08.07.2017
Gentrifizierung in Istanbul: Es war einmal ein Ort der Vielfalt
Das Tarlabaşı-Viertel in Istanbul: Bauarbeiten in vollem Gange. Foto: Carolina Drüten
Das Tarlabaşı-Viertel in Istanbul: Bauarbeiten in vollem Gange. Foto: Carolina Drüten

Istanbul ist Schauplatz einer aggressiven Stadterneuerungspolitik. Steigende Immobilienpreise im Zentrum drängen einkommensschwache Familien an den Stadtrand. Die ursprünglichen Einwohner der gentrifizierten Viertel sind die Verlierer urbaner Projekte – Istanbul entwickelt sich mehr und mehr zu einer Stadt für die Reichen.

Die Grenze zwischen Arm und Reich ist in Istanbul eine sechsspurige Straße. Auf der einen Seite strömen Fußgänger mit Einkaufstüten von einem Geschäft ins nächste. Bekannte Marken haben hier ihre Filialen, die İstiklal Avenue ist Istanbuls vielleicht berühmteste Einkaufsmeile. Nur wenige hundert Meter entfernt liegt Tarlabaşı, ein längst vergessenes Viertel der Stadt. Von den Fassaden bröckelt der Putz, die Außenmauern der Häuser sind mit Graffiti besprüht. Kinder rennen barfuß durch die steilen Gassen. Ihre Mütter haben Teppiche auf der Straße ausgebreitet und schrubben den Schmutz mit Seifenwasser heraus. Zwischen den Häusern haben die Bewohner Wäscheleinen gespannt. Bunte Pullover und violette Bettlaken baumeln über den Köpfen der spielenden Kinder. Dazwischen hängt eine Leine mit weißer Kochwäsche. Tarlabaşıs Bewohner ergeben zusammen eine Mischung, die so bunt ist wie ihre Wäsche: Kurden, Griechen, Armenier, Roma, Juden und LGBTI leben hier Tür an Tür. Die meisten von ihnen sind arm, aber zum Leben hat es irgendwie gereicht – bis Investoren ein Auge auf die Gegend warfen.

Nun trennt ein Wellblechzaun einen Teil des Viertels ab. Dahinter verbirgt sich eine Großbaustelle, gut vor neugierigen Blicken geschützt. An einer Stelle hat jemand ein Loch in den Zaun gerissen, wer hindurchspäht, sieht Bagger, Kräne und Metallrohre. „Taksim 360“ ist das erste Stadterneuerungsprojekt seiner Art in der Türkei. Auf 20.000 Quadratmetern, einer Fläche so groß wie zweieinhalb Fußballfelder, entstehen Wohnhäuser und Büros. In die Erdgeschosse der Gebäude sollen Geschäfte, Kunstgalerien und Restaurants einziehen.    

 Carolina Drüten Visionen eines neuen Tarlabaşı im Modell: Geschäfte, Hotels, Restaurants. Foto: Carolina Drüten

Viele der Häuser in der Erneuerungszone stehen dort seit mehreren Jahrhunderten. „Wir restaurieren alle Gebäude mit historischem Wert“, sagt Berrak Özoltu, die für das Projekt Kunden anwirbt. Der Rest wird abgerissen und neu gebaut. Zum Jahresende sollen die ersten Büros fertig sein, potentielle Mieter können sich schon jetzt im „Taksim 360“-Büro vormerken lassen. „Es ist ein soziales Projekt“, sagt Özoltu. „Es lässt die einzigartige Geschichte der Gegend wieder aufleben.“

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sieht man die Sache anders. „Diese ganzen Versprechungen sind nichts als Lüge“, sagt Haluk Ağabeyoğlu von der türkischen Oppositionspartei HDP, die sich vor allem für Minderheiten einsetzt. „In Wirklichkeit zerstören sie doch die Geschichte.“ Das örtliche Parteibüro liegt mitten in Tarlabaşı, ist aber von den Bauarbeiten nicht betroffen. Ağabeyoğlu weiß, wie lukrativ Wohnbauprojekte in der Stadtmitte sind. Rund um den zentralen Taksim-Platz sind die Immobilienpreise hoch. „Aber der wahre Wert der Gegend, das sind doch die Menschen, die hier leben“, sagt er.  

