Im Interessenskonflikt zwischen der Regierung in Bagdad und der in Erbil, zwischen kurdischen Gruppen aus Syrien und der Türkei versuchen die Jesiden, ihren Platz zu finden. Nun kommt das kurdische Unabhängigkeitsreferendum, und für die Jesiden der Moment, sich zu entscheiden – und Ansprüche zu stellen.
Nach dem Völkermord 2014 war die kleine Religionsgemeinschaft der Jesiden weltweit in den Schlagzeilen. Derzeit tauchen sie wieder in den Medien auf. Leider auch jetzt unter wenig guten Vorzeichen: als Grenzgänger im kurdisch-kurdischen Konflikt. Im Sommer 2014, während des Vormarsches des sogenannten IS im Sindschar-Gebirge, zogen sich die irakischen Peschmerga zurück. Dies ermöglichte den IS-Terroristen die Gefangennahme und Exekution tausender Jesiden. Kurdische Akteure aus Syrien und der Türkei, die YPG und die PKK, vertrieben die Dschihadisten und errichteten Militärbasen in den eroberten Gebieten im Irak. Das zweite wichtige jesidische Gebiet, die Scheichan-Region nördlich von Mosul, war dagegen stets unter Kontrolle der Peschmerga.
Die YPG und PKK retteten viele Jesiden aus dem Sindschar. Trotzdem wollen die irakischen Kurden, dass diese Gruppen sich von dort zurückziehen. Die irakische Autonome Region Kurdistan sieht das Sindschar-Gebirge als zu Kurdistan gehörig an und möchte seine guten Beziehungen zur Türkei nicht riskieren. Mittlerweile kommt aber noch ein weiterer Akteur hinzu. Die schiitischen al-Haschd al-Schabi (Volksmobilmachung), ein Dachverband von schiitischen Milizen zur Bekämpfung der IS-Organisation, erreichten dieses Jahr von Bagdad aus das Sindschar-Gebirge. Auch sie pflegen gute Kontakte zu jesidischen Gruppen wie den „Widerstandseinheiten Sindschar“ (YBŞ). Diese standen seit ihrer Gründung 2007 aufgrund ihrer Nähe zur syrischen YPG der irakisch-kurdischen Autonomieregierung abgeneigt gegenüber.
Die irakische Regierung, die die Regionen letztlich dem Staat erhalten will, ist daher an einer engen Kollaboration mit der YBŞ interessiert. Hintergrund ist Paragraph 140 der irakischen Verfassung. Darin gibt es eine Liste mit umstrittenen Regionen, deren Status noch geklärt werden müsse. Unter anderem werden die zwei jesidischen Hauptsiedlungsgebiete Sindschar und Scheichan genannt.[1] Sowohl die irakische Zentralregierung in Bagdad als auch die kurdische Autonomieregierung in Erbil sehen jesidische Gebiete also als Teil ihres Territoriums an, während die YPG und die PKK dort ihren Einfluss wahren wollen.
Der Plan: Eine internationale Konferenz
Angesichts solcher politischer Entwicklungen und des Völkermords 2014 sind die Jesiden bemüht, sich selbst zu verteidigen und die eigenen Reihen zu schließen. Da diese kleine Religionsgemeinschaft weit davon entfernt ist, mit einer Stimme zu sprechen, gab es auf Einladung der Partei Die Grünen am 21. April 2017 eine Konferenz in Berlin. Auf ihr bildeten die jesidischen Akteure eine Kommission zur Vorbereitungen für eine Internationale Jesiden-Konferenz. Dadurch soll die Gemeinschaft mit einer Stimme zur Welt sprechen, um leichter politische Forderungen stellen und künftige Massaker verhindern zu können.
Allerdings offenbarte die Konferenz die internen Schismen, mit denen die Jesiden zu kämpfen haben. So gab es Kritik, da die kurdischen Parteien PKK, PUK und PDK (die zwei stärksten in irakisch-Kurdistan) starken Einfluss auf die Ergebnisse ausgeübt haben sollen. Nachdem aber bekannt wurde, dass am kommenden Montag, 25. September, irakisch-Kurdistan ein Unabhängigkeitsreferendum abhält, bestimmten zumindest kurzfristig realpolitische Überlegungen die Mehrheit der jesidischen Stimmen. Vielen Jesiden zufolge könne nur ein unabhängiges Kurdistan ihre Verfolgung beenden. Ein anderer Teil der Gemeinschaft fordert für den Erfolg eines kurdischen Staates, dass Kurdistan von Beginn an die Partizipation von religiösen Minderheiten in der Politik gewährleisten müsse. Die dritte Gruppe der Jesiden ist gegen ein unabhängiges Kurdistan und für ein Fortbestehen des irakischen Staates in der heutigen Form.
Unabhängiges Kurdistan der „einzige Schutz“
Jesidische Akteure, die der kurdischen Autonomieregierung nahestehen, befürworten ein unabhängiges Kurdistan. Einer davon ist Hazim Mir Tahsin Beg, Sohn des in Hannover ansässigen weltlichen Jesiden-Führers Mir Tahsin Beg. Hazim Beg war einer der ersten, die das angekündigte Referendum begrüßten. Er stellte klar, dass die Jesiden sich auf kurdischen Schutz verlassen sollten anstatt auf den internationaler Mächte wie der Türkei, des Irans oder der USA. Lediglich der kurdische Präsident Masud Barzani habe stets an der Seite der Jesiden gestanden, während der Rest der Welt sich nicht interessiert hätte, so Hazim Beg.
