03.08.2025
Der vergessene Völkermord – wie Jesid:innen für Gerechtigkeit kämpfen
Ruinen von Sinjar 2019. Foto: Levi Clancy (Wikimedia Commons CC0 1.0)
Ruinen von Sinjar 2019. Foto: Levi Clancy (Wikimedia Commons CC0 1.0)

Elf Jahre nach dem Genozid fehlt es noch immer an Gerechtigkeit, Aufarbeitung und Sicherheit für jesidische Geflüchtete. Anstatt das Leid anzuerkennen, werden in Deutschland Asylverfahren abgelehnt und Jesid:innen abgeschoben.

Am dritten August 2025 jährt sich der Völkermord an den Jesid:innen im nordirakischen Sinjar-Gebirge zum elften Mal. In der jesidischen Gemeinschaft gilt er als der 74. Genozid an der religiösen Minderheit. Die Zahl bezieht sich auf die Anzahl der überlieferten Massaker und Vernichtungsversuche in ihrer Geschichte und hat eine große symbolische Bedeutung in der jesidischen Erinnerungskultur. 

Das Verbrechen hat tiefe Wunden hinterlassen, die bis heute anhalten. Trotzdem bleibt insbesondere die internationale Aufarbeitung schleppend und Jesid:innen warten noch immer auf strafrechtliche Verfolgung und Gerechtigkeit. Statt Schutz erleben Jesid:innen nun auch in Deutschland Ablehnung und Abschiebung. 

„Der Tag an dem meine Kindheit endete“ 

Am dritten August 2014 startete der sogenannte Islamische Staat (IS) seinen Angriff auf die jesidische Minderheit im Sinjar-Gebirge im Nordirak. Dabei tötete der IS laut Pro Asyl insgesamt zwischen 5.000 und 10.000 Jesid:innen, vor allem Männer. Außerdem verschleppte, versklavte und vergewaltigte der IS systematisch etwa 7.000 Frauen und Mädchen, von denen bis heute noch ungefähr 2.500 als vermisst gelten und brachten Jungen ab sieben Jahren in IS-Trainingscamps, um sie dort zu Kindersoldaten auszubilden.  

Einige Jesid:innen konnten unter unvorstellbaren Bedingungen ins nahegelegene Sinjar-Gebirge fliehen, das als einziger Zufluchtsort galt. Doch der IS schnitt viele Fluchtwege ab und nahm so weitere Jesid:innen gefangen oder tötete sie. Andere verdursteten oder starben an der extremen Hitze. Nur durch einen Eingriff kurdischer Kämpfer:innen gelang einigen Jesid:innen die Flucht nach Rojava in Nordsyrien. Danach lebten viele in Camps für Geflüchtete, teilweise bis heute.  

Farhad Alsilo war elf Jahre alt, als der IS in sein Dorf einfiel. Er sah, wie sein Vater erschossen und seine Schwersten entführt wurden. Auf seiner Flucht ins Gebirge kämpfe er ums Überleben. Der IS hat ihm damals alles genommen: einen Großteil seiner Familie, seine Heimat und seine Kindheit. Später verarbeitete er das Erlebte durch das Schreiben seines Buches Der Tag, an dem meine Kindheit endete und teilt so seine Geschichte. „Wir sind nicht nur Opfer. Wir sind Überlebende. Aber Erinnerung darf nicht nur bei uns bleiben. Sie muss auch dort stattfinden, wo Entscheidungen getroffen werden – in der Politik, in Schulen, in Medien“, sagt er heute. Doch während Überlebende wie er um Anerkennung und Gerechtigkeit kämpfen, bleibt die internationale juristische Aufarbeitung der Verbrechen vielfach aus. 

Internationale Aufarbeitung im Stillstand

2017 wurde mit der Sicherheitsratsresolution 2379 das United Nations Investigative Team to Promote Accountability for Crimes Committed by Da'esh/ISIL (UNITAD) etabliert, das von 2021 bis 2024 von dem deutschen Bundesanwalt Christian Ritscher geleitet wurde. Durch die Arbeit von UNITAD wurden wichtige Beweise für IS-Verbrechen gesammelt und digitalisiert, insbesondere von Verbrechen an der jesidischen Gemeinschaft, deren Schicksal stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wurde. Insgesamt konnten gemeinsam mit den irakischen Behörden 68 Massengräber identifiziert und exhumiert werden. Jedoch wurde die Arbeit von UNITAD 2024 eingestellt und das Archiv mit den gesicherten Beweisen an das UN-Sekretariat in New York übergeben. Das Archiv wird derzeit nicht aktiv verwaltet und ist nur stark eingeschränkt über die komplizierten Bedingungen und Prozesse der UN zugänglich. Dies führt dazu, dass die gesammelten Informationen heute kaum genutzt werden.   

Ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof gab es bisher ebenfalls nicht, da jegliche Ansätze im Sicherheitsrat von Russland blockiert werden. Auch ein Sondergericht wurde nicht eingerichtet. Dies zeigt, wie schleppend die Aufarbeitung des Genozids insbesondere auf internationaler Ebene bis heute ist. Stattdessen geschieht die juristische Aufarbeitung vereinzelt auf nationaler Ebene, wie beispielsweise in Schweden und den Niederlanden. In Deutschland wurde Ende 2021 erstmals ein IS-Kämpfer am Oberlandesgericht Frankfurt wegen Völkermord an den Jesid:innen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Auch im Irak gab es vereinzelte Verurteilungen. Hier fehlt es jedoch laut Human Rights Watch an einer nationalen Strategie und einem angemessenen rechtlichen Rahmen, denn IS-Verbrecher:innen werden wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation strafrechtlich verfolgt anstatt wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 

Aufarbeitungsversuche Deutschlands 

Im Juli 2021 startete Gohdar Alkaidy, Co-Vorsitzender der Stelle für Jesidische Angelegenheiten, eine formelle Petition, in der er die Anerkennung der IS-Verbrechen an den Jesid:innen als Völkermord forderte. Daraufhin erarbeiteten SPD, Grüne, FDP und Union einen Resolutionsantrag, der am 19. Januar 2023 einstimmig im Bundestag angenommen wurde. Die UN hatte den Völkermord allerdings bereits 2016 als solchen anerkannt. Trotzdem setzte Deutschland damit ein wichtiges Zeichen und machte einen ersten Schritt in Richtung Verantwortung und Gerechtigkeit. Auch die große jesidische Bevölkerung in Deutschland und die frühzeitige Aufnahmebereitschaft verdeutlichen die besondere Verantwortung der Bundesrepublik. Öffentlichkeitswirksam war vor allem die Evakuierungsaktion des Ministerpräsidenten Kretschmann von Baden-Württemberg im Jahr 2015, durch die das Bundesland mehr als 1.000 jesidische Kinder und Frauen aufnahm. 

Auch Farhad ist über dieses Programm nach Deutschland gekommen. Geholfen haben ihm anfangs insbesondere die jesidische Gemeinschaft in Deutschland und die wenigen Helfer:innen, die sich für seine Geschichte interessierten. Heute studiert er in Stuttgart Maschinenbau. Aber die Diskriminierung bleibt. Leise wurde sie zu einem Teil seines Alltags. Sie beginnt im System und endet in permanenten Blicken und dem ständigen Gefühl, sich und seine Präsenz in Deutschland rechtfertigen zu müssen. 

Für Farhad ist der Genozid in Deutschland trotz erster Bemühungen noch immer nicht präsent genug. Er wünscht sich ein echtes Aufnahmeprogramm, das nicht nur Duldung sondern Sicherheit bietet sowie eine verstärkte strafrechtliche Aufarbeitung. Zudem hofft er, dass Jesid:innen zusammen als Gemeinschaft ihre Stimme erheben, um zu zeigen, dass sie nicht in der Opferrolle verharren, sondern aktiv leben und Gerechtigkeit fordern. Bei einem Gespräch sagte er: „Ich wünsche mir Schutz. Nicht Mitleid. Und ich wünsche mir Gerechtigkeit – nicht irgendwann, sondern jetzt. Denn jede Minute, in der wir vergessen werden, ist eine Minute zu viel.“

Ablehnungsbescheide und Abschiebungen anstatt Gerechtigkeit und Sicherheit 

2014 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Kontext des Völkermords eine Gruppenverfolgung von Jesid:innen im Irak festgestellt. Daraufhin wurden in Deutschland viele Jesid:innen als schutzbedürftig anerkannt. Seitdem das BAMF diese Einschätzung im Jahr 2017 zurückgenommen hat, werden jedoch immer mehr Asylanträge von Jesid:innen abgelehnt. Laut Mediendienst Integration lag die Ablehnungsquote im letzten Jahr bei 50 Prozent. Gleichzeitig wurde ein Migrationsabkommen mit dem Irak vereinbart, mit dem Ziel, mehr Asylsuchende in ihre Herkunftsländer abschieben zu können. So wurde am 24. Juli 2025 eine jesidische Familie in den Irak abgeschoben, obwohl das Verwaltungsgericht Potsdam die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Asylantrags anzweifelte. Einem Eilantrag gegen die Ausreisepflicht wurde nur kurze Zeit nach Start des Abschiebeflugs stattgegeben.

Dabei sind laut der Internationalen Organisation für Migration (International Organization for Migration, IOM) 80 Prozent der öffentlichen Infrastruktur und 70 Prozent der Privathäuser zerstört. Zudem ist das Sindjar-Gebirge Schauplatz von Machtkämpfen zwischen zahlreichen staatlichen und nicht-staatlichen Akteur:innen. Die daraus resultierende instabile Sicherheitslage ist nicht nur gefährlich, sondern macht auch jegliche Wiederaufbauversuche unmöglich. 

Für Farhad wäre eine Rückkehr in den Irak ein Albtraum. Auch wegen der ganzen traumatischen Erinnerungen, die er an den Irak hat. Die Diskussion um Abschiebungen und das Scheitern von Asylverfahren ist für ihn nur ein weiteres Zeichen, wie wenig Verständnis es in Deutschland für das Leid der jesidischen Gemeinschaft gibt. Insbesondere Debatten um sichere Herkunftsländer lösen in ihm die Angst aus, in Deutschland vergessen zu werden. Es sollte an der Zeit sein, dass die Verbrechen des IS nicht nur erinnert, sondern systematisch aufgearbeitet und die Überlebenden dauerhaft geschützt werden. 

 

 

 

 

Laura hat Politik- und Islamwissenschaften in Berlin und Kairo studiert und beschäftigt sich vor allem mit Friedens- und Konfliktforschung und politischem Islam. Daneben interessiert sie sich für feministische und postkoloniale Perspektiven auf Gegenwart und Vergangenheit.
Redigiert von Henriette Raddatz, Nora Theisinger