 Carolina Drüten HDP-Politiker Haluk Ağabeyoğlu vor seinem Büro in Tarlabaşı: „Sie zerstören die Geschichte.“ Foto: Carolina Drüten

Soziale Beziehungen werden zerstört

Die Bewohner von Tarlabaşı spüren schon jetzt die Auswirkungen der Stadtteilerneuerung. „Für die Menschen hier sind die Beziehungen zu ihren Nachbarn unheimlich belebend“, sagt Ebru Ergün. Die Psychologin arbeitet für das gemeinnützige Tarlabaşı-Gemeindezentrum. „Gerade in den Sommermonaten saßen die Menschen immer vor ihren Häusern und haben bis tief in die Nacht Tee getrunken.“ Doch mittlerweile mussten viele Anwohner wegziehen – sei es, weil sie im Erneuerungsgebiet wohnten, oder weil sie die hohen Mieten nicht mehr bezahlen konnten. Denn durch das Projekt wird ganz Tarlabaşı aufgewertet: Investoren kaufen zunehmend Gebäude, die sich nicht in der umzäunten Zone befinden. Sie setzen darauf, dass das Viertel nach Abschluss des Projekts auch außerhalb des abgezäunten Gebiets an Beliebtheit gewinnt. „Die Gentrifizierung in Tarlabaşı ist in vollem Gange“, sagt Ergün.

In der Zwischenzeit haben sich Drogenhändler und Sexarbeiter in den leerstehenden Häusern niedergelassen. Hier können sie ungestört ihren Geschäften nachgehen – zumindest, bis das Gebäude abgerissen wird. „Die verbliebenen Bewohner fühlen sich nicht mehr sicher“, sagt Ergün. Heute trinkt in lauen Nächten niemand mehr auf der Straße Tee.

Familien, die ihre Wohnungen wegen der Bauarbeiten verlassen mussten, finden nur schwer eine neue Unterkunft in Tarlabaşı. Schuld daran sind steigende Preise. So wie Müzeyyen und İhsan[1] mit ihren drei Kindern, die von einem bescheidenen Einkommen leben. Bisher hat es für die fünfköpfige Familie gereicht. Jahrelang wohnten sie in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Bad und Küche. Als die Bagger kamen, mussten sie fort. Für dasselbe Geld eine gleichwertige Wohnung in Tarlabaşı zu mieten, erwies sich als unmöglich. Nun leben sie in einer Einzimmerwohnung im Keller – zu fünft. Schmale Oberlichter beleuchten den Raum nur dürftig, Bad und Küche sind Gemeinschaftsräume, die sich die Familie mit anderen Hausbewohnern teilt. Für das Zimmer zahlen Müzeyyen und İhsan mehr, als sie für ihre ehemalige Wohnung aufbringen mussten.

Um das Einkommen der Familie aufzustocken, hat Müzzeyen einen Job angenommen. Sie putzt jetzt Toiletten in einem Nachtclub, bis fünf Uhr morgens. „Sie kann nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, weil sie die ganze Zeit arbeitet“, sagt Ergün. „Aber ihre Nachbarn sind ohnehin fort.“  

 Carolina Drüten Tarlabaşı: „Der wahre Wert der Gegend sind die Menschen, die hier leben.“ Foto: Carolina Drüten

Lukrative Aufträge für Erdoğans Günstlinge

Während die ehemaligen Bewohner um ihr Überleben kämpfen, laufen die Bauarbeiten in Tarlabaşı auf Hochtouren. Die zwei Baufirmen Gap İnşaat und Çalık Gayrimenkul sind mit dem Projekt betreut. Sie gehören zur Çalık Holding, einem Unternehmen, das für seine enge Allianz mit der Regierungspartei AKP und Präsident Recep Tayyip Erdoğan bekannt ist. Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak selbst war Geschäftsführer der Holding, bevor er in die Politik ging und unter der AKP Minister für Energie und Rohstoffe wurde.

Dass es oft regierungsnahe Firmen sind, die lukrative Aufträge gewinnen, ist gängige Praxis in der Türkei. Ende 2013 tauchten Mitschnitte von vorgeblich polizeilichen Überwachungsaufnahmen im Internet auf. Sie belasteten hochrangige AKP-Regierungsbeamte und Vertreter der freien Wirtschaft, in einen Korruptionsskandal enormen Ausmaßes verwickelt zu sein. Auch der damalige Premierminister Erdoğan war auf den Mitschnitten zu hören, er selbst jedoch bezeichnet die Aufnahmen als gefälscht.

