31.07.2014
"Eine Bankrotterklärung für den Journalismus" – Christoph Reuter zu Berichterstattung zu Syrien
C. Reuter in Nord-Syrien im Sommer 2012 (Foto: privat)
C. Reuter in Nord-Syrien im Sommer 2012 (Foto: privat)

Spiegel-Korrespondent Christoph Reuter berichtet im Gespräch mit Alsharq en Detail über die Schwierigkeiten der Berichterstattung und Recherche zu Syrien sowie die Herausforderung, mit dominanten Diskursen zu brechen. Angesichts der mangelnden Differenzierungsbereitschaft in der Medienlandschaft sei die deutsche Berichterstattung zu Syrien gescheitert.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Journalismus-Serie. Alle Texte finden Sie hier.
Christoph Reuter ist mehrfach ausgezeichneter Autor und Nahostkorrespondent des SPIEGEL. Er hat als Kriegsberichterstatter aus Afghanistan und Irak berichtet. Zurzeit lebt er in Beirut und hat in den vergangenen Jahren regelmäßig aus Syrien berichtet.

Alsharq: Du bist seit Kriegsbeginn mehrmals nach Syrien gereist. Wie bereitest Du Dich auf die Aufenthalte vor?

Christoph Reuter: Ich mache diese Arbeit seit 20 Jahren. Die jüngste Reise nach Syrien war die 14. seit Beginn der Revolution. Deswegen brauche ich keine besondere mentale Vorbereitung mehr. Ich kontaktiere nüchtern die wichtigen Gruppen der Gegend, in die wir gehen wollen, und kläre, wie sich die Lage gestaltet, ob es überhaupt Leute gibt, die wir besuchen können, und was für Gefahren lauern.

Welche Gefahren meinst Du?

Ist das Dorf menschenleer, weil es bombardiert wurde? Befinden sich dort ISIS-Milizionäre? [ISIS benannte sich mittlerweile in IS, Islamischer Staat, um, Anm. d. Red.] Solche Fragen müssen im Vorfeld geklärt sein, damit einem nicht das Gleiche wie Anthony Loyd passiert, der von denselben Rebellen entführt wurde, die ihn früher beschützt hatten. Es gibt kriminelle Gruppen, die nach Ausländern Ausschau halten.

Daneben gibt es technische Überlegungen: Wo können wir bleiben, wer schützt uns im Zweifelsfall? Gib es irgendeine Katiba [dt. Bataillon], auf die wir uns verlassen können? Wer fährt, oder wer fährt von wo bis wo? Bis wohin können wir mit Person X fahren und dort auch übernachten, mit wem fahren wir weiter? Wo können wir vermutlich hin?

Wie geht es weiter, wenn all diese Vorbereitungen getroffen sind?

Dann kommt die Feinplanung. Wer holt uns an welchem Grenzübergang wann ab, und zwar ganz genau: am hinteren Parkplatz links, an dem und jenen Häuschen. Sodass wir aus dem ersten Auto aussteigen, ins andere Auto einsteigen und nicht länger als zwei, drei Sekunden draußen und somit auch fast nicht zu sehen sind. Gerade an Grenzübergängen muss man so arbeiten, denn dort werden Leute ausgespäht.

Zudem klärt man noch kuriose Details, etwa ob man eine schusssichere Weste mitnimmt oder nicht.

Warum ist das eine Frage? Immerhin reist man ins Kriegsgebiet.

Schusssichere Westen sind zum Beispiel im Libanon illegal und gelten als Militärgut. Man darf sie weder ein- noch ausführen. Das Gleiche gilt für Satellitentelefone.

Wir müssen grundsätzlich abwägen, ob es sich lohnt, Dinge mitzunehmen, die uns vielleicht schützen, aber die auch mehr Gewicht bedeuten. Selbst wenn wir drei Wochen im Einsatz sind, sollte das Gepäck nur so schwer sein, dass man es rennend noch tragen kann.

Wenn ich weiß, dass ich nicht nach Aleppo gehe oder in andere Gegenden, wo Kämpfe stattfinden, dann brauche ich keine Weste. Für die letzte Recherche waren Westen weniger wichtig. Uns interessierten dieses Mal vor allem die Machtstrukturen und die Frage, wie sich die Leute organisieren.

