92,7 Prozent - so hoch ist der Anteil der KurdInnen, die am Montag in einem Referendum für die Unabhängigkeit der Kurdischen Autonomieregion vom irakischen Staat stimmten, bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent. Zwar sind die rechtlichen und politischen Konsequenzen des historischen Volksentscheids noch völlig offen, doch die Debatte um Vor- und Nachteile eines womöglich neugeschaffenen Nationalstaates unter den gegebenen Bedingungen tobt heftig. Viel zu wenig wird dabei jedoch gefragt, was die Unabhängigkeit für ökonomisch marginalisierte Gruppen wie die kurdischen BäuerInnen bedeutet.
Die Mehrheit der KurdInnen im Irak hat beim Referendum zur Unabhängigkeit Kurdistans am 25. September mit «Ja» gestimmt. Der derzeitige Präsident der kurdischen Autonomieregion im Irak, Masud Barzani, versprach den Menschen Freiheit, Selbstbestimmung und die Unabhängigkeit Kurdistans. Ein «Ja» zur Unabhängigkeit sei die Fortsetzung des kurdischen Befreiungskampfes gegen das mörderische Ba’ath Regime von Saddam Hussein. Nur ein «Ja» könne die MärtyrerInnen des kurdischen Befreiungskampfes endlich in Frieden ruhen lassen. Mit einem «Ja», so die kurdische Landeselite, würden die Menschen für ihre Selbstbestimmung und Unabhängigkeit eintreten. Damit sei es die Pflicht aller patriotischer KurdInnen, für das Referendum zu stimmen. Wer dies in Frage stellt, wird schnell als «VerräterIn» gebrandmarkt.
Wie aber wird diese Freiheit tatsächlich aussehen? Was zum Beispiel bedeuten Freiheit und Selbstbestimmung für die Zukunft der kurdischen BäuerInnen? Wie hat sich diese Freiheit unter der de-facto kurdischen Selbstverwaltung seit 1991 realisiert? Ein Blick auf die wirtschaftliche Situation Irakisch-Kurdistans verschafft Klarheit in der Frage der Freiheit für kurdische BäuerInnen. Einen ersten Eindruck von der kurdischen Wirtschaft bekommt man im Bazar der Stadt Dohuk. In einem Schuhladen erklärt mir der Verkäufer im Juni diesen Jahres:
Bestätigt wird diese Einschätzung auch durch offizielle Statistiken. Auch Grundnahrungsmittel werden nach Kurdistan importiert, und das trotz fruchtbarer Böden und einer stolzen agrarwirtschaftlichen Vergangenheit. Mesopotamien, das Land zwischen Euphrat und Tigris, zu dem auch Kurdistan gehört, gilt immerhin als erste Kornkammer der Welt. Heute kann man in den kleinen Gemüse- und Obstläden in Dohuk sehen, wie um 7 Uhr morgens Autos von der türkischen Grenze mit Gemüse auf der Rückbank in die Stadt kommen und Läden beliefern.
Nur wenn man Glück hat und gerade Saison ist, gibt es in den Städten Gemüse oder Obst aus regionalem Anbau zu kaufen, zum Beispiel Äpfel aus Barwari, einem Ort im äußersten Norden Irakisch-Kurdistans. «Weißt du, dass die Äpfel aus Barwari fast schon berühmt sind? Früher kamen alle unsere Äpfel aus Barwari. Was du hier siehst, ist die winzige Menge, die ich nach Dohuk transportieren konnte. Der Apfelbauer dort ist mein Freund. Stell dir vor, er saß unter den Apfelbäumen und musste mit ansehen, wie seine Äpfel auf den Boden fielen. Es gab niemanden, der sie alle aufheben und nach Dohuk transportieren konnte. Das wäre viel zu teuer. Also sind wir nun hier und essen türkische Äpfel. Keinen Geschmack haben diese Äpfel. Wir haben den wahren Geschmack unserer Äpfel vergessen ...»
In der gewaltvollen Geschichte Irakisch-Kurdistans wurden selbst unter der niedergeschlagenen kurdischen Revolution von 1975 noch 45 Prozent des Weizens für den Gesamtirak in Kurdistan produziert. Auch die Kriege, wie der Iran-Irak-Krieg (1980-1988) und die Anfal-Kampagne, die mit einem Giftgasanschlag gegen die kurdische Bevölkerung endete, konnte die Landwirtschaft nicht ganz lahmlegen. Mit den internationalen Sanktionen gegen den Irak wurde die noch verbleibende selbstversorgende Landwirtschaft spätestens seit 1996 weitestgehend unterbunden. 1996 begann das «Oil-for-Food Program», geleitet von den Vereinten Nationen, in dessen Rahmen Nahrungsmittelladungen nach Kurdistan geliefert wurden. Schon 1992 schreibt die Journalistin Lissy Schmidt in der Frankfurter Rundschau vom 28. Dezember 1992 aus Kurdistan:
Für kurdische BäuerInnen lohnt sich die Arbeit auf dem Feld und die eigene Produktion seitdem kaum noch. Mit dem Irakkrieg 2003 kam es schließlich zu einer Privatisierungswelle, die in vielen Bereichen keine selbstbestimmte wirtschaftliche Entwicklung mehr zuließ. Die kurdische Elite zeigte sich besonders freudig, die neue neoliberale Gesetzgebung zu implementieren. Für die BäuerInnen bedeutete dies nichts Gutes – so war eine Folge der Verlust ihrer Saatgut-Autonomie. Bis 2004 waren Tausende Getreidesorten angebaut worden, dann jedoch wurden auf Erlass vom Paul Bremer – damaliger Vorsitzender der CPA (Coalition Provisional Authority), also der US-Besatzungsregierung – Eigentumsrechte auf Saatgut eingeführt. US-Firmen wie Monsanto erhielten das Recht zur Verteilung und Produktion von Saatgut.