Auf einem der Tonbänder unterhalten sich zwei Männer, mutmaßlich Erdoğan und Ahmet Haluk Karabel, ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender der staatlichen sozialen Wohnungsbaubehörde in der Türkei (TOKI). Erdoğan rügt Karabel dafür, ein wertvolles Grundstück in Istanbul verkauft zu haben, ohne vorher seine Erlaubnis einzuholen. Wenig später musste Karabel das Unternehmen verlassen.

Erdoğan konnte den Korruptionsvorwürfen ausweichen, indem er die Affäre einen versuchten Umsturz nannte, initiiert von seinen politischen Gegnern. Es folgte eine Welle von Entlassungen in der türkischen Justiz. Der Skandal wurde nie aufgeklärt.

Gerichtsentscheidungen bleiben folgenlos

Für Betroffene von Stadtmodernisierungsprojekten ist es schwierig bis unmöglich, gegen radikale Erneuerungsmaßnahmen vorzugehen – denn die Anordnung solcher Projekte kommt oft von ganz oben. Staatlich gelenkte Gentrifizierung sei zwar nicht allein ein türkisches Phänomen, erklärt Defne Kadıoğlu Polat vom Istanbul Policy Center (IPC). „Allerdings passiert Gentrifizierung in der Türkei auf eine besonders direkte, eine sehr aggressive Art.“

Das mussten auch die Bewohner von Sulukule erfahren. Der Stadtteil liegt im historischen Teil Istanbuls und galt als ältestes Roma-Viertel der Welt. Seit über tausend Jahren hatten Sinti und Roma hier gesiedelt. Heute erinnert nichts mehr an die geschichtliche Bedeutung des Ortes. Stattdessen stehen identisch aussehende Wohnhäuser aneinandergereiht, vor ordentlichen Vorgärten parken Mittelklassewagen.

Das Gentrifizierungsprojekt hat das arme, aber lebhafte Roma-Viertel in eine gepflegte Wohnsiedlung verwandelt. Es gilt in türkischen Medien als eines der umstrittensten Stadtteilerneuerungsprojekte in Istanbul, schreibt etwa die Tageszeitung Hürriyet Daily News. Die Gemeinde versuchte, rechtlich gegen die Baupläne vorzugehen – zunächst mit Erfolg. Das Gericht ordnete einen Baustopp an. Doch ungeachtet des Urteils gingen die Bauarbeiten weiter.

Nach einer Reihe von Zwangsräumungen und Enteignungen mussten die ursprünglichen Bewohner ihr Viertel endgültig verlassen. Manche von ihnen wurden umgesiedelt. Sie wohnen nun 40 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in Hochhaussiedlungen der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKI. Anders als den Einwohnern Sulukules boten die Behörden den Menschen in Tarlabaşı keine Umsiedlung an.  

 Carolina Drüten Seitenstraße der İstiklal Avenue, Banner: Beyoğlu erneuert Wege und Straßen. Foto: Carolina Drüten

Istanbul: Eine Stadt für die Reichen

Durch die zahlreichen städtischen Erneuerungsprojekte und die steigenden Hauspreise werden einkommensschwache Familien zunehmend in die Vorstädte gedrängt. Istanbuls Zentrum dagegen ist den wohlhabenden Bürgern vorbehalten. „Bisher hat sich die Polarisierung der Gesellschaft nicht so sehr auf den Raum niedergeschlagen“, sagt Kadıoğlu Polat. „Doch das ändert sich jetzt.“

Eine solch räumliche Trennung entlang der Klassenlinien birgt Gefahren für das Zusammenleben der Menschen. Wie beispielsweise in Paris, wo in den Banlieues am Stadtrand eine hohe Arbeitslosigkeit, Kriminalität und ein schwacher Bildungsstand herrschen.

Auch ändere das Leben in peripheren Hochhaussiedlungen die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen, so Kadioglu Polat. „Die Anonymität steigt. Die Leute fühlen sich unsicher, sie schließen ihre Haustüren ab“, sagt die Politikwissenschaftlerin. „Und die Spontaneität geht verloren, die eigentlich charakteristisch für das Istanbuler Stadtleben ist.“

Selbst Präsident Erdoğan sieht die vielen TOKI-Hochhaussiedlungen kritisch, wenn auch aus anderen Gründen. Auf einer Konferenz des türkischen Umwelt- und Stadtplanungsministeriums im Januar sagte er: „Diese hässlichen Gebäude aus Beton, Eisen und Ziegelsteinen haben begonnen, unsere Städte zu besetzen, unsere Flüsse und selbst unsere Küsten.“ Das berichtete Hürriyet Daily News. Statt „westlicher Standardisierung“, wie Erdoğan es nannte, brauche die Türkei eine Art der Architektur, die zur Kultur und Geschichte des Landes passe. Zugleich verteidigte er Gentrifizierungsprojekte. Urbane Umgestaltung rette türkische Städte „vor der Invasion von Slum-ähnlichen Strukturen“, so Erdoğan.

