08.02.2021
Landesweite Proteste in Tunesien 10 Jahre nach der Revolution
Demonstrant:in in Tunesien im Januar 2021. Foto: Ahmed Zarrouki
Demonstrant:in in Tunesien im Januar 2021. Foto: Ahmed Zarrouki

Seit Januar 2021 gehen wieder Tausende Tunesier:innen auf die Straße. Sie fordern das Ende der Korruption, die Freilassung inhaftierter Demonstrant:innen und Grundrechte. Kurz: die Umsetzung der Revolution von 2011.

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Es war am 14. Januar 2011, als Zine el-Abidine Ben Ali fluchtartig jenes Land verließ, das er mehr als 20 Jahre diktatorisch regiert hatte. Die tunesische Revolution hatte einen Etappensieg errungen. Auf den Tag genau zehn Jahre später, gehen seit dem 14. Januar 2021 wieder Tausende Tunesier:innen auf die Straße. Seither reißen die Demonstrationen trotz des harten Vorgehens der Sicherheitskräfte nicht ab.

Die Gründe für die Proteste sind vielfältig

Einer der Hauptauslöser der Revolution von 2010/2011 war die prekäre wirtschaftliche Lage Tunesiens. Aber durch das Ausbleiben des erhofften wirtschaftlichen Aufschwungs wandelte sich der revolutionäre Enthusiasmus in Frustrationen über den Stillstand um. Heute liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 36 Prozent (2010 lag sie bei 29 Prozent) und eine sich Anfang 2020 abzeichnende wirtschaftliche Erholung zerschlug die Coronakrise. Die Lage scheint für viele Tunesier:innen so aussichtslos wie nie. Ihrer Verzweiflung darüber bringen vor allem junge Menschen aus strukturschwachen Regionen zum Ausdruck, indem sie während der nächtlichen Ausgangsperre teilweise gewaltsam protestierten.

In diesem Klima des Frusts hat sich in den wirtschaftlich schwachen Städten Kasserine und Sidi Bouzid eine Bewegung entwickelt, die zum Ausgangspunkt der aktuellen Demonstrationen geworden ist. Wie auch 2011 ist es die wirtschaftliche Not, die der aktuellen Protestbewegung eine breite Anhängerschaft verschafft. Aber die Protestierenden verfolgen auch politische Ziele.

Die Bewegung richtet sich unter anderem gegen die Regierung und besonders gegen die islamistische Partei Ennahda, die stärkste Partei der aktuellen Regierungskoalition. Diese halten die Aktivist:innen verantwortlich für die seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise und die zahllosen Korruptionsskandale der politischen Elite.

Seit dem Beginn der Proteste am 14. Januar 2021 wurden laut Human Rights Watch 1540 Menschen festgenommen. Darunter sind nicht nur Demonstrant:innen, sondern auch Menschen, die ihre Solidarität mit der aktuellen Bewegung in den sozialen Netzwerken ausdrückten. Die Freilassung der Inhaftierten ist mittlerweile selbst zu einem zentralen Ziel der Proteste geworden.

 Hannah Jagemast

Das Ennahda-Mitglied Radwan Masmoudi sagte diesbezüglich in TRT World vergangene Woche: „Wir leben in einer Demokratie und da gibt es keine Revolution. Wenn ihr friedlich demonstriert, beschützen wir euch, wenn ihr aber Gewalt anwendet, werden wir euch festnehmen. So funktioniert Demokratie.“ Außerdem verglich Masmoudi eine der jüngsten Demonstrationen, die am 26. Januar 2021 zum Parlamentsgebäude in Tunis führte, mit dem Sturm auf das Kapitol in den Vereinigten Staaten und rechtfertigte so die gewaltsame Reaktion der Polizei. Bereits am 18. Januar kam bei Auseinandersetzung zwischen Polizei und Protestierenden in Kasserine ein Demonstriender ums Leben.

