Die Berichterstattung über Afghanistan erfordert mehr Ressourcen für ein tiefes Verständnis um komplexe Themen, verschiedener Erzählperspektiven und die Verantwortung, die eigene Position kritisch zu beäugen, findet Mina Jawad.
Der Anbruch eines Jahres bringt oft die Chance auf einen Neuanfang und ein Gefühl der Hoffnung für die Zukunft mit sich. Doch in Afghanistan scheint ein Neuanfang in der Ferne. Die Ankunft von Nawroz in diesem Jahr wird durch die anhaltende Hungersnot überschattet, während sich die Taliban weiterhin ohne erkennbare Lösungen an die Macht klammern. Und während sich die Uhren der Weltgeschichte weiterdrehen, hat die afghanische Bevölkerung in der Aufmerksamkeitsökonomie das Nachsehen.
Schreiben über Afghanistan wird zu einer Herausforderung und Gefahr, wenn die Macht der Erzählung komplexe Situationen auf einfache Geschichten reduziert. Es scheint, als existierten die Menschen in Afghanistan nicht – es sei denn, sie werden im Zusammenhang mit Elend erwähnt. Die Hungernden sind aber Menschen. Nur über den Hunger zu sprechen, entmenschlicht sie. Nicht über den Hunger zu sprechen, wäre verantwortungslos.
Dabei ist die Hungersnot keinesfalls eine Neuigkeit. So bürden die wenigen Publikationsmöglichkeiten letztlich Autor:innen und Journalist:innen die Last auf, Prioritäten auf Kosten der Komplexität zu setzen. Trotz der Fülle an Themen und Geschichten, wird somit jede der wenigen verbleibenden Publikationsmöglichkeiten zur Strapaze. Wie kann die Aufmerksamkeit auf dieses Land gelenkt und gleichzeitig eine eindimensionale Darstellung vermieden werden, angesichts des begrenzten Vorwissens der Leser:innen?
Unverzichtbare geopolitische Analysen machen Menschen, einschließlich der Taliban, allzu leicht zu bloßen Karikaturen und ignorieren die vielfältigen und nuancierten Erfahrungen derjenigen, die am unmittelbarsten von der Taliban-Herrschaft betroffen sind. Werden Geschichten veröffentlicht, die sich auch um den Alltag der Menschen drehen, die (k)einen Unterschied zwischen der Herrschaft der Taliban und der korrupten Republik erkennen, wäre es trotzdem vermessen, die aktuelle Situation nicht zu erwähnen. Und da läuft der Grundtenor meist auf die Botschaft hinaus, dass die Taliban totalitär und böse sind, – aber das vereinfacht die komplexe Realität zu sehr. Die Taliban sind weder die Ursache aller Probleme Afghanistans noch sind sie die Lösung. Sie haben die Fehlpolitik der vergangenen Jahrzehnte geerbt und ihre Chance verspielt. Ihr unterdrückerisches Handeln, einschließlich ihrer Besessenheit, Frauen zu kontrollieren, war vorhersehbar und kontraproduktiv. Um die Situation wirklich zu verstehen, muss das Gesamtbild betrachtet werden, ohne die Schattierungen aus den Augen zu verlieren.
Voreingenommene Entzerrung
Der Drang, Diskurse im größeren Rahmen zu dekonstruieren, scheint deshalb naheliegend und attraktiv. Oder aber als reine Schadensbegrenzung. Verantwortungsbewusste Journalist:innen verzichten nicht selten darauf, sich der Situation von Frauen oder der Unterdrückung von Minderheiten zu widmen, da die Rhetorik dieser Erzählungen zur weiteren Rechtfertigung einer Invasion Afghanistans vor über 20 Jahren durch den Westen diente. Eine Gesamtbetrachtung geht schnell verloren.
Aber nicht alle handeln verantwortungsbewusst. Schadensbegrenzung und die Offenlegung der Heuchelei hinter den eindimensionalen Diskursen befreit nicht von der Voreingenommenheit. Es gehört auch schon etwas dazu, angesichts der Tatsache, dass Hoch im Rennen der Aufmerksamkeitsökonomie die Stories stehen, welche die moralische Überlegenheit des globalen Nordens suggerieren. Da zu entzerren, ist nah an der Sorgfaltspflicht, befreit aber eben nicht von der Voreingenommenheit.