Diese Aussage überrascht wenig. Seit jeher pflegt die Beg-Familie gute Beziehungen zu den Barzanis. So gab es 2005 ein Treffen zwischen Mir Tahsin Beg und Masud Barzanis Bruder, Dilschad Barzani. Thema war der Status der jesidischen Minderheit im Irak nach Saddam Hussein. Die Gespräche verliefen nach Mir Tahsin Begs Zufriedenheit. So sagte er später, dass nur dank des Bemühens Masud Barzanis den Jesiden der Minderheitenstatus durch die irakische Verfassung garantiert wurde.
Warnung vor kurdischer Dominanz
Andere Stimmen begrüßen das Referendum zwar, sind aber in ihrer Euphorie zurückhaltend. Es sind dieselben Stimmen, die schon die Konferenz in Berlin kritisiert hatten und vor einer kurdischen Dominanz warnten. Offensichtlich würde dies in den Erwartungen irakisch-kurdischer Führungsfiguren. Einerseits rechne man in Erbil zwar mit einem klaren „Ja“ der Jesiden beim Referendum, andererseits interessiere man sich jedoch nicht für jesidische Belange. Die Kritiker vermissen Statements zu den 3000 jesidischen Frauen und Mädchen, die noch immer in der Gefangenschaft des IS leben, ebenso wie zu den 500.000 Jesiden, die sich ein neues Leben aufbauen müssen.
Deshalb legten skeptische Stimmen zusammen mit anderen religiösen Minderheiten in der Autonomen Region Kurdistan einen Forderungskatalog vor. Demnach müsse ein künftiger kurdischer Staat säkular sein, aber die Religionen Islam, Jesidentum, Christentum und Zoroastrismus anerkennen. Diese Religionen und sämtliche Ethnien müssten zudem friedlich zusammenleben können und von Beginn an in den politischen Prozess mit eingebunden werden. Sobald diese Forderungen erfüllt seien, könne ein unabhängiges Kurdistan seinen Bürgern Schutz bieten.
Irak oder Kurdistan
Die größte Opposition stellen aber diejenigen Jesiden, die sich den al-Haschd al-Schabi angeschlossen haben. Im südlichen Sindschar gelang es schiitischen Milizen bereits, die IS-Organisation zu vertreiben. Sie befinden sich somit inmitten eines Gebietes, welches die irakischen Kurden für sich reklamieren. Dort hatten die Peschmerga den Kampf gegen die IS-Terroristen lange absichtlich stagnieren lassen, da sie fürchteten, ihren Einfluss zu verlieren, sollten alle Jesiden wieder in ihre Gebiete im Sindschar zurückkehren. Deshalb errichteten sie eine ökonomische Blockade und hinderten viele Einheimische an ihrer Rückkehr in den Sindschar.
Viele Jesiden kritisieren die al-Haschd al-Schabi, da ihnen auch von unabhängigen Stellen oft sektiererische Gewalt und brutales Vorgehen speziell gegen Sunniten vorgeworfen wird. Den Peschmerga reicht eine bloße Ablehnung der al-Haschd al-Schabi noch nicht aus. Berichten zufolge sollen sie Mitte Juli 30 jesidische Familien aus Dohuk ausgewiesen und weitere 106 gewarnt haben, da einige Familienmitglieder in den al-Haschd al-Schabi oder in anderen irakischen Streitkräften gekämpft hatten. Die Authentizität dieser Berichte ist nicht gesichert, doch fest steht, dass die Autonomieregierung ein solches Vorgehen gegen Haschd-Anhänger bereits im Mai beschlossen hatte.
Was will die PKK?
Das harte Vorgehen seitens der kurdischen Autonomieregierung gegen Jesiden, die sich den al-Haschd al-Schabi anschlossen, ist zusammen mit der ökonomischen Blockade gegen jesidische Dörfer im Süden des Sindschars der Grund, warum viele Jesiden den Peschmerga nun den Rücken kehren. Die PKK sieht sich hingegen mit dem Vorwurf konfrontiert, nebulöse politische Ziele zu haben. Kritiker werfen ihr vor, lieber ihren Einfluss im Sindschar zu wahren, als den Jesiden zu helfen eine eigene Verwaltung aufzubauen. Wie die kurdische Autonomieregierung verweigert auch die PKK Jesiden die Einreise in Gebiete, die von den al-Haschd al-Schabi kontrolliert werden.
Die Wünsche vieler Jesiden aus dem Sindschar sind einfach. Sie fordern den Aufbau einer lokalen Verwaltung und sehen externe Kräfte skeptisch, speziell die Peschmerga. Matthew Barber von der University of Chicago vertritt deshalb die Ansicht, dass man versuchen müsse, über die al-Haschd al-Schabi eine lokale Verwaltung mitsamt Sicherheitskräften, bestehend aus Jesiden, aufzubauen. Dass es in naher Zukunft aber ein einheitliches Auftreten der Jesiden in dieser Hinsicht geben wird, darf stark angezweifelt werden.
Fußnote:
[1] Kane, Sean: Iraq’s Disputed Territories - A View of the Political Horizon and Implications for U.S. Policy. Washington, United States Institute of Peace, 2011, S.16.