03.10.2022
Die BDS-Bewegung aus einer jüdischen Perspektive
Für Shir Hever ist die BDS-Bewegung eine Möglichkeit für gewaltfreien Protest zu Israel/Palästina. Grafik: dis:orient
Für Shir Hever ist die BDS-Bewegung eine Möglichkeit für gewaltfreien Protest zu Israel/Palästina. Grafik: dis:orient

Für Shir Hever ist BDS eine rechtebasierte Bewegung, die Gleichheit und Freiheit fordert. Als jüdisch-israelischer Wirtschaftswissenschaftler und Menschenrechtsaktivist unterstützt er die Bewegung seit ihren Anfängen.

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers „BDS im deutschsprachigen Raum“. Mit den Beiträgen wollen wir verschiedenen Zugängen zur Debatte um BDS in Deutschland Raum geben. Im Editorial gehen wir auf den Hintergrund des Dossiers ein und stellen euch die Beiträge vor.

Die BDS-Bewegung besteht mittlerweile seit 17 Jahren. Ich habe sie von Anfang an – und damit länger als jedes anderes Anliegen in meinem Leben – unterstützt. Andere Bewegungen, deren Teil ich war, richteten sich gegen die Besatzung, gegen Gewalt gegen Frauenund gegen Krieg“. Die BDS-Bewegung definiert sich im Gegensatz dazu nicht dadurch, wogegen sie ist, sondern wofür.

Nein, ich will damit nicht sagen, dass sie für den Boykott israelischer Waren eintritt, sondern dass sie eine rechtebasierte Bewegung ist – eine Bewegung, die Gleichheit und konkrete Freiheiten für diejenigen fordert, denen Gleichheit und Freiheit in Palästina verweigert wird. Eben die Freiheiten, Rechte, Ansprüche auf Gleichbehandlung, die wir in demokratischen Ländern als selbstverständlich ansehen und die durch internationales Recht und UN-Resolutionen gedeckt sind.

Das Wort Boykott stammt aus dem von den Engländer:innen besetzten Irland, aber in den jüdischen Gemeinden in Europa wurde schon vorher ausgiebig zu Boykotten aufgerufen. Wenn eine Gemeinschaft den Behörden, vor allem der Polizei, nicht vertraut, muss sie ihre eigenen Mittel schaffen, um Kriminelle innerhalb der Gemeinschaft abzuschrecken und zu stoppen. Mit Hilfe von Boykotten fanden die Juden und Jüdinnen in den Ghettos in ganz Europa gewaltfreie Möglichkeiten, ihre Gemeinden zu schützen, ohne die antijüdischen Behörden einzuschalten.

Die Auswirkungen von Boykotten auf die israelische Wirtschaft

Als jüdisch-israelischer Wirtschaftswissenschaftler hatte ich 2005 die Ehre, Teil der frühen Diskussionen über die BDS-Bewegung zu sein, insbesondere in Bezug auf die Bedeutung für die israelische Wirtschaft. Damals wie heute argumentierte ich, dass Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen die israelische Wirtschaft nicht in die Knie zwingen können und sollten. Vielmehr zielen sie auf die privilegierte Position der jüdisch-israelischen Bürger:innen ab, die eine dominante Stellung in der Wirtschaft besetzen. Sie profitieren von einem exklusiven Zugang zu Rechten, von denen Palästinenser:innen nur träumen können.

Selbstverständlich wird die BDS-Bewegung keine wirtschaftliche Gleichheit in Israel/Palästina schaffen, aber sie wird den Israelis klarmachen, dass die bestehende extreme Ungleichheit weder normal noch akzeptabel ist. In vielerlei Hinsicht hat die BDS-Bewegung das bereits erreicht, zum Beispiel durch die intensiven Debatten in den israelischen Medien über die Stärkung der BDS-Bewegung durch diskriminierende Handlungen. Das macht es den Israelis unmöglich, ihre Privilegien für selbstverständlich zu halten.