Die Nahrungsmittelsicherheit der KurdInnen und IrakerInnen war von nun an von multinationalen Konzernen abhängig. Die kurdische Regierung mag sich unabhängig von Bagdad sehen, doch die Abhängigkeiten haben sich nur verlagert. Die heutige landwirtschaftliche Abhängigkeit ist eine Kolonisierung aus der Ferne. Koloniale Akteure - wie eben saatgutproduzierende Unternehmen - müssen nicht im Land anwesend sein, um Profite zu extrahieren. Es ist die Zerstörung indigener landwirtschaftlicher Tradition zum Zwecke der Bereicherung der politischen und ökonomischen Eliten. Dies ist die Situation, in die die bisherige kurdische Regierungselite das kurdische Volk geführt hat.
Die derzeitige Situation ist Ausdruck einer systematischen Vernachlässigung einer zuvor zerstörten Agrarwirtschaft. Dies scheint jedoch sehr im Sinne der Regierungseliten zu sein, denn die Söhne der meisten BäuerInnen werden in den Sicherheitsdienst integriert. Damit ist ihre ökonomische Versorgung an die Parteieelite gebunden, die de facto die Gehälter auszahlt. Die verbliebenen BäuerInnen haben entweder Kinder, die sie unterstützen, oder bekommen eine Rente, die ihnen das Überleben sichert.
Es geht um handfeste ökonomische Interessen
Es ist jedoch nicht nur die politisch-ökonomische Dominanz der Türkei und des Iran, die verantwortlich ist für die fast totale ökonomische Abhängigkeit Kurdistans; die Hauptprofiteure in Kurdistan sind multinationale Ölkonzerne, die über die Ausbeutung der Ölressourcen den größten Profit machen. Denn es ist der Verkauf von Öl, der es der politischen Elite ermöglicht, ihre Politik, auch in der Landwirtschaft, durchzusetzen. Erbil verkauft seit einiger Zeit das Öl auf eigene Faust. Bagdad reagierte darauf, indem es Erbil die der Region zustehenden 17 Prozent des Staatshaushaltes nicht mehr zukommen lässt.
Das Referendum wurde deshalb auch durchgeführt, um die Regierung in Bagdad unter Druck zu setzten und die Verhandlungen weiterzutreiben, die bis dato keine Fortschritte gemacht haben. Hintergrund sind handfeste globale ökonomisch-politische Interessen, die auf einen einfachen Nenner zu bringen sind: Die Einnahmen der Ölressourcen Kurdistans gehen direkt an die politische Elite des Landes. Transparenz gibt es in diesem Fall nicht, auch weil das Parlament seit einiger Zeit außer Kraft gesetzt ist. Gleichzeitig erhalten die Menschen im «Staatsdienst» ihre Gehälter nur sporadisch.
Von der Ausbeutung der Ölressourcen gewinnen in diesem Fall multinationale Ölkonzerne und deren InteressenvertreterInnen in Irakisch-Kurdistan, also die politische Elite des Landes. Diese Regierungselite sah sich zuletzt mit einer zunehmenden öffentlichen Unzufriedenheit konfrontiert. Ein Mittel, die eigene Kontrolle über die Gesellschaft wieder zu stärken, ist es, an den kurdischen Nationalismus der Menschen zu appellieren. Der im Referendum zum Ausdruck gebrachte Nationalismus war im kurdischen Widerstand gegen diktatorische Staaten eine wichtige revolutionäre Ideologie. Heute wird er allerdings dazu genutzt, die kapitalistische Profitmaximierung multinationaler Ölkonzerne und deren kurdischen InteressenvertreterInnen zu verschleiern. In diesem Sinne verkauft die kurdische politische Elite ihrem Volk mit dem Referendum einen Topf voll Freiheit und Selbstbestimmung. Die Frage ist nur, was wirklich in diesem Topf enthalten ist? Vor einigen Monaten standen einige Bauern in Dohuk dem Referendum noch sehr skeptisch gegenüber:
Zwei Wochen vor dem Referendum änderte sich ihre Meinung, in dieser Zeit hingen bereits überall Plakate, die Freiheit versprachen und täglich gab es Versammlungen, Gesänge und Referendumskarnevale. Als VerräterInnen galten die, die für die MärtyrerInnen nicht mit «Ja» stimmen wollten. Die BäuerInnen stimmten schließlich nicht mit einem leidenschaftlichen «Ja» für das Referendum, wie sie es wohl nach der Revolution 1991 getan hätten. Sie stimmten mit «Ja» in der Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit. «Kann es denn schlimmer werden?» fragten sie. Betrachtet man die Erfahrungen anderer nationaler anti-kolonialer Befreiungskämpfe so scheint es, als wäre diese Frage zu bejahen. Es kann schlimmer werden.
Frantz Fanon, anti-kolonialer Befreiungsaktivist und Philosoph, analysierte schon 1961 in seinem Buch «Die Verdammten dieser Erde» die Frage der nationalen Befreiung. Nationale Befreiung allein habe demnach nie wirklich Freiheit gebracht. Vielmehr habe die nationale Führung, die vor der Befreiung stets die Würde des Volkes repräsentiert hatte, sich im Anschluss an die Unabhängigkeit gegen die Interessen des kolonisierten Volkes gestellt. Nach Fanon entwickelte sich die nationale Elite zu den neuen Kolonisatoren, deren Interessen sich mit denen der internationalen Eliten deckten.