Die Türkei avancierte zum wichtigsten Partner der deutschen Politik in der sogenannten „Flüchtlingskrise“. Doch kommen die Wahrnehmungen der Menschen in dem Land oftmals zu kurz. Tayfun Guttstadt möchte dies mit seiner Reportage „Gestrandet“ ändern. Eine Rezension von René Neumann.
Aufgrund der dramatischen Situation in Syrien fliehen viele Menschen aus den Konfliktgebieten, entweder innerhalb des Landes oder ins Ausland – die meisten in die Nachbarländer. Die Türkei hat bisher rund drei Million Geflüchtete aufgenommen. Diese Entwicklung stellt sowohl das Leben der geflüchteten Menschen – auch aus den Krisengebieten anderer Staaten – sowie Gesellschaft und Politik der Türkei vor enorme Herausforderungen. Wie sieht das Leben von Geflüchteten „zwischen Europa und Syrien“ aus?
Ein etwas anderer Reisebericht zwischen Ohnmacht und Hoffnung
Tayfun Guttstadts Reportage führt die Leser*Innen zu den türkischen Zentren der Fluchtmigration – in die kosmopolitische Metropole Istanbul, die grenznahe Region Hatay, in die Stadt Gaziantep sowie das kurdisch-dominierte Diyarbakir. Mit den Menschen, denen er begegnet, spricht er über ihr Leben, ihre Träume, über den Nahen Osten, Gegenwart und Zukunft.
Seine Gesprächspartner*Innen sind Geflüchtete, Helfer*Innen, Türk*Innen, Linksnationalist*Innen, Islamist*Innen. Der Autor präsentiert in seinem Buch die gegenseitigen Wahrnehmungen, subjektive Urteile zur schwierigen Gesamtsituation des Konflikts im Nachbarland und dessen Auswirkungen auf die Türkei. Er fängt die Stimmungslage der Geflüchteten ein, deren Leben von Unsicherheiten und Ungewissheit geprägt sind. „Zwischen Europa und Syrien“ beschreibt die Lage daher pointiert, denn die Frage, wo eine lebenswürdige Existenz perspektivisch möglich ist, wird zur Frage des Bleibens oder des Weiterreisens.
„Die Syrer“ sind in der Reportage heterogener, als sie oft dargestellt werden. Der aktuellen Lage von Frauen, ethnisch-religiösen Minderheiten, Homosexuellen und Transgender wird in Bezug auf den Migrationskontext gesonderte Aufmerksamkeit zuteil. Für die unterschiedlichen Identitäten gestaltet sich die ohnehin schwierige Lebensrealität in der Türkei meist zusätzlich defizitär.
Geflüchtete in der Türkei - Überleben und Leben
Guttstadt gibt durch die Wahl seiner Geprächspartner*Innen einen tiefen Einblick in die prekäre humanitäre und rechtliche Situation von Syrer*innen und anderen Geflüchteten. Die Besuche von Hilfsorganisation zeigen die Unzulänglichkeiten auf, mit denen die Helfer*Innen und Geflüchteten täglich konfrontiert werden. Andererseits wird auch sichtbar, wozu Solidarität und Engagement imstande sind.
Mangelnde Bildungsangebote für Kinder, Ausbeutung durch schlecht bezahlte Lohnarbeit, defizitäre Wohnsituationen zu horrenden Mietpreisen – viele Geflüchtete sehen sich existenziellen Schwierigkeiten ausgesetzt. Dies wird umso deutlicher, weil es der Reportage gelingt, die gegenwärtigen Zustände in gesellschaftspolitische Kontexte der gegenwärtigen Türkei zu setzen; seien es beispielsweise die islamisch-religiöse Fundierung der türkischen Politik oder die Gentrifizierung im urbanen Raum. Zugleich hinterfragt der Autor den Mythos vom vorbildlichen Flüchtlingscamp, wie er durch die positive Berichterstattung internationaler Medien verbreitet wurde. Tayfun Guttstadt berichtet allerdings von wenig Transparenz. Er selbst bemühte sich vergeblich um Besuchserlaubnisse. Hier stellt sich die Frage, was dem kritischen Auge verborgen bleiben soll.
Was denken türkische Taxifahrer? Besonders interessant sind die O-Töne türkischer Bürger*Innen. Die Gespräche offenbaren Sichtweisen, die zwischen Verständnis und Ressentiments oszillieren. Besorgte Bürger scheint es auch in der Türkei zu geben, die teils rassistischen Meinungsbilder machen dies deutlich. Klischees über die „arabischen Brüder“ sind allgegenwärtig.