Jede Boykottmaßnahme, insbesondere der kulturelle Boykott, erinnert die Israelis daran, dass ihre Situation nicht normal ist. Normalität wird möglich sein, wenn jede:r das Recht auf Teilhabe am wirtschaftlichen und politischen Prozess hat. Erst wenn Palästinenser:innen in den gleichen Jobs arbeiten dürfen wie Juden und Jüdinnen, auf den gleichen Straßen fahren, in die gleichen Schulen gehen, eine Wohnung im gleichen Gebäude mieten dürfen, dann wird BDS enden und die Menschen in Israel/Palästina werden vor denselben Problemen stehen wie jedes andere Land auf dem Planeten: Wie werden Ressourcen gerecht verteilt, der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen sichergestellt, Vorurteile und Rassismus in der Gesellschaft überwunden und sozioökonomische Lücken geschlossen?

Die Opposition israelischer Politiker:innen und Teilen der Hamas gegen BDS

Bei einem dieser frühen Treffen zu BDS im Jahr 2005 hatte ich mein erstes und einziges Gespräch mit einem Mitglied der Hamas-Partei. Natürlich war ich verängstigt, denn Hamas-Bombenanschläge kosteten in Jerusalem in den 90er-Jahren zwei Kindern aus meiner Schule das Leben. Es war für mich auch illegal, überhaupt in Bethlehem zu sein, wo das Treffen stattfand. Das Gespräch mit dem Hamas-Aktivisten kam mir zunächst seltsam vor. Er sprach sich vehement gegen die BDS-Bewegung aus und argumentierte, dass die israelische Wirtschaft zu stark für einen Effekt sei. Das gleiche Argument habe ich schon unzählige Male von Mitgliedern der israelischen Regierung gehört: die israelische Wirtschaft floriert zu sehr, um von BDS beeinträchtigt zu werden.

Später verstand ich, warum die Hamas und die israelische Regierung diese Position teilen sie haben Angst vor der transformativen Kraft der BDS-Bewegung auf die palästinensische Widerstandsbewegung. Indem BDS die Sprache der Menschenrechte und die Werkzeuge der Gewaltlosigkeit annimmt, macht es sowohl die Waffen der Hamas – selbstgebaute Raketen und Bomben – als auch die von Israel – Panzer, Raketen, Kriegsflugzeuge, bewaffnete Drohnen und Scharfschützengewehre – überflüssig.

Ein Blick aus anderen Ländern auf die BDS-Bewegung

Israelische politische Aktivist:innen, Politiker:innen, Historiker:innen und Militärgeneral:innen vergleichen Israel ständig mit anderen Ländern. Von Jugoslawien bis Zypern, vom Libanon bis zu den USA. Aber auch die Hoffnung der BDS-Bewegung lässt sich am Beispiel von zwei Staaten veranschaulichen. Die Unterstützer:innen verbinden mit BDS die Hoffnung, dass der israelische Kolonialismus nicht wie in Algerien in einem Blutbad beendet wird, sondern wie in Südafrika in eine Demokratie mündet.

So enttäuschend und fehlerhaft die südafrikanische Demokratie sich auch herausstellte, so ist dennoch klar, warum Tausende jüdische Israelis und Hunderttausende Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt zu Unterstützer:innen der BDS-Bewegung wurden. Sie ist bei Weitem besser als Krieg. Anders als andere palästinensische Widerstandsbewegungen, wie die der Hamas, bietet die BDS-Bewegung an, nicht nur Palästinenser:innen, sondern auch in Palästina lebende Juden und Jüdinnen ohne Blutvergießen zu befreien. Ich habe allen Grund, BDS zu unterstützen, besonders weil ich in Israel lebende Familie und Freund:innen habe. Von dem Hass gegen diese Bewegung in Deutschland war ich sehr überrascht und schockiert.

Enttäuschung übern den Umgang mit der BDS-Bewegung in Deutschland

Trotz der Behauptungen, dass die BDS-Bewegung der mächtigen israelischen Wirtschaft keinen Kratzer zufügen kann, arbeiten israelische Politiker:innen mit diversen Strategien gegen BDS – von der Verhaftung von Aktivist:innen bis zum Erlass von Gesetzen gegen die BDS-Bewegung. Im Jahr 2010 zog ich nach Deutschland, weil ich dachte, dass BDS-Aktivismus dort einfach sein würde. Das war sehr naiv von mir. Ich dachte, dass viele in Deutschland aufgrund des Holocausts ein Verantwortungsgefühl gegenüber dem jüdischen Volk hätten und sich über eine Bewegung freuen würden, die mit friedlichen Mitteln Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie in der Region anstrebt. Ich habe mich sehr getäuscht.

