesien, Jemen und unter syrischen Geflüchteten sind die Zahlen besonders hoch.

Das Versprechen „Aufstieg durch Bildung“ greift ebenfalls nicht mehr. Es fehlen die passenden Jobs und wie Christoph H. Schwarz beobachtet auch die dafür nötige Bildung. Diese bekommen junge Leute nur noch, wenn sie über genug Geld verfügen. Denn öffentliche Schulen und Universitäten vermitteln nicht mehr das nötige Wissen für gute Jobs, das bieten meist nur private Institutionen und diese sind teuer. Junge Frauen haben es durch alle Länder hinweg nochmals schwerer. Ihr Zugang zu Bildung hängt stärker von der Erlaubnis ihrer Eltern ab als der von jungen Männern. Auch verdienen sie oftmals weniger als ihre männlichen Altersgenossen – und das, obwohl sie zunehmend bessere Abschlüsse haben. Zwar sprechen die Autor:innen davon, dass die Mehrheit der Befragten diese Entwicklung gut aufnehmen, dennoch äußern sich in den Interviews einige kritisch. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Dynamiken zwischen den Geschlechtern entwickeln. 

Die Corona-Pandemie als Beschleuniger von Nahrungsunsicherheit 

Wie auch in Europa, wirkte die Corona-Pandemie als ein Krisenbeschleuniger. Einhergehend mit den wirtschaftlichen Verlusten durch vermehrte Arbeitslosigkeit, konnten sich viele Menschen in den teilnehmenden Ländern Nahrungsmittel nicht mehr leisten oder verwendeten dafür ihre finanziellen Rücklagen. Zwischen 60 und 70 Prozent der Befragten aus Ägypten, Marokko, Jordanien, Palästina, Sudan, Jemen sowie für syrische Geflüchtete stellt Nahrungsknappheit eine sehr wichtige beziehungsweise wichtige Veränderung der letzten fünf Jahre dar. Sie geben mittlerweile fast oder über die Hälfte ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel aus. 

Jörg Gertel warnt in seinem Kapitel „Hunger und Gewalt“ eindringlich vor den Folgen von Mangelernährung. Sie gefährde nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Gesellschaft. Denn wer hungert, verliert an gesellschaftlichem Status und an Anschluss. Die Prioritäten verschieben sich, die Gestaltungsmöglichkeiten schwinden. 

Lösungen: Engagement oder Emigration?

Was also sind Mechanismen, um mit dieser düsteren Gemengelage fertig zu werden? Als sehr deutsche Lesart definieren Matthias Albert und Nadine Sikas im anfänglichen Kapitel „Politik und Mobilisierung“ politisches Engagement als Parteieintritt. Doch nur sehr wenige der Befragten sehen einen Sinn, einer Partei beizutreten. Eher würden sie an Demos teilnehmen oder sich einer NGO anschließen. Parteien repräsentieren für sie das korrupte und starre Regime. Auch gibt die überwiegende Mehrheit an, kein Interesse an Politik zu haben. Viele assoziieren damit Korruption oder Parteipolitik und weniger einen Mechanismus, der gesellschaftlichen Wandel voranbringt. 

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Daten zu sozialem Engagement von Friederike Stolleis. Sie zeigen, dass sich über alle Länder hinweg ein großer Anteil in ihren Gemeinschaften engagiert. Die jungen Menschen übernehmen dabei Aufgaben, die eigentlich Staatssache wären, wie etwa Lebensmittelverteilung, Nachhilfeunterricht oder Naturschutz. Gefragt nach ihrer Motivation, geben viele an, ihre Umgebung zu verbessern und Änderungen anzustoßen. Als politisch betrachten sie ihr Engagement dabei nicht. Das deckt sich mit den Ergebnissen von Albert und Sikas. Junge Leute suchen bewusst Organisationsformen abseits des Staatsapparats, weil sie dort Veränderungen bewirken können. 

So hoffnungsvoll einen das Kapitel von Stolleis entlässt, so betrübt liest sich „Migration und Vertreibung“ von Ann-Christin Zuntz. Zwar sieht die Mehrheit ihre Zukunft im eigenen Land, doch ein Drittel mehr als 2016, konkret 43 Prozent, beabsichtigen auszuwandern. In Ländern mit einer Wirtschaftskrise, wie Libanon oder Marokko, sind es nochmals mehr. Zentz folgert daraus: „Die Jugend in der MENA-Region sieht sich heute mit einer Welt konfrontiert, in der Migration womöglich der einzige Ausweg aus Armut, Gewalt und Ungerechtigkeit ist und gleichzeitig unerreichbar wird.“ Denn die Grenzen in Europa schließen sich zunehmend und Migration wird noch mehr zu einer Ressourcenfrage. Nicht jede Person besitzt das nötige Geld oder die Kontakte, um aufzubrechen und sicher anzukommen. Auswandern als Strategie, um sich eine Zukunft aufzubauen ist nur noch für eine bestimmte, sehr privilegierte Schicht eine Möglichkeit. Darüber, so die Autorin, sind sich die jungen Leute bewusst. 

Wachsende Perspektivlosigkeit und ungenutzte Potenziale

Die Studie „Die enteignete Generation“ ist mächtig – in ihrer Fülle an Daten und vor allem in deren Aussagekraft. Das Wegbrechen der Mittelschicht führt nach und nach zu einer Zunahme der ärmeren Bevölkerungsteile. Was die Autor:innen 2016 noch als Trend wahrnahmen, hat sich nun verstetigt: Abstiegsangst prägt den Alltag und die Zukunft vieler junger Menschen in WANA. Die Studie liest sich daher als Warnschuss und bietet Ein- wie aber auch Ausblicke in eine Generation, die trotz Staatsversagen, globaler Krisen und Gewalterfahrung bereit ist, für Veränderungen einzustehen. Man kann daher Jörg Gertel nur zustimmen, wenn er die Weltgemeinschaft auffordert, die Bedingungen so zu gestalten, dass die Handlungsmöglichkeiten zunehmen und nicht weiter abnehmen, denn das Potenzial ist da.

Jörg Gertel, David Kreuer und Friederike Stolleis: Die enteignete Generation, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn, 2024, 384 Seiten, 36 Euro.

 

 

 

 

Eva Hochreuther studierte Nah- und Mitteloststudien in Mabrug und Migrationswissenschaften in Schweden. Während ihrer Studienjahre verbrachte sie einge Zeit in Kairo, Amman und Beirut.
Redigiert von Claire DT, Hanna Fecht