Die Alevitische Gemeinde Deutschlands ist in Nordrhein-Westfalen nun als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Dass Alevit:innen diese Anerkennung in ihrem Herkunftsland nicht genießen, ist politisch gewollt, meint Cem Bozdoğan.
Im Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) wurde der Alevitischen Gemeinde Deutschlands (AABF) vergangene Woche Donnerstag durch den Landtag offiziell die Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Das bedeutet, der Verein darf von seinen Mitgliedern in NRW Steuereinzüge einfordern und profitiert gleichzeitig von finanziellen Vergünstigungen. Er darf nun in Gremien mitsprechen und ist Gemeinschaften wie der evangelischen oder der katholischen Kirche gleichgestellt. Durch den Körperschaftsstatus können Gebetshäuser, sogenannte Cemevleri (türkisch für Versammlungshäuser, auf Deutsch: Cem-Häuser) errichtet werden und Alevit:innen werden im deutschen Diskurs sichtbarer.
Die Alevitische Gemeinde war zuvor bereits als Religionsgemeinschaft anerkannt – dass ein alevitischer Verein jedoch zur Körperschaft des öffentlichen Rechts wird, ist in Deutschland ein Novum. Schätzungsweise 500.000 bis 800.000 Alevit:innen leben hier, der deutschlandweit aktive Dachverband mit Sitz in Köln zählt 24.000 Mitglieder in 160 Gemeinden. 50 von ihnen sind in Nordrhein-Westfalen.
Was zunächst wie eine nicht weiter bedeutsame und formelle Änderung scheint, ist für viele Menschen in Deutschland und in der Türkei revolutionär: Denn in der Türkei, wo die meisten Alevit:innen herkommen, ist das Alevitentum nicht einmal als Religionsgemeinschaft anerkannt. In der Türkei leben schätzungsweise 12,5 Millionen Alevit:innen, diese bilden ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung. Ihre Geschichte ist geprägt von Diskriminierung, Verfolgung und Genoziden. Bereits im Osmanischen Reich gab es regelmäßig Aufstände und Verfolgungsjagden auf alevitische Gruppen. In der heutigen Provinz Sivas wurde beispielsweise Pir Sultan Abdal, Vorbild in der alevitischen Lehre, erhängt, weil er sich gegen das Regime stellte. Die Liste der Ermordeten ist lang.
Auch mit dem Fall des Osmanischen Reiches und Gründung der Türkischen Republik Anfang der 1920er Jahre endete die blutige Ära der Alevit:innenverfolgung nicht. Eines der bekanntesten Massaker ist das Pogrom von Maraş, einer Provinz im Südosten des Landes, wo auch meine Eltern und Großeltern herkommen.
Faschist:innen konnten beliebig morden
Vor genau 42 Jahren verübten Anhänger:innen der rechtsnationalistischen Partei MHP und die ihr nahestehende Gruppe der Grauen Wölfe mehrere Angriffe auf alevitische Stadtviertel. Am 22. Dezember 1978 kam es zum Höhepunkt der Angriffe: Häuser von alevitischen Familien wurden markiert, Menschen aus ihrem Wohnraum gezerrt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Erst drei Tage nachdem Faschist:innen beliebig töten konnten, schickte die Regierung eine Armeeeinheit in die Provinz – viel zu spät. Menschen wie meine Eltern, Großeltern und ihre Geschwister mussten nach dem Maraş-Massaker fliehen und leben bis heute in der Diaspora. Die MHP und Anhänger:innen der Grauen Wölfe jedoch sitzen heute gemeinsam mit Erdoğans AKP in der Regierung.
Man könnte meinen, alevitische Glaubensgemeinschaften in der Türkei würden nach all dem, was ihnen widerfahren ist und immer noch widerfährt, eine Wiedergutmachung oder zumindest Anerkennung innerhalb der türkischen Mehrheitsgesellschaft verdienen. Ganz so ist es jedoch nicht: Dass die alevitische Gemeinde AABF in Nordrhein-Westfalen den Körperschaftsstatus erlangt hat, wird von Unterstützer:innen der türkischen Regierung scharf kritisiert.
Eine Zeitung titelte zum Beispiel, die Alevitische Gemeinde in Deutschland sei der verlängerte Arm der PKK. Eine fundierte Begründung, wieso das der Fall sei, liefert die Zeitung nicht. Vielmehr wird die Erklärung herangezogen, die einzelnen Gemeinden unter dem AABF-Dachverband würden keine Atatürk- oder Türkei-Fahnen in ihren Vereinen aufhängen. Dass der alevitische Verband in Deutschland zwischen Religion und Ethnie unterscheidet, ist in der Türkei tatsächlich ungewöhnlich – dort gibt es spätestens seit der Machtübernahme von Präsident Erdoğan und seiner AKP eine ethnisch-religiöse Synthese, die Minderheiten wie die alevitische in der so gestärkten türkisch-islamischen Mehrheitsgesellschaft regelrecht unsichtbar macht.
Politisch gewollte Assimilation
Weiterhin schreibt die Zeitung, die AABF sei Teil der westlichen Verschwörung gegen die Türkei. Das vom AABF in Deutschland praktizierte Alevitentum sei imperialistisch und würde Alevit:innen in der Türkei spalten wollen. Denn man sei sich einig: Auch Alevit:innen seien Teil des türkischen Islams, so ein Parteimitglied der nationalistischen Vatan Partei im Zuge der Diskussion um die Körperschaft. Wenn das so ist, frage ich mich, wieso in der osmanischen und türkischen Geschichte Alevit:innen zu Unrecht sterben mussten und heute immer noch verfolgt werden.
Es würde mir leichter fallen, solche Aussage zu ignorieren, wenn sie nicht aus der Mitte der Gesellschaft und der Politik kämen. 2012 forderte ein Abgeordneter der oppositionellen CHP einen alevitischen Gebetsraum im Abgeordnetenhaus in Ankara zu errichten. Das wurde abgelehnt mit der Begründung, Alevit:innen könnten auch in Moscheen beten. Die Frage der Finanzierung von alevitischen Cem-Häusern ist ein Dauerthema im türkischen Parlament – ohne dass eine der bisherigen Regierungen je eine Lösung bieten konnte. Währenddessen bauen AKP und MHP eine Moschee nach der anderen – nicht zu vergessen die historische Religionsstätte Hagia Sophia, die noch bis vergangenen Juli ein Museum war und nun wieder zu einer Moschee umgebaut wurde. Die Assimilation von Alevit:innen in die türkische-islamische Mehrheitsgesellschaft ist in der Türkei politisch gewollt.
Während türkische Politiker:innen den Körperschaftsstatus der Alevitischen Gemeinde kritisieren, gleichzeitig aber Alevit:innen für ihr großtürkisches Denken instrumentalisieren, wird die Minderheit immer noch verfolgt und schikaniert: Die Kommission für Völker- und Glaubensgemeinschaften der oppositionellen Partei HDP berichtete im vergangenen Oktober, dass die Häuser von Alevit:innen mit rassistischen Sprüchen beschriftet wurden. Im Grunde ist die Kritik an der neuen Körperschaft für Alevit:innen nichts Neues und enttarnt wieder einmal die faschistoide Staatsdoktrin in der Türkei: Dass Glaubensgemeinschaften, die wegen Verfolgung besonderen Schutz und Anerkennung verdienen, diese nur bekommen, wenn sie ihre Identität für die Mehrheitsgesellschaft aufgeben.