Bei Deiner Arbeit bist Du auf vertrauenswürdige Personen angewiesen. Manchmal schlaft ihr auch bei Leuten von der islamistischen al-Nusra-Front. Wie unabhängig und ausgewogen berichtet man unter solchen Umständen?

Es war leichter, mit Leuten von Jabhat al-Nusra als zum Beispiel mit der PKK unterwegs zu sein, weil sie nicht den Anspruch hatten, einen zu kontrollieren. Wir konnten mit verschiedenen Personen reden, während die PKK ein komplettes Besucherprogramm organisiert hatte. Bei der PKK wird man betreut und zwar 24 Stunden am Tag. Man übernachtet bei ihnen und sie kommen überall mit hin. Sie entscheiden, was man machen kann. Und wenn man sagt, dass man gerne mal was anderes machen würde, dann heißt es, dass es schwierig sei. Unter diesen Umständen haben wir weitaus weniger mitbekommen von der wirklichen Lage und den Fragen, die uns eigentlich interessiert haben – etwa, ob es eine kurdische Opposition in Kobani gibt. Und selbst wenn wir die Opposition getroffen haben, haben sie sich nicht getraut, mit uns offen zu sprechen, da durchgehend jemand von der PYD, dem syrischen Ableger der PKK, dabei saß.

Das ist der Alltag beim Recherchieren in Diktaturen. In den befreiten Gebieten hat man normalerweise den Vorteil, dass egal mit wem man unterwegs ist – sei es die Freie Syrische Armee (FSA) oder Jabhat al-Nusra – sie zu neu, amateurhaft oder auch desinteressiert sind, uns zu kontrollieren. Davon abgesehen sind wir ja immer mit unterschiedlichen Gruppen unterwegs. Wir gehen mit einer bestimmten Gruppe rein, übernachten bei einer anderen und fahren weiter zu neuen Leuten.

Warum wechselt Ihr so oft die Begleiter?

Nach zehn bis zwanzig Kilometern wechselt man zu einer anderen Gruppe, die dort die Wege besser kennt, denn die Wege ändern sich teilweise Tag für Tag. Nur die lokalen Gruppen wissen, wo zum Beispiel die Bebauung nicht mehr steht und deswegen die Scharfschützen von einem Regimecheckpoint 800 Meter weiter reinschießen können. Deswegen muss man – obwohl die Straße ansonsten sicher ist – von der Straße abfahren und einen anderen Weg nehmen, um die Sichtachse zu umgehen. Das ist, was dem ARD-Korrespondenten Jörg Armbruster widerfahren ist: Einmal an einem Kreisel falsch abbiegen, 100 Meter fahren und man kann froh sein, wenn man mit zwei Schusswunden überlebt.

Dabei erfährt man vermutlich auch vieles aus dem Innenleben der einzelnen Fraktionen?

Wir verbringen schon sehr viel Zeit jenseits der journalistischen Gespräche, wenn wir abends mit den Gruppen zusammen sitzen. Die Leute reden. Sie haben keine Parteidisziplin. Sie ärgern sich über ihren Anführer, über die andere Katiba, über den Stadtrat, über ihre Verwandten. Sie streiten sich. Man bekommt das reale Leben mit.

Was heißt das, das reale Leben?

Letzten August haben wir in Salkin in der Provinz Idlib für eine Woche im Hauptquartier einer Katiba gewohnt. Dort sahen wir, wie scheidungswillige Frauen, Unfallpartner, jeder, der irgendeinen Konflikt hatte, im Hauptquartier auftauchte und von dem Befehlshaber dieser kleinen Katiba verlangte, die Konflikte zu lösen. Er sollte etwa sagen, wer die Schuld an diesem oder jenen Unfall hatte. Er war völlig überfordert und tierisch genervt, dass er sich mit Bremsspuren, häuslicher Gewalt und all dem auseinandersetzen musste. Aber alle empfanden ihn eben als die wichtigste Autorität, da sie nicht zum Scharia-Gericht gehen wollten, welches von ISIS kontrolliert wurde. Der Befehlshaber hingegen war von vor Ort, die Menschen kannten ihn – den anderen trauten sie nicht, da sie glaubten, sie seien tunesische Dschihadisten.