Auch der türkische Premierminister Binali Yıldırım spricht sich für städtische Erneuerung aus. „Mit jeder Investition schaffen wir neue Geschäftsbereiche. Wir schaffen neue Beschäftigungsfelder“, sagte er bei der Eröffnung eines Umbauprojekts in Fikirtepe, Kadıköy, auf der asiatischen Seite Istanbuls. Solche Projekte würden die Lebensqualität der Einwohner verbessern, fügte er hinzu.

Angesichts der kompromisslosen Haltung der Regierung, was die Stadtplanung betrifft, regte sich bereits Widerstand. Im Spätfrühling 2013 protestierten tausende Istanbuler in den berühmten Gezi-Demonstrationen. Die Aktion hatte sich ursprünglich gegen den Plan der Behörden gerichtet, den zentral gelegenen Gezi-Park in ein Einkaufszentrum umzuwandeln. Er ist einer der letzten öffentlichen grünen Plätze auf der europäischen Seite der Stadt. Bald jedoch breitete sich die Protestbewegung aus und wurde zum Symbol des Widerstands gegen Polizeigewalt und den autoritären Regierungsstil Erdoğans.

Eigene Darstellung. Grafik: Grünflächen in Städten im internationalen Vergleich. Eigene Darstellung.

 

„Die Gezi-Bewegung hat den Schutz von öffentlichem Raum und das Recht auf Stadt mehr ins Bewusstsein der Menschen gerückt“, sagt die Politikwissenschaftlerin Kadıoğlu Polat. „Aber jetzt gucken die Leute zuerst auf die eigene Tasche und setzen sich weniger für postmaterielle Werte ein.“

Geldprobleme und Krieg treiben Menschen nach Istanbul

Trotz der Schwierigkeiten, mit denen einkommensschwache Familien in Istanbul zu kämpfen haben, versuchen Menschen aus weniger gut entwickelten Teilen der Türkei weiterhin ihr Glück in der Metropole. „Wenn die Regierung gleichermaßen in alle Regionen des Landes investieren würde, würde das die Landflucht ein Stück weit stoppen“, sagt Haluk Ağabeyoğlu, der HDP-Politiker. „Die Leute kommen ja nicht nach Istanbul, weil sie unbedingt wollen, sondern weil sie in ihren Heimatdörfern nicht ihren Lebensunterhalt verdienen können.“  

 Türkisches Statistikinstitut, September 2016. Jährliches Durchschnittseinkommen in der Türkei nach Region. Quelle: Türkisches Statistikinstitut, September 2016.

 

Das betrifft vor allem die kurdische Bevölkerung, die im Südosten der Türkei unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen lebt. Seit der Waffenstillstand zwischen dem türkischen Militär und kurdischen Militanten im Sommer 2015 scheiterte, kämpft die Armee dort gegen ihr eigenes Volk. Die Kämpfe ließen viele Gebiete, wie etwa die Stadt Cizre, völlig zerstört zurück.

„Nachdem ihre Dörfer niedergebrannt wurden, kamen einige Kurden nach Tarlabaşı. Und nun werden sie schon wieder vertrieben“, sagt Ebru Ergün, die Psychologin vom Tarlabaşı-Gemeindezentrum. „Sie fühlen sich überall unerwünscht.“

Auf die Frage hin, wie städtische Erneuerungsprojekte das Stadtbild Istanbuls verändern, wirkt Ergün entmutigt. „Was die Behörden dieser Stadt antun, ist dauerhaft und unwiderruflich. Es ist unverzeihlich“, sagt sie. „Sie löschen die Erinnerung der Stadt aus.“ Gerade in Tarlabaşı habe ein einzigartiges Flair geherrscht, so Ergün. Doch die Zeiten seien vorbei.

„In zehn Jahren wird sich niemand mehr an diesen Ort erinnern.“

 

Fußnote:

[1] Namen geändert.

 

Hinweis:

Alsharq e.V. wird zwischen September und November eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Urbaner Naher Osten“ abhalten. Themen werden sein: Iran, Kurdistan, Ägypten und Israel/Palästina. Mehr dazu in Kürze auf www.alsharq.de

Artikel von Carolina Drüten