Es stellt keinen Widerspruch dar – lediglich einen Bruch in der Kohärenz - wenn verantwortungsbewusste Journalist:innen bewundernswerte, differenzierte Arbeit bei der Berichterstattung über komplexe Themen leisten, jedoch um Fragen im Kontext mit Gender und Minderheiten ihre (Selbst-)Kritik aus den Augen verlieren.
Nicht zuletzt dann, wenn ihre Sinne so sehr darauf ausgerichtet sind, etwa missbräuchliche „feministische“ Narrative zu erkennen und zu dekonstruieren, die von hegemonialen Wissensproduktionen aufrechterhalten werden, dass sie ihre eigenen Voreingenommenheiten bis hin zu ethnischem oder geschlechtlichem Chauvinismus möglicherweise nicht erkennen. Diese Voreingenommenheit ist oft subtil und kann aus einem Mangel an unterschiedlichen Perspektiven oder aus dem Vertrauen in eine vereinfachende Dekonstruktion verzerrter Erzählungen resultieren. Die bestehenden, inner-afghanischen Machtstrukturen werden aufrechterhalten.
Entpolitisierung des Hungers
Nichtsdestotrotz ist unbestreitbar, dass nicht zuletzt missbräuchliche feministische Rechtfertigungen Afghanistan in die erhebliche Dependenz geführt haben, in der sie sich befindet: es gab eine Invasion, ein bisschen Identitätspolitik, keine nachhaltigen Strukturen und 20 Jahre später sind die Taliban stärker denn je.
Die Situation der Frauen wird nach wie vor von allen Seiten missbraucht, einschließlich durch die Entpolitisierung des Feminismus – auch „Feministische Außenpolitik“ genannt. Feminismen zielen darauf ab, Privilegien abzuschaffen, nicht sie auszugleichen. Und Außenpolitik wird von Interessen bestimmt. So wird der Feminismus politisch aufgeweicht. Der ursprüngliche politische Ansatz, eine radikale Abschaffung der kolonialen Entmenschlichung und Ausbeutung, scheint nicht mehr präsent zu sein. Was heute als feministische Außenpolitik bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit die Umbenennung des Feminismus, der für den Einmarsch in Afghanistan missbraucht wurde. Wenn die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock noch vor dem neuen Jahr eine feministische Realpolitik ankündigt, indem härter durchgegriffen und Afghanistan die Infusion abgetrennt werden soll, weil die Taliban Frauen ohne Zweifel systematisch ausgrenzen, dann ist der anhaltende Hunger offenbar unpolitisch. Die Rhetorik und Symbolik könnte aus dem kontextlosen Besuch einzelner Seminare der Gender Studies stammen. Es ist, als ob die Chefdiplomatin sagen würde: „Wenn Sie kein Brot haben, dann sollen sie Pronomen essen!“
Letztendlich erfordert die Berichterstattung über Afghanistan bedeutende Geschichten zu erzählen, und dabei verantwortungsvoll, genau und gewissenhaft zu berichten. Sie erfordert ein tiefes Verständnis für die komplexe Situation vor Ort und die Bereitschaft, verschiedene Perspektiven und Meinungen zu berücksichtigen. Es umfasst, etablierte Erzählungen zu hinterfragen und sich mit vorgefassten Meinungen und Annahmen auseinanderzusetzen. Sie erfordert die Bereitschaft, sich mit schwierigen und unbequemen Themen auseinanderzusetzen, auch wenn das bedeutet, aus dem eigenen Komfortbereich herauszutreten.
Eine Vorhersage, ob dieses Jahr für Afghanistan besser wird, ist schwer abzusehen. Eines ist jedoch sicher: Geschichte wiederholt sich, unabhängig davon, wie der Frühling verläuft. Die Berichterstattung über Afghanistan ist nicht nur eine journalistische, sondern auch eine Ressourcenfrage. Die Verantwortung, eine facettenreiche Realität zu begreifen und zu erfassen und Geschichten zu vermitteln, die den Reichtum und die Vielfalt des Landes und seiner Menschen einfangen, wird überproportional Journalist:innen auferlegt, welche kaum noch die Möglichkeit haben, gehört zu werden. Es ist ein mühsames Unterfangen, die schwierigen Wahrheiten von Konflikten und Kriegen anzuerkennen und gleichzeitig die Widerstandsfähigkeit und den Mut derer zu würdigen, die sie ertragen. Und es ist eine gewaltige Herausforderung, die Aufmerksamkeit auf ein Land zu lenken, das die Welt vergessen hat, und dabei die Fallstricke einer unterkomplexen Darstellung zu vermeiden.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.