Gleichzeitig sind der türkische Nationalismus und die unter Nationalist*Innen beliebten Verschwörungsszenarien präsent. Guttstadt spart nicht mit Kritik an der türkischen Linken, die gemeinhin zu allzu vereinfachter antiimperialistischer Lesart zu neigen scheint. Kurz gesagt: Der syrische Bürgerkrieg und seine Folgen sind das Werk „des Westens“, um den Nahen Osten und speziell die Türkei zu schwächen. Dieses Narrativ scheint über politisch-ideologische Grenzen hinweg eine hohe Zustimmung in der türkischen Bevölkerung zu erfahren.
Fazit: Eine Reportage, die diese Bezeichnung verdient
Die Türkei ist eines der größten Transitländer für die Fluchtmigration nach Europa. Zugleich avancierte die Türkei selbst zu einem Einwanderungsland, was für die türkische Gesellschaft Konsequenzen nach sich zieht. Trotz dieser Entwicklungen in den letzten Jahren gibt es wenige deutschsprachige Publikationen, die sich außerhalb der wissenschaftlichen Community mit diesen Entwicklungen beschäftigen. Tayfun Guttstadts Reportage ist somit ein notwendiges Format für all diejenigen, die sich näher mit dem Einfluss der syrischen Migration auf die türkische Gesellschaft auseinandersetzen wollen.
Der Autor setzt sich kritisch mit seinen Gesprächspartner*Innen auseinander, lässt sie jedoch offen zu Wort kommen. Das hinterlässt eine erfrischend differenzierte Beurteilung der Gesamtlage, eben ohne zu suggerieren, es gäbe die eine unumstößliche Wahrheit. Seine Beobachtungen fasst Tayfun Guttstadt treffend zusammen: „Und so bleibt sie kompliziert, die Wahrheit.“
Schwierig einzuschätzen bleibt überdies die Frage, welche Meinungsbilder unter konservativen Milieus der Syrer*Innen vorherrschen. Viele der syrischen Gesprächspartner*Innen entsprechen dem jungen, weltoffen Milieu. Nichtsdestotrotz offenbaren sich interessante Sichtweisen und Meinungen, die durch die Anmerkungen des Autors eingeordnet werden und somit das Verständnis bei den Leser*Innen fördern. Gegen Ende des 240-seitigen Buches finden noch eine Reihe interessante Beobachtungen des Autors Eingang, die unerlässlich in der Diskussion um Migration in der Türkei sind. Sei es im Kontext zur Bevölkerungspolitik der türkischen Regierung und die Auswirkungen auf die kurdisch-dominierten Gebiete im Südosten, die genauso thematisiert werden wie die Instrumentalisierung der Geflüchteten vonseiten verschiedener türkischer Parteien im Kampf um Stimmen.
Aufklärerisch, tiefblickend, wichtig
Ein kritischer Blick auf die handelnden Akteure eröffnet den Leser*Innen einen Zugang, in welchem Ausmaß die Geflüchteten im Spannungsfeld zwischen ethnischen, religiösen, kulturellen und politischen Identitätskonflikten stehen. Wenngleich gelegentlich offen bleibt, wie diesen wirksam begegnet werden soll, um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Oder: Kann diesen Konflikten überhaupt begegnet werden?
Mit Hinblick auf umstrittene Hilfsorganisationen wie die IHH Humanitarian Relief Foundation sollte die Reportage auch hierzulande eine Pflichtlektüre für freiwillige Helfer*Innen sein, die sich einen Überblick über die Lage machen wollen, bevor sie in der Türkei humanitäre Hilfe leisten. Tayfun Guttstadt gibt Hintergrundwissen preis, das sich so in der Berichterstattung der meisten Medien nicht wiederfindet. Der Autor arbeitet die zentralen Aspekte einer türkischen Realität auf, die auch das heutige West- und Mitteleuropa betrifft. Dabei bleibt die Reportage durchgehend gut lesbar und spannend. Für diese aufschlussreiche Reportage kann folglich mit guten Gewissen eine Leseempfehlung ausgesprochen werden.
Zum Autor
Tayfun Guttstadt ist gebürtiger Hamburger. Er studierte an der Universität Hamburg Musikwissenschaften und Islamwissenschaften. Guttstadt lebte vier Jahre in der Türkei und engagiert sich in politischen Netzwerken. Er ist Autor von „Çapulcu. Die Gezi-Park-Bewegung und die neuen Proteste in der Türkei“, in der er sich mit den Gründen und möglichen Folgen der Protestbewegung aus dem Jahr 2013 auseinandersetzt.
Tayfun Guttstadt, Gestrandet. Geflüchtete zwischen Syrien und Europa. Eine Reportage aus der Türkei, Unrast Verlag: Münster (Westfalen), 244 Seiten. ISBN: 978-3-89771-056-6