Nach Monaten der Vorbereitung entlassen wir – En toutes lettes und dis:orient – ab heute unser Dossier „dis:tance“ in die Welt. Was euch dabei erwartet und was es mit dem Namen auf sich hat, erklären wir in diesem Editorial.
Die Zusage vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), unser Kooperationsprojekt finanziell zu unterstützen, erreichte uns im Mai 2020 inmitten eines internationalen Schwebezustandes. Flüge und Fährfahrten: Gestrichen. Botschaften und Bibliotheken: Geschlossen. Marokko und Deutschland: Auf einmal unerreichbar. Trotzdem klammerten wir uns insgeheim an die Hoffnung, unseren Austausch inklusive Recherchereisen in beiden Ländern doch noch irgendwie antreten zu können. Denn wir hatten große Pläne: Ein Dossier über deutsch-marokkanische Realitäten sollte entstehen - vielschichtig, gemeinschaftlich, mehrsprachig.
Getroffen haben wir uns schließlich auf halber Strecke - irgendwo in den Wirren des Internets. Dort ist zwischen stockender Verbindung, Corona-Infektion und Übersetzungschaos unser Dossier entstanden, das wir nun in die Welt entlassen. Es handelt wie sein Entstehungsprozess vom Dazwischen-Sein: Von LSD und Haareschneiden, bevor Partys und Frisörgeschäfte in Marokko und Deutschland schließen mussten. Von Liebe und Lust auf beiden Seiten des Mittelmeeres. Von deutschen Kaisern in marokkanischen Gassen. Von Aktivismus, Unterdrückung und Ermächtigung, über Landesgrenzen hinweg.
Wir alle haben in diesem Prozess viel gelernt: Wer hat die Deutungshoheit über Diskurse? Wo sind blinde Flecken in der gegenseitigen Wahrnehmung? Was bleibt wortwörtlich lost in translation – und kann nur durch Kontextualisierung überwunden werden? Dem Selbstanspruch nach einer „Begegnung auf Augenhöhe“ - von der bei Nord-Süd-Kooperationen oft die Rede ist – können wir in der Praxis nur gerecht werden, indem wir ihn nicht nur Mantra-artig wiederholen. Wir müssen diesen Anspruch tatsächlich umsetzen und uns Machtverhältnisse immer wieder bewusstmachen.
Wir glauben fest daran, dass der gedankliche Austausch zwischen Norden, Süden und dem Dazwischen gestärkt werden muss. Vielleicht jetzt mehr denn je, da die Corona-Pandemie den physischen Austausch lahmlegt. Auch angesichts der diplomatischen Spannungen zwischen Marokko und Deutschland, die just in diesem Moment hinter verschlossenen Türen ausgetragen werden, sind grenzübergreifende Kooperationen von Presse und Zivilgesellschaft enorm wichtig. Dieses Dossier ist der Versuch, Distanzen entgegen aller Widerstände zu überwinden. Zumindest gedanklich.
Tiefer Dank gilt allen Gesprächspartner:innen, Unterstützer:innen, Illustrator:innen und Übersetzer:innen, die uns dabei geholfen haben.
Viel Spaß beim Lesen!
En toutes lettres & dis:orient