Wie gehst Du bei Deiner Recherche mit dem Thema der Ausgewogenheit um?

Ausgewogenheit ist zu einem Placebo-Begriff geworden. Journalismus heißt ja nicht, dass ich nur Version a und dann b höre und dann gleichwertig präsentiere. Sondern es heißt, dass ich mir alle Versionen anhöre und dann versuche herauszufinden, was wirklich passiert ist. Manchmal gibt es ja auch nicht nur Version a und dann b, sondern noch c, d, e. Oder es gibt nicht einmal einander widersprechende Versionen, weil ja nicht mal klar ist, worum sich die Versionen drehen. Sondern es gibt eine Wirklichkeit, von der wir gar nicht wissen, wie sie aussieht. Hierfür bekommen wir ein gewisses Gefühl, indem wir neben dem, was wir wissen wollen, uns einfach treiben lassen. Man muss so viel Zeit wie möglich mitbringen und offene Ohren haben.

Unter den Syrer_innen herrscht Ernüchterung über die Position des „Westens“, der nicht eingeschritten ist. Ich kann mir vorstellen, dass nicht jede/r glücklich ist, einen ausländischen Journalisten zu treffen. Warum aber helfen Dir die Leute?

Sie tun das zum einen, weil wir sie bezahlen. Leute, mit denen wir öfter unterwegs sind, bekommen im Schnitt pro Tag um die 150 Dollar und wir bezahlen zudem für das Auto und Benzin. Das ist moderat, wenn man bedenkt, was einige Fixer an der Grenze verlangen. Aber für einen Syrer, der sonst kein Einkommen mehr hat, ist das relativ gut. Wir fahren wenn möglich immer wieder mit denselben Leuten. Es gab eine Zeit, da waren die Leute extrem desillusioniert und fast wütend, wenn wir kamen. Weil sie meinten, die Berichterstattung bringe Hilfe und Veränderung. Dem war nicht so. Bei meinem letzten Besuch,  nachdem sich acht Monate keine Journalisten reingetraut hatten, war eher wieder Freude darüber zu spüren, dass überhaupt noch jemand kommt, dass man nicht vergessen und alleine gelassen wird – auch wenn sie nicht unbedingt von dem profitieren, was wir tun. Doch ich denke, dass es letztlich auch im Interesse der Syrer vor Ort ist, wenn wir in Gefahrenzonen gehen, um etwa über die Gasangriffe zu berichten, von denen das Regime sagt: „Das waren die Terroristen“.

Wie ist mit dem Phänomen des Bürgerjournalismus? Jene, die am Anfang mit ihrer Handykamera gefilmt haben, aber inzwischen professionellere Strukturen entwickelt haben, weil sie geschult wurden und nun auch das richtige Equipment haben. Kommst du mit denen in Berührung? Gibt es da besondere Formen der Solidarität?

Nein. Wir treffen sie gerne. Oft haben sie etwas gefilmt, was wir nicht haben, weil wir nicht da waren, als es passiert ist. Insofern sind es wertvolle Dokumente. Aber für die Verwertung müssen wir den Kontext verstehen, indem wir noch weitere Aufnahmen sehen, die vorher und nachher entstanden sind. Wir müssen die Möglichkeit ausschließen können, dass diese Aufnahmen gestellt wurden, müssen garantieren, dass sie an diesem oder jenen Tag entstanden sind.

Deshalb treffen wir die Filmer und reden mit ihnen. Manchmal geben sie uns Filmaufnahmen umsonst, manchmal bezahlen wir dafür, weil es ihre Arbeit ist. Es gibt in dem Zusammenhang viele Probleme: Zwar filmen die Leute zum Teil besser als vorher. Doch gibt es viele Aktivisten, die den Regimemedien ähnlich ihrerseits übertreiben und fälschen. Für präzise investigative Recherchen muss man also sehr vorsichtig mit solchem Material umgehen.

Wie kannst Du wissen, ob Aufnahmen echt oder gefälscht sind?