Ein weiterer Skandal, der die Proteste anheizt, ist die Verurteilung dreier Jugendlicher am 29. Januar zu 30 Jahren Haft wegen Cannabiskonsums. Die gesetzliche Grundlage bildet das Gesetz 52, das den Konsum von Drogen kriminalisiert und mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft. Allerdings stammt dieses Gesetz noch aus der Ära des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali. Normalerweise liegt das Strafmaß für Cannabiskonsum bei fünf Jahren Haft.

Am vergangenen Freitag unterzeichneten 66 zivilgesellschaftliche Organisationen, die an den Protesten beteiligt sind, einen Katalog mit Forderungen an die Regierung.  Sie verlangen darin ein Ende der Polizeigewalt, die Aufhebung des Gesetzes 52, die Untersuchung der Umstände, die zum Tod des Demonstrierenden in Kasserine führten, die sofortige Freilassung der inhaftierten Aktivist:innen und Wiederherstellung der Meinungsfreiheit.

Kampf um mediale Aufmerksamkeit

Die etablierten Medien zeigen sich bisher eher unbeeindruckt von der Protestwelle und schenken den Geschehnissen wenig Aufmerksamkeit. Dennoch gibt es einige Journalist:innen, die darüber berichten. Dazu gehört Haythem El Mekki, der unter anderem für den Radiosender Mosaique FM arbeitet.

El Mekki trug vergangene Woche im Nachmittagsprogramm ein sarkastisches Gedicht über die aktuelle Lage vor, inklusive Live-Einspielungen von Protestliedern aus Sfax. Der Beitrag von Mekki verbreitete sich rasant auf Facebook. Nawaat, ein Online Magazin, das schon die Revolution von 2010/11 begleitet hatte, berichtet ausführlich und kontinuierlich über die Lage.

 Hannah Jagemast

Aber auch die Aktivist:innen selbst teilen ihre Informationen untereinander, posten Fotos von ihren Verletzungen durch Tränengas oder teilen Beiträge von engagierten Journalist:innen. Auf Facebook umrahmen mittlerweile viele Menschen ihr Profilbild mit einem Banner, das zur Änderung des Gesetzes 52 und der Strafverfolgung von Cannabiskonsum aufruft.

Die Wiederbelebung der Revolution

Einer von jenen, die dieser Tage regelmäßig zum Demonstrieren auf die Straße gehen, ist der 36-jährige Hamma Gammara. Er schloss sich der Bewegung an, weil sie versucht, politische und zivilgesellschaftliche Arbeit neu zu denken, berichtet er. Ein Neustart also. Trotz des breiten Zulaufs der Proteste, gibt es innerhalb der Gesellschaft Vorbehalte. Die Studentin Karma Habli aus Sfax etwa betrachtet das Geschehen vorerst aus der Distanz: „Das Problem ist, dass die Menschen auf der Straße nicht wissen, was sie wirklich wollen. Sie haben unterschiedliche Botschaften. Manche sind für Pluralismus und gegen die islamistische Partei, manche protestieren aus wirtschaftlichen Gründen und andere wegen der Polizei“, sagt Habli gegenüber dis:orient.

 Hannah Jagemast

Trotz unterschiedlicher Zielvorstellungen versammelten sich am vergangenen Samstag, dem 6. Februar, erneut mehrere Hundert Menschen in Tunis. Dazu hatte diesmal auch der einflussreiche Gewerkschaftsbund UGTT aufgerufen und sorgte somit für eine breitere gesellschaftliche Teilhabe an den Protesten.

Die Polizei verweigerte gezielt jungen Demonstrant:innen den Zugang zur Avenue Habib Bourguiba, wo der Demonstrationszug enden sollte. Der 6. Februar ist für die tendenziell liberal-säkular eingestellte Bewegung ein symbolträchtiger Tag: 2013 wurde auf den Tag genau der Politiker Chokri Belaid ermordet. Er hatte sich im tunesischen Transitionsprozess für die Trennung von Religion und Staat eingesetzt.

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Redigiert von Jennifer Kleemann, Anna-Theresa Bachmann, Maximilian Menges