Das deutsche politische Establishment hat ein starkes militärisches und wirtschaftliches Bündnis mit der israelischen Regierung. Es hat kein Problem mit der Tatsache, dass die israelische Regierung mit jüdischem Blut bezahlt, um Palästinenser:innen als staatenlose Untertan:innen unter militärischer Besatzung zu halten. Der Kampf gegen die BDS-Bewegung in Deutschland wurde hässlich und persönlich. Wie Volker Beck von den Grünen gegenüber der Berliner Zeitung über die School for Unlearning Zionism sagte, sollten Veranstaltungen von BDS-Unterstützer:innen mit öffentlichem Geld verhindert werden. Jetzt soll mir also wegen meiner Meinung die Möglichkeit auf Förderung von deutschen öffentlichen Einrichtungen verwehrt werden.

Der BDS-Beschluss des Bundestags

Der Bundestag hat im Mai 2019 dafür gestimmt, die BDS-Bewegung zu denunzieren, sie als antisemitisch bezeichnet und sie mit dem Nazi-Aufruf Kauft nicht bei Juden! verglichen ah, der alte Nazi-Vergleich also. Aber anstatt das israelische System der rassistischen Unterdrückung mit dem der Nationalsozialist:innen zu vergleichen (ein Vergleich, den ich persönlich nicht unterstütze), verglich der Bundestag eine Menschenrechtsbewegung mit den Nazis.

Meine palästinensischen Freund:innen sind zurecht entsetzt über den beleidigenden antipalästinensischen Rassismus, der von einer großen Mehrheit des Bundestages zwanglos übernommen wurde. Für mich selbst ist jedoch die andere Seite des Vergleichs noch schmerzhafter. Glauben die Bundestagsabgeordneten wirklich, dass die Nazis mit Menschenrechtsaktivist:innen vergleichbar waren? Glauben sie, dass die Nazipartei Gewaltlosigkeit als Wert vertrat? Wir sagen „niemals vergessen“, aber der Bundestag hat bereits vergessen.

Natürlich wurde die Anti-BDS-Resolution zuerst von der AfD initiiert – ihre Tendenz, die Nazi-Vergangenheit Deutschlands zu beschönigen, ist wohlbekannt. Aber leider haben sich viele Mitglieder anderer Parteien dieser rassistischen Resolution angeschlossen und weigern sich, sie zu widerrufen, selbst nachdem der wissenschaftliche Dienst des Bundestages sie für verfassungswidrig erklärte.

Ein globaler und intersektionaler Aufbruch

Die Situation in Deutschland sieht düster aus, aber die Welt erwacht aus dem Albtraum von Trump und wir können es wagen, ein wenig zu hoffen. Wir leben in einer Ära der Intersektionalität. Unterdrückte Gruppen schließen sich zu einem vereinten Kampf für eine gerechte Gesellschaft zusammen. Nelson Mandela sagte bekanntermaßen, dass die südafrikanische Freiheit niemals vollständig sein werde bis die Palästinenser:innen neben anderen unterdrückten Gruppen frei werden.

Dieser Aufruf wurde von vielen Israelis übernommen, die sich mit dem palästinensischen Freiheitskampf solidarisieren. Pro-israelische Fanatiker:innen in Deutschland machten deutlich, dass auch wir deutschen Juden und Jüdinnen nicht frei sein werden bis die Palästinenser:innen frei sind. Bis dahin dürfen wir nur pro-israelische und pro-zionistische Meinungen äußern. Andere Meinungen, wie die der School for Unlearning Zionism, werden zensiert.

 

 

 

Dr. Shir Hever ist Vorstandsmitglied der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.“ und arbeitet als Journalist, Wissenschaftler und Geschäftsführer des Vereins „Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinenser e.V.“ (BIP). Sein zweites Buch „The Privatization of Israeli Security“ wurde 2017 von Pluto Press veröffentlicht...
Redigiert von dis:orient-Team