Es gab einen bezeichnenden Fall vor zwei Jahren. In Atmeh wurde uns ein gefangener Regimemilizionär vorgeführt, der gestand, er habe als Krankenpfleger reihenweise Leute umgebracht und dann dafür gesorgt, dass ihre Organe verkauft werden. Die Reste der Leichen seien nach Teheran geschickt worden. Ein paar Leichen seien zudem als vermeintliche Opfer bei fingierten Explosionen benutzt worden.

Die Geschichte war einfach zu perfekt, deswegen wurden wir skeptisch. Wir haben dann sehr aufwendig recherchiert, was wirklich in dem Militärkrankenhaus von Aleppo passiert ist, und es stellte sich heraus, dass er tatsächlich dort war und vielleicht eine Person umgebracht hat. Nach Gesprächen mit einigen Krankenhausmitarbeitern wurde klar, dass vielleicht drei, vier oder fünf Leute dort umgebracht wurden.

Es kommt häufig zu Übertreibungen: Es heißt, es seien 60 Leute umgekommen, aber tatsächlich waren es fünf. Ich kann die Leute irgendwie verstehen. Das Regime macht das die ganze Zeit so und viele glauben das. Wir sagen dann immer, macht das nicht, weil die Wirklichkeit grauenvoll genug ist. Ihr müsst nichts übertreiben. Damit riskiert ihr die Glaubwürdigkeit. Aber deshalb versuchen wir, so viel wie möglich selbst zu recherchieren.

Welche Möglichkeiten hast Du, in einer fremden Umgebung ein vergangenes Ereignis zu rekonstruieren, wobei sich häufig mindestens zwei Parteien die Schuld gegenseitig zuschieben?

Bei einem Massaker etwa gibt es keine Dokumente, aber es gibt Möglichkeiten zu eruieren, ob es tatsächlich so stattgefunden hat. Zum Beispiel, indem man Zeugen, die die Angreifer haben kommen sehen, unabhängig voneinander, nacheinander, exakt mit dem gleichen Set an Fragen interviewt und zudem präzise Zeitfragen stellt. Das haben wir bei dem Massaker in Hula vom Mai 2012 so gemacht. Die Täter kamen vom Hügel runter. Oben wurden sie um 17:30 Uhr gesehen, in der Mitte des Hügels um 18:00 Uhr und das Massaker begann gegen 19:00 Uhr, so die Zeugen. Dass Leute sich dermaßen absprechen, ist extrem unwahrscheinlich. Das ist ein Beleg dafür, dass es tatsächlich so stattgefunden hat. In Hula wurden sehr viele alte Männer, Frauen und Kinder umgebracht. Es haben aber interessanterweise eine Reihe junger Männer überlebt, weil die alle von ihren Familien rausgeschickt wurden, als sie die Shabiha-Regimemilizionäre haben kommen sehen. Die Familien dachten, dass diese kommen, um die jungen Männer zu verhaften. Ein junger Mann versteckte sich im Hühnerstall und hörte, wie seine Familie massakriert wurde – er selbst überlebte. Auch das ist ein Beleg dafür, dass die Version stimmt. Denn würde die Version des Regimes stimmen, dass die Faruk-Brigade der Rebellen kam, dann wären ja die jungen Männer nicht rausgegangen und hätten sich versteckt, sondern wären im Haus geblieben und hätten geguckt, was kommt denn jetzt. Insofern haben wir dann sehr viel Wert darauf gelegt, mit diesen jungen Männern zu reden: Was genau habt ihr gesehen, was ist passiert, warum wurdet ihr rausgeschickt? All die Dinge, die einer bestimmten Version Glaubwürdigkeit verleihen und die schlecht zu fälschen sind. Und das sind Dinge, die nicht zu erwarten sind von jemanden, der früher einfach eine Handykamera hochgehalten hat und nun besser filmen kann als vorher. Er hat ja diesen ganzen Background von Recherche nicht, weil es das so früher nicht gab in Syrien. Wir sagen denen immer, wir arbeiten wie die Kriminalpolizei. Wir versuchen, Indizien dazu zu sammeln, was wirklich vorgefallen ist. So hat aber kein Journalist in Syrien früher gearbeitet.

 

Hier geht es zu Teil 2 des Interviews.